"Das neue Evangelium"Ein Flüchtling geht übers Wasser

Es ist teils Reportage, teils Bibelgeschichte und teils Blick hinter die Kulissen. In „Das neue Evangelium“ verschwimmen die Grenzen des Films. Das lohnt sich.

Auf den Hügeln vor der süditalienischen Stadt Matera wurden schon einige „Jesusse“ gekreuzigt. Mel Gibson inszenierte hier seine blutige „Passion Christi“, und Pier Paolo Pasolini ließ in den sechziger Jahren Laienschauspieler in die Rollen der biblischen Figuren schlüpfen. Inzwischen gibt es auf dem italienischen Golgatha schon eigene unauffällige Öffnungen, in die Kreuze problemlos einrasten können, damit es bei den falschen Hinrichtungen nicht zu echten Unfällen kommt. Alles Routine, könnte man meinen, doch der Schweizer Regisseur Milo Rau nutzt die bekannte Kulisse, um in „Das neue Evangelium“ eine sehr moderne Geschichte zu erzählen. „Ich konnte keinen Jesusfilm machen, ohne auf reale soziale Probleme einzugehen“, erklärt er. Er meint damit vor allem die Lage von afrikanischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten in Italien, die oft für einen Hungerlohn und ohne gesetzliche Absicherung auf Tomatenfeldern schuften.

Jesus-Darsteller Yvan Sagnet ist nicht nur ein ehemaliger Erntehelfer, sondern auch ein politischer Aktivist. Der gebürtige Kameruner versammelt sowohl in seiner Rolle als auch im echten Leben Menschen um sich, um sie von seiner Sache zu überzeugen und auf eine bessere Zukunft einzuschwören. Der Film lässt beides nebeneinander stehen: mal Sagnet, wie er in Alltagskleidung und mit Megaphon eine Demonstration organisiert, mal wie er im weißen Gewand vom Reich Gottes predigt. Als dritte Ebene bietet „Das neue Evangelium“ einen Blick hinter die Kulissen. Wir sehen das Casting der Rollen, und auch die kleinen Fehler und Unregelmäßigkeiten, die bei normalen Filmproduktionen als Erstes rausgeschnitten werden, dürfen hier stehen bleiben. So kann es durchaus vorkommen, dass Johannes der Täufer Jesus mitten in der Szene noch ein paar Tipps zur richtigen Betonung gibt. Oder dass die monumental gefilmte Begegnung mit dem Versucher in der Wüste sicherheitshalber zweimal gedreht wird.

Diese dauernden Unterbrechungen machen es unmöglich, sich ganz auf die so bekannte biblische Handlung einzulassen. Sie sorgen aber auch dafür, dass man oft nicht ganz sicher ist, auf welcher Ebene man sich gerade befindet. Und das kann durchaus spannend sein. Wenn in der Gethsemane-Szene plötzlich Autos vorfahren, glaubt man erst, die Polizisten, die kurz zuvor eine Flüchtlingsunterkunft geräumt haben, seien zurückgekommen – und ist dann seltsam beruhigt, wenn römische Legionäre aussteigen und Jesus mitnehmen. Auch an anderen Stellen ergeben sich berührende Parallelen. Die sind manchmal sehr eindeutig, etwa wenn Jesus übers Wasser geht und einer der Schauspieler direkt danach von den langen dunklen Nächten bei seiner Überfahrt übers Mittelmeer erzählt. Manchmal verwischen die Grenzen aber auch. Zum Beispiel, wenn Jesus und seine Jünger einen Supermarkt stürmen und all jene Tomatensoßen zerschlagen, für die Arbeiter ausgebeutet wurden. Ist das eine moderne Interpretation der Geldwechsler-Szene, verlegt in einen Konsum-Tempel? Oder politischer Protest? Oder beides?

Die eindrücklichsten Reibungspunkte zwischen Evangeliumstext und heutiger Realität standen allerdings nicht im Drehbuch, sie sind glückliche Zufälle. Da gibt es etwa den Bürgermeister, der offenbar keinen Finger rührt, um den Flüchtlingen zu helfen, als ihre Unterkunft geräumt wird, aber unbedingt den Simon von Cyrene spielen will. Mit heilig-mitleidendem Blick nimmt er dem schwarzen Jesus das Kreuz ab und trägt es ein paar Meter. Ihm sei auch der Pontius Pilatus angeboten worden, sagt er bei der Kostümprobe. „Aber ich wollte eine positive Rolle.“ Oder ein unauffälliger Mann mit Brille und Kreuzkette, der beim Casting für einen römischen Folterknecht zum Tier wird, sobald man ihm eine Peitsche in die Hand drückt. Unter wüsten rassistischen Beschimpfungen prügelt er minutenlang auf einen leeren Stuhl ein. Und spricht dann, wieder in korrekt zugeknöpftem Hemd, darüber, was es für eine unglaubliche Erfahrung sei, einmal „Gott zu massakrieren – gerade als Katholik“. Es sind solche Szenen, für die sich „Das neue Evangelium“ lohnt. Ein Film, der nicht ganz Dokumentation ist, nicht ganz Bibelepos, nicht ganz Reportage. Sondern eine ganz eigene Erfahrung.

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