Meister Eckhart und der Zen-BuddhismusErspürte Einheit

Vor kurzem ist der japanische Philosoph Shizuteru Ueda verstorben. Seit den Sechzigerjahren hat sich Ueda um eine Interpretation des spätmittelalterlichen Philosophen und Theologen Meister Eckhart aus der Sicht des Zen-Buddhismus bemüht.

Zen-Meditation
© KNA-Bild

Shizuteru Ueda, geboren 1926 bei Tokyo, ist am 28. Juni 2019 mit 93 Jahren in Kyoto gestorben. Er war ein japanischer Philosoph und ein führender Vertreter des Zen-Buddhismus im interreligiösen Dialog. Er studierte und promovierte bei Nishitani Keiji an der Universität Kyoto. Danach studierte er zusätzlich an der Universität Marburg (1959–1963). Er promovierte dort bei Friedrich Heiler und Ernst Benz über „Gottesgeburt und der Durchbruch zur Gottheit bei Meister Eckhart“ (1965). Zunächst war er ab 1964 Professor für Deutsche Literatur an der Universität Kyoto. Dort erhielt er 1977 den Lehrstuhl für Religionsphilosophie. Nach seiner Emeritierung 1987 nahm er Gastprofessoren wahr. Ueda publizierte auf Japanisch, Deutsch und Englisch. Er referierte oft bei den Eranos-Konferenzen in Ascona/Schweiz.

Meine eigene Doktorarbeit über Meister Eckhart und Johannes Tauler war 1967 in Würzburg eingereicht worden. Ich kannte Uedas Arbeit damals noch nicht. Es wäre für mich auch nicht einfach geworden, mit Ueda aus meiner vorwiegend theologiehistorischen Sicht in Dialog zu treten. Aber wir stimmten in Eckharts Neubewertung der vita activa, des wirkenden Lebens, das zugleich ein schauendes ist, überein. Als ich in der Folge auf germanistischen und auf spiritualitätsorientierten Tagungen auf Ueda traf, wurde er für mich eine Adresse in einem Religionsdialog, dem gegenüber das Zweite Vatikanische Konzil die Vorbehalte zurückgenommen hatte.

Als Nachfolger von Nishitani leitete Ueda lange das renommierte Institut für Zen-Buddhismus, die sogenannte Kyoto-Schule. 1990 wurde ich von ihm zu einem Vortrag nach Kyoto eingeladen. Das Thema war sufficiency, Genügsamkeit, also eine moralische Haltung auf religiösem Hintergrund. Ich nutzte die Gelegenheit, die Konzeption Meister Eckharts in ethisch-praktischer Hinsicht zu entwickeln. Der Dialog „Eckhart und Zen“ stand oft im Zeichen der „Mystik“, das heißt einer religiösen Tiefenerfahrung, die das Denken bewegt und sich insofern philosophisch rekonstruieren lässt. Wenn man es so sieht, kann man nicht – wie Kurt Flasch – Mystik und Philosophie in einen einander ausschließenden Gegensatz bringen. Die Verbindung von Vernunft und vertiefter Erfahrung strahlt eine intellektuelle und eine religiöse Faszination aus. Darin begegnen sich Zen und Meister Eckhart, wie schon Erich Fromm im Dialog mit Suzuki erkannt hatte. Erich Fromm, dem ich 1975 begegnen durfte, sah in Eckharts deutschen Schriften ein Element der Gott-losigkeit. In der Tat hatte Meister Eckhart gesagt, dass man „von Gott loslassen“ solle: „Man findet Gott, wo man ihn lässt.“ Auf dieser Spur konnte man das absolute „Nicht“ im Zen begreifen, das sich jeder verdinglichten religiösen Sprache entgegenstellte.

Das absolute Nicht und die reine Erfahrung

Das Thema Meister Eckhart in Beziehung auf den Zen-Buddhismus führte Ueda in einer vielfach beachteten Anzahl von Beiträgen fort, vor allem in Bezug auf das absolute „Nicht“, auf die Grenzen der Sprache und auf die Phänomenologie des Lebens selbst. Im Englischen heißt es für „Nicht“ nothingness, das scheint mir weniger gegenständlich zu klingen als das deutsche „Nichts“. Ich bevorzuge, von „Nicht“ statt von „Nichts“ zu sprechen, weil es um eine Verneinung als Prozess geht, während das deutsche Wort „Nichts“ in die gegenständliche Perspektive, die es ablehnen will, hineinzugeraten scheint. Diese Gegenständlichkeit oder Substantiierung wollten ja Nishitani und Ueda ausdrücklich vermeiden.

Um den Ansatz von Ueda allgemeinverständlich darzustellen, greife ich auf drei seiner Aufsätze zurück, die sich mit dem Nicht, mit der Sprache und mit dem Leben beschäftigen.

Der erste Aufsatz (ins Englische von J.W. Heisig übersetzt) ist 1977 publiziert: „‚Nothingness‘ in Meister Eckhart and Zen Buddhism. With Particular Reference to the Borderlands of Philosophy and Theology“. Er betritt also ausdrücklich die Grenzgebiete zwischen Theologie und Philosophie. Er baut eine Brücke zwischen Eckharts und Nishitanis Philosophie des absoluten Nicht. Diese Brücke hat ihren ersten Pfeiler in der Vorstellung von einer pure experience, einer „reinen Erfahrung“. Man kann meines Erachtens auch von einer „gereinigten“ Erfahrung sprechen, also von einer Erfahrung, die Erlebnisse und Vorstellungen hinter sich lässt – bei Eckhart eine Erkenntnis im Modus der „Abgeschiedenheit“, des Lassens als Loslösung von allem, woran man klebt.

Ein anderer Pfeiler ist die Unmittelbarkeit des Ereignisses. Bei Eckhart sieht dies Ueda als die Ununterschiedenheit von Vater und Sohn im Ereignis des Gebärens selbst als einem Wechselwirkungsverhältnis, in welchem beide begrifflich erst entstehen. Es gibt also keinen substanziellen „Mediator“. Eckhart, der den Substanzbegriff zwar in Beziehungen auflöst, aber an ihm festhält, würde dies anders ausdrücken. Unmittelbarkeit heißt bei ihm: Im Grund Gottes und im Grund der Seele herrscht diese Ununterschiedenheit, weil sich der doch vorhandene Unterschied nicht auf eine äußere Kategorie beziehen lässt. So ist zum Beispiel „Weiß“ etwas, das alle Farben ununterschieden enthält, in diesem Sinne ist nicht „Farbe“ der Oberbegriff, auf den sich „Weiß“ als einzelne Farbe beziehen ließe.

Ein dritter Pfeiler ist die Transformation in die Einheit. Was im Zen die Transformation des Selbst in Buddha ist, ist bei Eckhart das „absolute Ereignis der Erlösung“ durch die Menschwerdung Gottes, die alle Menschen in ihrem Selbst ohne Unterschied betrifft und von diesen nachvollzogen werden kann. Dieses Ereignis kann als reine, gereinigte Erfahrung mitvollzogen werden. Selbstlosigkeit, Verzicht auf das Ego, ist dafür erforderlich, um in diese neue Selbigkeit zu gelangen.

Ein vierter Pfeiler ist schließlich die flüssige Koinzidenz der Gegensätze: Affirmation und Negation schließen sich nicht aus, weil alles „Beziehung“ (relatedness) ist. Der Zen-Buddhismus, so argumentiert Ueda, sehe diese relatedness freilich radikaler und weitreichender als Meister Eckhart. Es gehe um eine betweenness, eine Beheimatung im „Zwischen“. „I am I and Thou“, ich bin ich und Du zugleich. Bei Eckhart wird dies ausgedrückt durch das „Zwei-Eine“, das auch ein Zugleich meint. Zen nimmt diese Vorgänge naturaler als Eckhart, bei dem Bilder unterschiedlicher Einheitsformen immer ins allgemein Menschliche führen. Die Betonung des Naturalen führt dazu, dass Zen Glaubensinhalte vermeidet. Das heißt, Zen kommt nach Ueda ohne dogmatische Setzungen aus. An deren Stelle treten aufgeladene Tautologien: „Die Blume blüht aus sich selbst heraus.“ Es gibt ähnliche Formulierungen bei Meister Eckhart. Das Leben sagt, wenn man es fragt: „Ich lebe darum, dass ich lebe“.

Ueda achtet darauf, dass Eckhart sich in einer philosophischen Tradition als Theologe artikuliert. In der Theologie, so sagt er, sind die ersten Prinzipien im Vorhinein als Ursprungsquelle gegeben. Für Ueda ist dies aus philosophischer Perspektive hypothetisch, denn der philosophische Diskurs ist „unerschöpflich“. Es gibt daher keine Selbst-Evidenz, aus der alle Phänomene abgeleitet und auf die sie zurückgeführt werden können. Gegenüber Eckhart, dessen Philosophie mit transzendenter Begrifflichkeit theologische Vorgaben durchdenkt, ist Zen, wie Ueda an verschiedenen Bildinterpretationen zeigt, perspektivisch offener. Und da Zen eine Praxis ist, übt es diese Offenheit ein. Man könnte sagen: Wenn Relationalität, die Bestimmung durch wechselseitige Beziehungen, Eckhart und Zen verbindet, dann stellt sich die Frage nach einem Relativismus. Relativismus wird in der postmodernen Ironie so pointiert: Alles gilt, was gilt, und dass nicht alles gilt, das gilt auch. Meine philosophische Kritik daran ist: Eine Wende gegen alle Stabilität gerät in Gefahr, auch auf eine Art stabil zu werden. Aber auch Zen meint, dass ein reines „Wogegen“ nicht das Ganze erfassen kann. Es geht also darum, einen Perspektivismus nicht zum Relativismus werden zu lassen.

Sprache und Raum

Der zweite Aufsatz Uedas, den ich hier heranziehe, beschäftigt sich mit der Sprache und ihrem Raumbedarf: „The space of Language“. Hier geht es darum, die Sprache von ihrer Bindung an Raum und Zeit zu befreien. Dazu ist die Sprache selbst bereits unterwegs, wenn sie von sich selbst wegzuverweisen versucht. Die sprachlich vernetzte Welt gleicht nach Ueda einem Käfig, in dem wir gefangen sind: „In fact the linguisticely structured world ist mostly the world of a net and the world of a cage in which we are trapped.“ Man muss also die Sprach-Erfahrung durch eine Analyse der Erfahrung des Sprechens überwinden. Das heißt die Sprache von der Sprache befreien. „Die Sache selbst“, die von der Sprache zwar bezeichnet, aber mit dieser Bezeichnung auch veruneigentlicht wird, soll zur Sprache kommen. Sprache also gegen Sprache. Ein Erwachen aus dem Sprachdickicht. Dazu kann das Schweigen dienen, meint Ueda mit Wittgenstein. Über Schweigen kann man aber nicht sprechen.

Dieses Nicht ist genauer zu erfassen. Angelus Silesius erfasst es nach Eckhart als die „Warumlosigkeit“ der blühende Rose, sie blüht, weil sie blüht. Zen sagt: sie blüht, wie sie blüht. Das „ohne Warum“ ist bei Silesius noch ein in sich selbst ruhendes Warum, im Zen ist es eine Weise des Seins: „blühen“. In beiden Fällen geht es aber um eine Loslösung (detachment) aus dem Sprachablauf, der das „Warum“ in Ursächlichkeiten und in Folgen zerlegt. Loslösung ist eine Dynamik, welche Negativitäten im Leben dadurch auflöst, dass sie ihnen bereits voraus ist. Auch die Frage der Philosophen „Was ist Gott?“ löst sich hier auf. Im Zen beantwortet der Meister die Frage mit „drei Pfund Flachs“. Nach Eckhart lässt sich der Urgrund Gottes, die Gottheit, nicht mehr „geworten“, also versprachlichen.

Uedas letzter Beitrag in deutscher Sprache über Meister Eckhart und Zen ging auf einen Vortrag bei der Jahrestagung der Meister Eckhart Gesellschaft 2014 über „Meister Eckhart interreligiös“ an der Katholischen Akademie in Bayern zurück. Er schrieb dort: „(Eckharts)… Grundgedanken finden sich ebenso genau im Zen-Buddhismus. Das wahre Menschsein liegt für beide im dynamischen Zug zurück zum Urgrund und wieder aus diesem heraus, auch wenn dies mit sehr verschiedenen Begriffen formuliert wird, die je dem betreffenden geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund entspringen“ (76). Den Unterschied markierte er so: „Die radikale Verneinung im Zen zeigt sich schon darin, dass es ihm auf das Nichts schlechthin ankommt, während bei Eckhart vom Nichts der Gottheit die Rede ist (...). Demgegenüber ist das ‚Nichts‘ im Zen ein Ausdruck für eine Bewegung ohne substanzielle Fixierung, entsprechend dem Mahayana-buddhistischen Beziehungsdenken. Das Nichts im Zen ist nicht wie bei Eckhart eine andere Bezeichnung für das lautere Eine, sondern liegt jenseits beziehungsweise diesseits dieses Einen, wie die Null“ (80f.). Das ist für Eckhart nicht nachvollziehbar, denn wie alle Farben im Weißen, so sind alle Zahlen in der Eins enthalten.

Philosophisch nimmt Ueda an, das Substanzdenken bleibe für Eckhart „bestimmend“ (81) Die neuere Eckhart-Forschung zeigt freilich, dass Eckhart Substanz selbst als eine Beziehung denkt, und sie verringert damit den von Ueda beobachteten Abstand. Freilich ist für Zen die Beziehung tautologisch: „Wasser als Wasser“ (81), während sie meines Erachtens bei Eckhart eher als „Zwei-Eines“ zu denken ist – er hebt nicht alle Differenzen in Tautologien auf.

Dies liegt daran, dass Eckhart als christlicher Theologe die Einheit und Unterschiedlichkeit in Gott (Gottheit und Trinität) als Wechselwirkung und Beziehungsgeschehen zu denken versucht, ein Geschehen, das durch die Menschwerdung den Menschen mit in diese Beziehung hinaufhebt. Das ist die „Gottesgeburt in der Seele“. Insofern bleibt Eckhart auch ein Offenbarungstheologe, der sich freilich in Kontinuität zu den Kirchenvätern verpflichtet fühlt, die biblische Offenbarung philosophisch auszulegen. Für Ueda verbleibt damit Eckhart mit seiner reichhaltigen Beziehungssprache, in der sich Bilder durch andere Bilder überholen und wieder auflösen lassen, manchmal noch im „Sprachkäfig“. Gemeinsam ist aber die Suche nach „Bild ohne Bild“, wie Eckhart dieses Transzendieren nennt.

Spirituelle Lernprozesse

Man muss sich, so lautet meine These, vom Eigenen nicht entfernen, um vom Anderen zu lernen. Das Andere ist, so schlage ich in Anlehnung an den Philosophen Heinrich Rombach vor, nicht identisch, aber es kann „idemisch“ sein. Damit ist ein offener Beziehungsprozess gemeint, in dem es Momente des Zueinanders bis zur Übereinstimmung gibt und Momente des Auseinander, um dieses Zueinander nicht als eine Amalgamierung zu verstehen, das heißt auch, es immer wieder neu aus dem Eigenen zu bestimmen. Man kann sich diesen Prozess, so schlage ich vor, als eine fließende Kette vorstellen, in der die Glieder Rauten sind, die sich zur Fortsetzung der Kette an einer Ecke in Knotenpunkten verbinden, um dann wieder so auseinanderzutreten, dass sich auseinanderliegende und entgegengesetzte Punkte bilden.

Für diese „Kette“ ist Shizuteru Ueda ein vorzüglicher Modellierer gewesen, der auch gern unterschiedliche Bildwelten in der christlichen und in der buddhistischen Tradition miteinander in Austausch brachte. Er war bereit, intensiv in die zentrale christliche Botschaft von der Menschwerdung Gottes einzusteigen, um von dort her das Eigene des Zen zu beleuchten. Er begegnete diesem Zentrum des christlichen Glaubens über dessen spirituellen Nachvollzug in der „Gottesgeburt in der Seele“ bei Meister Eckhart. Das war in Marburg besonders gut möglich, wo Heidegger gelehrt hatte und wo Rudolf Otto und Friedrich Heiler Brücken bauten. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert war es üblich geworden, die Verbindung von religiöser Befindlichkeit („bevinden“ = mittelhochdeutsch „erfahren“) und gedanklicher Erfassung, besonders bei Meister Eckhart, den man neu entdeckte, „Mystik“ zu nennen. Meister Eckhart steht freilich in einer großen Tradition, auf die er sich kenntnisreich beruft, in der religiöse Vorannahmen – die christliche Offenbarung, die Bibel – mit gedanklichen Mitteln, unter philosophischem Anspruch, nachvollzogen werden. Die Begegnung mit dem Zen-Buddhismus zeigt gerade deshalb eine besondere Affinität auf, weil auch Zen Religion in Philosophie und Philosophie wieder in einer religiösen Praxis aufgehen und darin ausruhen lässt.

Begegnungen zwischen Zen und eckhartischer Mystik sind daher auf zwei Ebenen möglich: auf der Ebene der spirituellen Praxis und auf der Ebene der philosophischen Reflexion der Religion. Auf der Ebene der spirituellen Praxis gibt es Übungen mit jeweiligen Traditionen, die man an den „idemischen“ Punkten der genannten Kette miteinander verbinden kann. Dies geschieht auch, etwa in Häusern wie dem Lasalle-Haus bei Zug (wo vom 31.10. bis 3.11. dazu eine Tagung stattfinden wird) und dem Benediktus-Haus bei Würzburg. Zwischen Eckhart und Zen hat Ueda die idemischen Punkte herausgearbeitet: die Loslösung (detachment) die Gelassenheit, das „Sich-finden-Lassen“ anstelle der hektischen Suche, die Innerlichkeit gegen die bedrohliche Außenbestimmtheit, gerichtet gegen Egozentrik und Erfolgsorientierung, das „ohne Warum“ des Lebens, die innere Ruhe im Wirken selbst, das heißt ohne Bindung an bestimmte Rückzugsorte, auch wenn diese helfen können.

Manchmal wird darüber diskutiert, ob das dabei erreichte Erspüren einer Einheit – „erspüren“ heißt im Latein des Mittelalters experiri – nicht zu nivellierend gedacht ist. Dieser Vorwurf wird gegen Zen, aber auch gegen Eckhart erhoben, zumal Eckhart, und nicht nur er, das biblische Bild vom „Tropfen im Meer“ verwendet (Weisheit 11,23). Aber diesen Vorwurf kann man entkräften, wenn man den Prozess vor Augen hat, in welchem die Linien zur Ununterschiedenheit zusammentreten und dann wieder auseinandertreten und nur aufgrund dieses Auseinandertretens die punktuelle Einheit, den „Knotenpunkt der Resonanz“ wahrnehmen können. Ueda ist auch ein guter Zeuge für dieses Auseinandertreten der Linien, wenn er sich von der positiven Lehre des Christentums („Dogmatik“) unterscheidet. Das verlangt er aber nicht von den Christen, die er in den Lernprozess hineinnimmt. Umgekehrt muss man sich, das ist meine These, vom Eigenen nicht entfernen, um vom Anderen zu lernen, ja, um an den genannten Knotenunkten mit seiner Philosophie oder mit seiner Praxis „idemisch“ zu sein.

Mystik statt Religion?

„Mystik statt Religion“ ist ein Programmwort oder eine Anfrage des Philosophen Ernst Tugendhat, der in Köln den inzwischen eingestellten „Meister-Eckhart-Preis“ erhielt. Ich habe versucht, zu zeigen, dass es nicht um eine Alternative geht. Richtig aber ist: Institutionelle Religionen, also die Kirchen bei uns, haben es schwer. Dass dies auch für die Evangelische Kirche git, macht deutlich, dass der Grundzug viel allgemeiner ist als die berechtigte, öffentliche Kritik an der katholischen Kirche.

Der Austritt aus den christlichen Kirchen in Deutschland kennzeichnet jedoch nicht das Ende des religiösen Bedürfnisses. Es entfernt sich jedoch vom Auseinandertreten der Linien in der Kette und sucht die Knotenpunkte. Freilich braucht man, wie ich zu zeigen versuchte, dafür den Dialog über Idemitäten und Differenzen, sowohl das Eine wie das Andere. Eine religiöse Beheimatung ist ein Vorteil für den Dialog, kein Nachteil. Unter dieser religiösen Beheimatumg verstehe ich hier eine Sprachgemeinschaft, eine rituelle Gemeinschaft und eine Handlungsgemeinschaft. Der Zen-Buddhismus Uedas kultiviert diese eigene Beheimatung, indem er sich zugleich auf das Andere des Christentums einlässt. Das Christentum sucht diese Beheimatung in sich selbst derzeit neu. Vielleicht kann Meister Eckhart bei dieser Suche behilflich sein. Das ist auch eine Botschaft Uedas.

Der Zen-Buddhismus, wie ihn Ueda mit Suzuki und anderen über Sprach- und Religionsgrenzen hinweg darstellen konnte, ist auch für das Feld neuer, „säkularer“ Spiritualität im Sinne einer „Weltbeziehung“ anschlussfähig. „Unverfügbarkeit“ im Sinne von Bruno Latours Fassung „religiöser“ Rede oder im Sinne von Hartmut Rosas Resonanzdenken zeigt der Verfügungswelt und der Verfügungssprache ihre Grenzen auf. Damit wird ein religiös-säkularer Dialog möglich, wie ihn der Zen-Buddhismus des Shizuteru Ueda bereits mit den Elementen christlicher Tradition ins Gespräch gebracht hat.

Im Mai 2014 schrieb ich als damaliger Präsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft an Ueda: „Ich will Ihnen herzlich danken. Sie haben einen eindrucksvollen Vortrag gehalten und mit Ihrer besonderen Ausstrahlung ein größeres Publikum erreicht (...). Besonders hat uns gefreut, dass Ihre Frau Sie begleitet hat und dass wir sie kennenlernen durften. Es waren schöne Tage des Zusammenseins und Zusammenwirkens. Ich wünsche Ihnen sehr, dass Ihre Stimme über die Kontinente und Bekenntnisse hinaus uns möglichst lange erhalten bleibt!“

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