Wie die Konfessionalität beim Religionsunterricht wahren?Neue Verschränkungs- und Fusionsformen

In Niedersachsen wollen die beiden großen Kirchen einen gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterricht anbieten. Das wirft ein Schlaglicht auf alle weiteren Versuche, im Rahmen des Grundgesetzes in öffentlichen Schulen die Zukunft religiöser Bildung zu organisieren, nicht zuletzt auf den islamischen Religionsunterricht.

Tafel mit Anschrieb
© Harald Oppitz/KNA

Bald ist es so weit. Die beiden großen Kirchen wollen in Niedersachsen einen gemeinsam verantworteten Religionsunterricht anbieten. Nachdem die Diözesen und Landeskirchen jüngst ihren bereits seit Längerem ausgearbeiteten Vorschlag veröffentlichten, sind sie nun in entsprechenden Gesprächen mit dem Bundesland. Immerhin ist Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ein ordentliches Lehrfach, wofür in erster Linie der Staat verantwortlich ist.

Der einschlägige Auftrag dazu findet sich bekanntermaßen im Grundgesetz Paragraf 7, Absatz 3. In den vergangenen Jahrzehnten ist es allerdings aufgrund der demografischen Entwicklung immer schwieriger geworden, die nach dem Zweiten Weltkrieg gefundenen Lösungen für die Organisation von Religionsunterricht als entweder römisch-katholisch oder evangelisch mitverantwortetes Fach aufrechtzuerhalten. Das liegt zum einen an der religiösen Pluralisierung durch Migration, zu einem kleineren Teil durch Wachstum der orthodoxen und orientalischen Kirchen, vor allem aber an der gestiegenen Anzahl der Muslime im Land.

In Bundesländen wie beispielsweise Hessen oder Baden-Württemberg gibt es inzwischen ein Dutzend verschiedene Anbieter für konfessionellen Religionsunterricht. Mindestens so gewichtig ist inzwischen die stetig wachsende Anzahl der Konfessionslosen, nachdem in Deutschland in diesem Jahr nur noch die Hälfte der Bevölkerung Protestanten und Katholiken sind, was sich gerade auch in der Schülergeneration bemerkbar macht.

Ein Christlicher Religionsunterricht in Niedersachsen

Die Organisation des Religionsunterrichts in Schulen ist dadurch zwar regional unterschiedlich, in der Summe aber deutlich schwieriger geworden. Der Staat und die bisher vor allem beteiligten Kirchen werden dazu gezwungen, neue Wege zu beschreiten, um religiöse Bildung an öffentlichen Schulen zu organisieren. Wie unter einem Brennglas ließen sich die Probleme während der bisherigen Wellen der Corona-Pandemie beobachten: Die klassenübergreifende Zusammensetzung von Lerngruppen stieß bei den Stundenplanmachern auf noch mehr Vorbehalte als zuvor.

Nachdem die Kirchen seit Längerem unter Druck standen, haben sie sich inzwischen in so gut wie allen Bundesländern darauf eingelassen, den Religionsunterricht auch konfessionell-kooperativ zu erteilen. Erst jüngst hat das Erzbistum Köln einem solchen Unterricht in Nordrhein-Westfalen zugestimmt, nachdem die anderen Diözesen des Bundeslandes dazu schon länger bereit waren. Konkret bedeutet das, dass unter bestimmten Umständen die katholischen, evangelischen und anderen Schüler, die das wollen, abwechselnd von Lehrkräften der beiden Bekenntnisse unterrichtet werden, die die Perspektive der anderen Konfession jeweils mitvertreten. Aus der ehemaligen, viel beschworenen Trias von Inhalt, Lehrkraft und Schüler des gleichen Bekenntnisses wurde jetzt also auch mit Blick auf die Lehrkraft eine Aufweichung akzeptiert, nachdem man bei Schülern bereits zuvor schon flexibler war.

Faktisch stellt dieses Religionsunterrichtsformat eine Kooperation eigenständiger Fächer dar. Das soll in Niedersachsen unter dem Motto „einfach ein Fach“ anders werden. Auch die katholische Kirche hat angesichts vieler Schulen, an denen sie ansonsten in der Diaspora gar keinen Religionsunterricht mehr anbieten könnte, zugestimmt, dass es einen gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterricht geben soll. Was bedeutet das angesichts der weiterhin existierenden Unterschiede, einschließlich der Tatsache, dass es eben keine Kirchengemeinschaft gibt?

Die Pointe des Christlichen Religionsunterrichts in Niedersachsen besteht darin, dass man mit Blick auf die Inhalte einerseits einen größeren gemeinsamen Teil vorsieht, der Lehrplan andererseits durchaus auch evangelische und katholische Besonderheiten kennt, die dennoch von einer einzigen Lehrkraft unterrichtet werden können.

Niedersachsen geht damit nicht so weit wie Hamburg, wo es seit Längerem einen von der evangelischen Kirche verantworteten bibelkundlich ausgerichteten „Religionsunterricht für alle“ gab. Katholische Eltern, denen ein katholischer Religionsunterricht wichtig war, schickten ihre Kinder auf eine kirchliche Schule. Im vergangenen Jahr entschied sich das Erzbistum Hamburg, sich wie andere mitverantwortliche Religionsgemeinschaften an einem neuen „Religionsunterricht für alle“ (Rufa 2.0) zu beteiligen (vgl. HK, Juni 2022, 56).

Unter Juristen ist allerdings strittig, ob ein solcher Unterricht mit so vielen religiösen Perspektiven, der faktisch die meisten Wochen des Schuljahrs für den größeren Teil der Schülerinnen und Schüler religionskundlich erteilt wird, als konfessioneller Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes gelten darf. Handelt es sich nicht vielmehr nur um einen „Bauchladen von Bekenntnissen“, die letztlich eher verwirren, als in ein religiöses Weltverstehen einzuweisen?

Die Herausforderung besteht sowohl religionspädagogisch als auch mit Blick auf das Grundgesetz darin, es nicht beim „learning about religion“ zu belassen, sondern wesentlich auch „learning in religion“ zu betreiben. Das religiöse Verhältnis wird erst dort in seiner Tiefe verstanden, wo es nicht als Lehre, sondern als religiöse Praxis begriffen wird. Nicht umsonst betont man inzwischen sowohl evangelischer- wie katholischerseits (wieder) die Bedeutung der performativen Religionspädagogik, nachdem der katholische Religionspädagoge Rudolf Englert die „Versachkundlichung“ des von seiner Kirche verantworteten Fachs beklagt hatte.

Religion ist mehr als die Lehre

Angesichts dieser Klippe war es auch für die Vordenker des Christlichen Religionsunterrichts in Niedersachsen von besonderer Bedeutung, den Vorschlag verfassungsrechtlich abzusichern. Das Gutachten des Freiburger Juristen Ralf Poscher, Direktor am dortigen Max-Planck-Institut, kommt denn auch zu dem Schluss, dass eine solche Absicherung durchaus möglich sei, wenn die Kirchen gemeinsam als Mitveranstalter auftreten und entsprechend sprechfähig sind, sodass sie als ein Gegenüber des Staates auftreten können. Konfessionalität meine, dass Religion als Bekenntnis unterrichtet wird; das können auch mehrere Konfessionen tun, allerdings nur, wenn sie es gemeinsam vertreten.

Im Fall des angedachten niedersächsischen Religionsunterrichts gelte das nicht nur für die gemeinsamen Bekenntnisinhalte, sondern auch für die konfessionelle Ausdifferenzierung, so Poscher. Es handele sich um einen „gemeinsamen Religionsunterricht in koordinierter Verantwortung“. Offen sind derzeit noch Fragen der Ausgestaltung von Aus- und Fortbildung und einige praktische Fragen, etwa die Lehrmittel betreffend. Realistisch ist eine Einführung im Schuljahr 2025/2026.

Poscher äußerte sich entsprechend Mitte Oktober bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen der religionspolitischen Fachgespräche in Cadenabbia. Der Leiter der Abteilung Schulen und Hochschule im Generalvikariat in Osnabrück, Winfried Verburg, wies darauf hin, dass die Differenzen innerhalb von Glaubensgemeinschaften oft größer als zwischen den Verlautbarungen der Kirchen seien, sodass das Konstrukt belastbar sein werde. Zwar gebe es weiterhin mit Blick auf den Kanon der biblischen Schriften und mehr noch mit Blick auf das Kirchen-, Amts- und Sakramentsverständnis Unterschiede. Sie seien aber in der Lebenswelt der Schüler von geringer Relevanz, daher aus didaktischen Gründen kein Hindernis für einen gemeinsamen Bekenntnisunterricht. Der neu konzipierte Unterricht sei in jedem Fall eine große Chance mit Blick auf die notwendige Komplexitätsminderung des Fachs.

In Cadenabbia ging es auch um weitere Modelle, die bewusst mehr als Religionskunde beanspruchen. Gerade der Blick auf andere Länder zeigte, dass die Rahmenbedingungen in Deutschland nicht schlecht sind. Zu oft degeneriere das Fach „Religion“ an staatlichen Schulen in anderen Ländern zur Auseinandersetzung mit einem Sammelsurium von Weltanschauungen, wie der Münsteraner Religionspädagoge Claus-Peter Sajak mit Blick auf Großbritannien beklagte. Ein interreligiöses Einerlei kritisierte auch Volker Beck, ehemaliger religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen. Er hob mit Blick auf die abnehmende Kirchenbindung hervor: „Die Leute schätzen Bildung über Religion mehr als Religiosität an sich.“

Der Religionsunterricht an kirchlichen Schulen in anderen Ländern besteht auf der anderen Seite zu oft in erster Linie aus Katechese. Nicht Beheimatung in der Kirche, nicht Einübung religiöser Praxis sind Ziele des Religionsunterrichts; sehr wohl allerdings das Vertrautwerden mit der Perspektive Gläubiger, die über die Lehre als Unterrichtsgegenstand hinausgeht. Neben dem „Training in der Fähigkeit, religiös-relevante Fragen präzise stellen zu können“, wie der Lübecker Sprengelbischof Stephan Schaede formulierte, müsse es auch darum gehen, im Sinne Friedrich Schleiermachers „Sinn und Geschmack“ für das Religiöse zu wecken, so die Forderung von Bernhard Dressler, der in Marburg evangelische Theologie lehrte (vgl. HK Spezial, Das Lieblingsfach. Warum der Religionsunterricht unterschätzt wird, Nr. 1/2021). Das sei am besten über die Religionszugehörigkeit der Lehrkraft zu organisieren. Nur so sei der „Sozialpädagogisierung“ des Fachs zu wehren. Und gerade die Einrichtung des Ersatzfachs Ethik habe zu dem bedauerlichen Missverständnis geführt, der Religionsunterricht sei in erster Linie eine konfessionell gefärbte Wertelehre.

Religion sei nicht nur ein relevanter, sondern ein erheblicher Weltausschnitt, den man im Rahmen der vorangetriebenen „Entsubjektivierung“ der Beschäftigung mit Religion heute nicht angemessen würdigen könne, unterstrich schließlich der für das Feuilleton zuständige Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Jürgen Kaube, zu Beginn. Kaube hatte 2019 mit einer Kritik des Religionsunterrichts für Furore gesorgt. Sein Plädoyer für ein konfessorisch erteiltes Pflichtfach ohne institutionelle Beteiligung der Konfessionen stieß freilich weder bei den Juristen und Ministerialbeamten noch bei Religionspädagogen und Kirchenvertretern auf Gegenliebe.

Letztlich müsse der Staat selbst ein Interesse an religiöser Bildung haben, unabhängig vom Zustand der Kirchen und von der Zustimmung zu den Kirchen, ohne dies selbst organisieren zu können, betonte auch Georg Manten, im Hessischen Kultusministerium für den Religionsunterricht zuständig. Angesichts der „Verschränkungs- und Fusionsformen“ bleibe die Frage zentral, inwieweit die Konfessionalität im Sinne des Grundgesetzes gewahrt werden könne. Konfessionellen Religionsunterricht in diesem Sinne brauche es gerade, um die Grundrechte – wie Religionsfreiheit – überhaupt wahrnehmen zu können, so Manten.

Mehr religionswissenschaftliche Inhalte in der Lehrerausbildung

Das bedeutet auch: Beim Islamischen Religionsunterricht darf es nicht in erster Linie um Radikalisierungsprävention und die Integrationsfrage gehen. Auch hier gilt uneingeschränkt die Vorgabe von Paragraf 7, Absatz 3 des Grundgesetzes. Faktisch wird durch die Diskussion über die Einführung von Religionsunterricht für Muslime auch der bisherige konfessionelle Religionsunterricht gestärkt. Hier bleiben jedoch weiterhin jede Menge Fragen offen.

Kritisch evaluierte in Cadenabbia der Erlanger Staatskirchenrechtler Heinrich de Wall das bayerische Fach „Islam und Werte“. Muss Muslimen Sittlichkeit anders vermittelt werden als den anderen, so die Rückfrage von de Walls. Er kritisierte, es werde ein staatlicher Religionsunterricht „camoufliert“. Bundesweit sind alle bisherigen Schulversuche ausgelaufen. Grund ist nicht zuletzt die Zuspitzung der Trägerfrage nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei. Er hat das Verhältnis zur Ditib als Träger massiv eingetrübt. In Hessen wurde der Versuch, den türkischen Moscheeverband aus der Mitverantwortung für den Religionsunterricht herauszudrängen, jedoch vom Landesverwaltungsgericht in Kassel zurückgepfiffen.

Die Lage ist auch in Baden-Württemberg nicht stabil. Die dort von der Landesregierung eingerichtete Stiftung für den sunnitischen Religionsunterricht steht von unterschiedlichen Seiten aus in der Kritik. Einige bezweifeln die Verfassungsgemäßheit, andere stören sich daran, dass die Stiftung die Lehrtätigkeit des Freiburger Fachbereichsleiters für Religionspädagogik an der dortigen Pädagogischen Hochschule, Abdel-Hakim Ourghi, wegen formal nicht hinreichender Qualifikation als Islamwissenschaftler ablehnt. Ourghi gehört zu den schärfsten Kritikern nicht nur der konservativen Islamverbände, die im Beirat vertreten sind.

In Summe braucht es mit Blick auf die Stärkung der religiösen Bildung in Deutschland einen Spagat: Zum einen darf auf die Positionalität der Lehrkräfte nicht verzichtet werden, weil nur so die für das religiöse Verhältnis wesentliche Teilnehmerperspektive erhalten bleibt. Zum anderen sind angesichts der religionssoziologischen Entwicklungen mehr religionskundliche Elemente und die Einbeziehung authentischer Stimmen anderer Religionsgemeinschaften in den eigenen Religionsunterricht notwendig.

Dafür braucht es eine bessere Lehreraus-, fort- und -weiterbildung, die mehr religionswissenschaftliche Anteile beinhalten muss. Angesichts des Drucks auf die Fakultäten und Institute und der geringen Kapazitäten zum Aufbau neuer Fächer (Stichwort Auslastung) wird das nicht leicht zu bewerkstelligen sein. Auch die unterschiedliche Verteilung von Konfessions- und Religionszugehörigkeit in den Regionen, die jeweils angepasste Modelle von Religionsunterricht als sinnvoll erscheinen lassen, sowie der Föderalismus in Deutschland mit unterschiedlichen religionspolitischen Optionen der Landesregierungen vereinfachen die Sache nicht. Die Anstrengungen aber sind es allemal wert, um der Bildung aller Schülerinnen und Schüler willen.

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