Alleinerziehende Mütter"Die Kinder werden im Stich gelassen"

kizz sprach mit der Buchautorin und Bloggerin Christine Finke über die Situation alleinerziehende Mütter

Christine Finke, Bloggerin und Buchautorin im Interview mit kizz
Christine Finke, Bloggerin und Buchautorin im Interview mit kizz© Anna Gladkova

Jede fünfte Familie in Deutschland hat einen alleinerziehenden Elternteil, 90 Prozent davon sind Frauen. Ist die Familienform in unserer Gesellschaft „normal“ geworden?

Rein zahlenmäßig gibt es viele Alleinerziehende, aber sie bleiben im Verborgenen. Oft möchten sie lieber nicht nach außen tragen, dass sie alleinerziehend sind. Weil ihnen viele Menschen verurteilend begegnen und es an positiven Vorbildern fehlt. Es ist keine Rolle, mit der man sich identifi zieren möchte.

Welchen Vorurteilen und Klischees begegnen alleinerziehende Frauen? Und wo?

Die begegnen einem überall. Auch unter den Alleinerziehenden selbst, das war auch bei mir so. Anfangs habe ich alleinerziehende Mütter etwas kritischer angeschaut als Paarmütter, obwohl ich selbst schon eine war. Das ist natürlich hochnotpeinlich, aber so ist der Mensch, man hat seine Schubladen. Manche verheiratete Frau denkt, durch eine Alleinerziehende wäre Gefahr im Verzug, weil die jetzt dringend einen neuen Mann braucht. Und ich wurde tatsächlich immer wieder gefragt, ob alle drei Kinder von einem Mann sind. Dabei haben die meisten Alleinerziehenden nur ein Kind.

Historisch gesehen gibt es Alleinerziehende übrigens noch gar nicht so lange. Bis in die 1960er-Jahre hatten ledige Mütter nicht das Sorgerecht für ihre Kinder, das lag beim Jugendamt. Alleinerziehende waren gefallene Frauen, fast wie Hexen. Mir wird heute noch in ländlichen Regionen hier in Süddeutschland gesagt, dass man sich quasi nicht scheiden lassen darf, mit Kindern sowieso nicht. Da ist man mit einem Bein in der Hölle.

Das hat also etwas Unmoralisches?

Total. Und auch wenn viele Menschen glauben, wir sind ja alle gebildet – so ist es nicht. Wir haben ein Imageproblem und eine Alleinerziehende sagt nicht offen: „Ich bin jetzt alleinerziehend.“ Denn Applaus bekommt man nie dafür. Mir sind viele Vorurteile unterschwellig begegnet. Irgendwann habe ich angefangen, freundlich nachzufragen, weil mich das geärgert hat. Und dann haben einige mir ihre Meinung tatsächlich ins Gesicht gesagt. Gerade die älteren katholischen Herren, zu denen ich gesagt habe, dass ich das Gefühl habe, dass sie mich verurteilen, weil ich mich habe scheiden lassen. „Ja, genauso ist es“, haben die gesagt.

Wie hat Ihr soziales Umfeld reagiert, als Sie sich getrennt haben?

Der Freundeskreis ist ziemlich schnell weggebrochen. Manche Eltern aus der Kita haben sogar die Straßenseite gewechselt, wenn sie mich gesehen haben, was mich total irritiert hat. Ich nehme an, aus Unsicherheit. Ich wurde seltener auf Partys eingeladen, von Paaren und Familien oft gar nicht mehr. Abends ausgehen oder ins Kino ist für viele nicht drin, und so lebt man schon etwas isoliert mit seinen Kindern vor sich hin. Gerade in der Anfangsphase wäre es wichtig, dass das Umfeld freundlich und wohlgesonnen ist. Doch da ziehen sich viele zurück, so ähnlich wie, wenn der Partner Krebs hat oder gestorben ist.

Das hört sich sehr einsam an.

Ja. Ich war wirklich über Jahre jeden Abend mit den Kindern zu Hause. Ich war aber auch oft zu erschöpft, um noch irgendwo hinzugehen. Besonders furchtbar ist das Wochenende. Alleine mit drei Kindern, die einen dauernd vollquasseln, die ganze Zeit etwas mit einem spielen wollen – da wird man wahnsinnig. Irgendwann möchte man wieder mit Erwachsenen sprechen. Aber man kann ja nicht mal in Ruhe telefonieren. Deswegen ist das Internet für mich und viele andere sehr hilfreich. Da fi ndet man Gleichgesinnte und kann sich austauschen und unterstützen.

Wie waren die Reaktionen in Kita und Schule?

Ich bin nach der Trennung offen auf die Erzieherinnen zugegangen und habe ihnen gesagt, was sich bei uns verändert hat. Die Reaktionen waren super, sehr empathisch und sehr unterstützend. Es hat mir die Tränen in die Augen getrieben, weil ich so ausgehungert nach netten Worten war. In der Schule war es sehr viel schwieriger. Wenn ich mich dort als Alleinerziehende zu erkennen gab, das war der Hammer! Alle Probleme meiner Kinder wurden darauf zurückgeführt, dass wir getrennt sind. Meine Kinder haben gelitten, denn die Lehrerin hat sie spüren lassen, dass sie eine Mutter zweiter Klasse haben. Und die anderen Mütter auch. Und wenn man nicht zu den Elternabenden kann – weil man die Kinder nicht allein lassen kann und auch kein Geld für einen Babysitter hat, dann wirkt das gleich so, als hätte man kein Interesse an der Entwicklung des Kindes.

Die meisten Alleinerziehenden haben eine Trennung hinter sich. Wie sehr bestimmt die Beziehung zum Ex-Partner das Leben der Frauen?

Leider in einem sehr starken Ausmaß. Ich erlebe das gerade wieder in meinem Freundeskreis. Da ist eine Frau seit acht Jahren getrennt, so wie ich, und auf einmal will der Ex-Mann das Aufenthaltsbestimmungsrecht für eines der Kinder. Oder er zahlt plötzlich nicht mehr. Das hört nie auf, ist mein Eindruck, bis die Kinder 18 sind. Am Anfang ist es emotional am schwersten, weil man noch mit sich selbst und der Trennung hadert. Dann fängt man an, sich um Geld zu streiten, um rechtliche Dinge, oft braucht man eine neue Wohnung. Und dann muss man noch die Kinder trösten und auffangen. Ich konnte nachts nicht schlafen, war morgens gerädert, wie soll man da eine zuversichtliche, positive Mutter sein? Man ist selbst so am Strudeln – das ist ganz schwer.

Viele getrennte Väter zahlen keinen Unterhalt, laut Statistik sind es 50 Prozent. Wie kann das sein?

Ich denke, es liegt daran, dass der Staat es nicht stark genug verfolgt, wenn nicht gezahlt wird. Das sagen auch die meisten Politiker, die ich kenne, und auch die Fachleute. Es ist nicht so, dass die Väter alle nicht zahlen können, davon bin ich überzeugt. Es ist zu einfach, sich da rauszumogeln. In den meisten Städten gibt es die sogenannten Beistandschaften der Jugendämter, die einem helfen, wenn das Geld nicht kommt. Manche beschränken sich darauf, dem Ex-Partner zweimal einen Brief zu schreiben, den der in den Müll schmeißt. In manchen Städten passiert gar nichts mangels Personal oder mangels Lust. Oft geben die Frauen dann auf. Zwingen kann man die Väter nicht. Letztlich ist das auch eine politische Frage, wie viel Geld für solche Stellen bereitgestellt wird.

Sprechen wir über den Alltag. Was waren für Sie die größten Herausforderungen?

Wenn die Kinder krank waren, und zwar alle gleichzeitig, das war für mich der Horror. Oder wenn ich krank war und mich nicht kümmern konnte. Ich hatte niemanden, der mich unterstützt hätte. Man bräuchte einen Notfallknopf oder eine Hotline, um Hilfe zu holen. Das ist eigentlich grob fahrlässig, dass es so etwas nicht gibt. Und dann haben viele Frauen noch Stress mit dem Jugendamt. Alleinerziehende werden von den Ämtern viel kritischer angeschaut als Paarfamilien, das weiß man aus Studien.

Über welche Schwierigkeiten berichten andere Mütter?

Krankheit, Geld und die Belastung, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Die meisten haben überhaupt keine Zeit mehr für sich. Noch nicht mal zehn Minuten zum Durchatmen. Mütter in Paarfamilien haben Geld oder Unterstützung oder werden mal in den Arm genommen. Wenn man nichts von all dem hat und stattdessen noch ein Trennungsfeuer über einen hereinbricht, dann ist es ganz schwer, gesund zu bleiben. Alleinerziehende sind höher Burn-Out-gefährdet als Mütter in Paarfamilien, und die haben ja auch schon ein hohes Risiko.

Nachts lag ich wach: Wie soll ich das alles schaffen?

Wie ist die berufliche Situation von Alleinerziehenden?

Fürchterlich schwierig. Personalabteilungen sortieren die erst mal aus, weil sie denken: Die haben ständig kranke Kinder, die sind eh nie da. Dann hält sich hartnäckig das Vorurteil, Alleinerziehende seien unzuverlässig und unflexibel. Alleinerziehende sind nicht schlechter ausgebildet als andere Frauen, laut Bertelsmann Stiftung haben 78 Prozent von ihnen einen guten bis sehr guten Bildungsabschluss. Es gibt nicht viele, die die Hauptschule abgebrochen haben, weil sie plötzlich schwanger wurden. Eltern generell werden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Und was für Eltern schwierig ist, ist für Alleinerziehende drei Mal so schwierig. Das gilt übrigens genauso für den Wohnungsmarkt.

Alleinerziehende sind häufig von Armut betroffen. Hängt das mit der schwierigen beruflichen Situation zusammen?

Ja, auch. Aber der fehlende Unterhalt spielt auch eine ganz große Rolle. Wenn man den Unterhalt hätte und einen Ex-Partner, der einen mit den Kindern unterstützt, dann würde man schon klarkommen. Leider gibt es eine große Zahl Alleinerziehender, die keinen Job fi nden und über längere Zeit in Armut bleiben. Das verschafft deren Kindern große Nachteile, das weiß man aus Studien. Die Kinder sind psychisch, motorisch, kognitiv, in allen möglichen Bereichen schlechter aufgestellt. Und unser Bildungssystem ist auch nicht so ausgelegt, dass es das auffängt. Dabei ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, diesen Kindern gute Startbedingungen zu verschaffen. Kinder sind in dem Fall keine Privatsache. Wir sind ein so reiches Land, das müsste man hinkriegen. Es ist auch langfristig gesehen dumm, denn wenn diese Kinder gut ausgebildet und gesund sind, haben wir in der Zukunft alle etwas davon. Viele Alleinerziehende scheitern daran, sich Hilfen zu holen, weil die Bürokratie eine große Hürde ist. Es bräuchte eine Familienleistungsstelle, sehr niederschwellig, von der Hol- zu Bringschuld. Der Staat ist in der Pfl icht, sich hier zu kümmern.

Fehlt Alleinerziehenden eine Lobby? Wer engagiert sich außer Ihnen?

Es gibt nicht viel Öffentlichkeitslobby für Alleinerziehende. Man wird ja auch sehr angefeindet, das muss man aushalten. Ich bekomme nach jedem Blogpost, den ich veröffentliche, hässliche Kommentare. Ich engagiere mich, weil ich sage, ich kann das und ich habe Lust, etwas zu verändern. Man muss sehr hartnäckig sein, Menschen überzeugen und sie auch emotional packen. Ich lerne bei meiner Arbeit immer wieder tolle Menschen kennen und ich erreiche Menschen, auch Entscheidungsträger. Das trägt mich und ich habe das gute Gefühl, dass ich etwas bewirke.

Zur Person

Christine Finke ist 52 Jahre alt, ihre drei Kinder sind heute 9, 12 und 18 Jahre. Sie ist promovierte Sprachwissenschaftlerin, Lobbyistin für Alleinerziehende, Speakerin, Buchautorin und seit 2014 für eine überparteiliche Wählervereinigung Stadträtin in Konstanz. Auf https://mama-arbeitet.de bloggt sie seit 2011 über das Leben als Alleinerziehende.

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