Vitamin D für KinderAlles nur ein Hype?

In den letzten Jahren hat die Einnahmen von Vitamin-D-Tabletten einen regelrechten Boom erfahren. Was steckt dahinter?

Brauchen Kinder wirklich Vitamin-D-Tabletten?
Brauchen Kinder wirklich Vitamin-D-Tabletten?© vvvita - iStock

Die Kinderkrankheit Rachitis, die zu weichen, verformten Knochen führt, trat in den Londoner Slums vor etwa 150 Jahren massenweise auf. Die Menschen wohnten in dunklen Behausungen, zudem mussten Kinder ab vier Jahren in Bergwerken arbeiten. Sie bekamen also kaum Sonnenlicht, das der Körper für die Bildung von Vitamin D braucht, ein für den Knochenstoffwechsel wichtiges Vitamin. Um einer Rachitis vorzubeugen, erhielten darum einige Kindergenerationen Lebertran als Stärkungsmittel – auch in Deutschland bis in die 1960er Jahre hinein –, denn Lebertran enthält reichlich Vitamin D.

Vitamin D, auch das Sonnenvitamin genannt, kann über die Nahrung zugeführt werden, zum Beispiel über fetten Seefi sch, Eigelb, Vollmilchprodukte oder Wildpilze. Allerdings sind die Mengen in Lebensmitteln gering. Einen Großteil des Bedarfs, etwa 80 bis 90 Prozent, muss der Körper selbst bilden, und zwar mithilfe der Sonne, genauer: der UVB-Strahlen. Der Tagesbedarf an Vitamin D beträgt laut der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) 600 Internationale Einheiten (abgekürzt I.E, eine Maßeinheit für die Menge einer Substanz) pro Tag. Kinderärzte empfehlen darum, Säuglingen mindestens bis zu ihrem ersten Geburtstag Vitamin D als Tabletten zu geben. Denn Babys sollten nicht der Sonne ausgesetzt werden. So sollte jeder Säugling täglich 400 bis 500 I.E Vitamin D erhalten. Von Vitamin-D-Öl raten Kinderärzte ab, da man dieses leicht überdosieren könne.

Nun sind aber auch viele ältere Kinder und Erwachsene hierzulande mit dem Vitamin unterversorgt, das zeigen Blutuntersuchungen. Bei Erwachsenen betrifft das 50 Prozent, bei Kindern sind es sogar mehr als 60 Prozent. Trotzdem sprechen Experten bei diesen Werten noch nicht von einem echten Mangel, der mittels Tabletten kuriert werden müsste. Eine Rachitis trete bei Kindern mit schlechten Blutwerten und ohne weitere Risikofaktoren wie etwa chronische Erkrankungen laut DGKJ nur selten auf. Ein echter Mangel (weniger als 12 ng/l oder 30 nmol/l im Blut) ist lediglich bei rund zwei Prozent der Erwachsenen und vier Prozent der Kinder und Jugendlichen vorhanden. Das war das Ergebnis einer Studie der Stiftung Warentest, die Vitamin-D-Präparate untersucht hat. Birgit Niemann vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) meint dazu: „Wir teilen die Ansicht, dass es in Deutschland einen flächendeckenden Vitaminmangel gibt, ausdrücklich nicht.“

Vitamin D als Wundermittel

Trotzdem boomt der Verkauf von Vitamin- D-Tabletten. Denn Vitamin D soll, so wird vielfach behauptet, nicht nur den Knochenstoffwechsel beeinflussen, sondern auch im Erwachsenenalter noch Grippe, Osteoporose, Herzerkrankungen oder Krebs vorbeugen. Zudem wird diskutiert, ob eine Vitamin-D-Gabe im Kindesalter vor Diabetes Typ 1, Asthma oder häufigen Infekten schützt. Vitamin D gilt also als wahre Allzweckwaffe gegen Zivilisationsleiden. Nimmt man alle Vitamin-D-haltigen Arzneimittel zusammen, so ist der Absatz seit 2015 jährlich um rund 12 Prozent gestiegen. Sogar einige Ärzte empfehlen ihren Patienten regelmäßig Nahrungsergänzungsmittel für die Wintermonate. Ob auch Kinder über das Säuglingsalter hinaus immer häufi ger Vitamin-D-Präparate erhalten, ist nicht belegt. Allerdings hat die DGKJ erst kürzlich in einer Stellungnahme bekräftigt, dass dies auch bei einem niedrigem Vitamin-D-Spiegel im Blut nicht nötig sei. Ausgenommen seien chronisch kranke Kinder, Fettleibige oder Kinder mit Migrationshintergrund, bei denen häufi ger ein Mangel im Blut festzustellen ist.

Sonne tanken statt Tabletten essen

Richtig ist, dass viele Krankheiten wie Asthma oder Übergewicht mit einem reduzierten Vitaminspiegel im Blut einhergehen. Das könnte jedoch auch ein Hinweis auf mangelnde Aktivität im Freien sein. Denn Bewegung schützt bekanntlich vor diversen Krankheiten, hält schlank, stärkt die Knochen und kurbelt das Immunsystem an. Umgekehrt konnten nämlich Interventionsstudien keine Wirkung einer vorbeugenden Vergabe von Vitaminpräparaten nachweisen.

Woher kommt dann der Hype und die Stilisierung von Vitamin D als Wundervitamin? Teilweise stecken finanzielle Interessen der Pharmaindustrie dahinter. „Durch Pressemeldungen werden häufig interessengeleitete Negativ schlagzeilen zur Vitaminversorgung verbreitet“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) auf ihrer Website. Ein Vitaminmangel wird also durch gesponsorte Studien und angeblich unabhängige Infoseiten im Internet herbeigeredet. „Bei Vitaminen folgt ein Hype auf den anderen und natürlich geht es auch darum, die Produkte zu verkaufen“, sagte auch Ingrid Mühlhauser, Gesundheitswissenschaftlerin an der Universität Hamburg kürzlich gegenüber dem Spiegel.

Dazu kommt, dass die Bluttests nicht einheitlich sind, genaue Methoden sind teuer und werden meist nicht in den Großlaboren durchgeführt. „Bis heute gibt es keinen international anerkannten Standard für die Vitamin-D-Bestimmung“, darauf weisen die DGKJ-Experten hin. „Vitamin D ist labil ge genü ber Licht, sodass Serumröhrchen lichtgeschützt aufbewahrt und verschickt werden müssen, um nicht falsch-niedrige Werte zu messen“. Auch Studien könnten so also unbeabsichtigt verfälscht worden sein.

Lange herrschte auch Uneinigkeit darüber, wie viel Sonne denn nun nötig sei und ob Sonnenbaden im Sommer für die Wintermonate wappne. Auch diese Unsicherheit ließ wohl viele Verbraucher sicherheitshalber zur Tablette greifen. Helmut Schatz von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie meint jedoch: „Wer sich im Sommer regelmäßig kurz draußen aufhält, füllt seine Speicher so weit auf, dass er gut durch den Winter kommt.“ Gespeichert wird das Vitamin vor allem im Fett- und Muskelgewebe. Laut DGKJ sollten Kinder zwischen April und Oktober zweibis dreimal pro Woche „Sonne tanken“. Das heißt: Zwischen 10 und 15 Uhr mit freien Armen und Beinen fünf bis 30 Minuten (je nach Hauttyp) ohne Sonnencreme im Freien sein. Natürlich sollte dabei immer ein Sonnenbrand vermieden werden.

kizz Tipp

Sonnenhormon

Streng genommen handelt es sich bei Vitamin D nicht um ein Vitamin, sondern um den Vorläufer eines Hormons, da der Körper es selbst bilden kann. Es entsteht durch eine photochemische Reaktion der Haut mit den UV-BStrahlen der Sonne. Allerdings dringen durch den schrägen Einfallswinkel der Sonne zwischen Mitte März bis Mitte Oktober nur wenige UV-B-Strahlen durch die Erdatmosphäre. Da die Sonne zudem seltener scheint und wir uns weniger an der frischen Luft bewegen, sinkt im Winter der Vitamin-D-Spiegel im Blut.

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