Missbrauch im SportGib alles – aber nicht dich selbst

Seit Jahren arbeitet die Kirche sich an ihrer Geschichte der Vertuschung und Nicht-Verhinderung sexueller Gewalt an Kindern ab. Auch im Sport geht es um große Hoffnungen, hehre Träume, vollen Einsatz. Doch was so ermutigend, ja stark klingt, ist zugleich ganz zerbrechlich.

Der Himmel ist nicht blau. Eine einzige dicke, graue Suppe hängt über der kleinen englischen Hafenstadt Blackpool, oben im Norden des Landes. Mit diesen Eindrücken beginnt die Dokumentation „Kindesmissbrauch im Spitzensport“ des französischen Filmemachers Pierre-Emmanuel Luneau-Daurignac. In Blackpool lebt Paul Stewart, der Mann mit der glänzenden Karriere im Profifußball. Stewart spielte in der „Premier League“ bei Clubs wie „Manchester City“ und dem „FC Liverpool“. Er war Pokalsieger, mehrfacher Nationalspieler. Nicht nur in England ist das wohl ein Traum vieler kleiner Jungen. Stewart hat sich diesen Traum erfüllt, massig Geld verdient, ist zudem glücklich verheiratet, hat drei Kinder. Doch derselbe Paul Stewart war lange Zeit süchtig nach Drogen und Alkohol, zerstörte sich selbst. Vielleicht, so hat er einmal gedacht, sollte er gar nicht mehr da sein.

„Preis“ für die Karriere?

Stewarts Geschichte wäre ohne den 16. November 2016 unbekannt. An jenem Tag hat er beschlossen, der grauen Suppe ein Ende zu bereiten, die bis dahin über seinem Leben lag. Die Zeitung „The Guardian“ brachte da ein Interview mit einem ehemaligen Profispieler, der von seinem Trainer missbraucht worden war. Der Text lese sich teils wie seine eigene Biografie, nur mit anderen Namen, sagt Stewart gefasst, als er den Text am Frühstückstisch bei Toast und Kaffee nochmal aufschlägt. Ohne es zu wissen, hat Stewart auf einen solchen Artikel gewartet. Endlich platzte es aus ihm heraus.

„Sobald ich laufen konnte, habe ich Fußball gespielt“, sagt Paul Stewart. Aufgewachsen ist er in den siebziger Jahren in einem Vorort bei Manchester. Ein einfaches Leben, doch er war glücklich. Dann trat Trainer Frank Roper in sein Leben, holte ihn in sein Team, eine Schmiede für Talente. Paul, er war da gerade zehn, sah seinen Traum wahr werden. Als Roper den Jungen zum ersten Mal missbrauchte, mit dem Mund und mit der Hand, flüsterte er ihm ins Ohr: „Das gehört dazu, wenn man Fußballer werden will.“ Paul dachte in diesen Situationen immer ans Wembley-Stadion im fernen London, an die Nationalmannschaft. „Als Trainer mit einem gewissen Einfluss hast du ein Druckmittel, um die Kinder zu manipulieren. Sie wollen deine Anerkennung und brauchen deine Fähigkeiten. Du bist für sie der Weg zur Verwirklichung ihrer Träume, zum Erfolg, den sie sich so sehr wünschen“, sagt Donald Findlater, der in England seit langem gegen Missbrauch im Sport arbeitet. Für die Kinder und Jugendlichen stehe zu viel auf dem Spiel, um zum Trainer „Nein!“ zu sagen. Vergewaltigung als „Preis“ für die Profikarriere. Es ist das Muster, das auch bei Schauspielern, Models, Musikerinnen immer wieder beobachtet wird: Der, die Mächtige und der, die Abhängige. Eines Abends, Paul ist nun fast fünfzehn, ist es genug. Nach dem Training bringt Trainer Frank Roper ihn wie so oft nach Hause. Im Auto will der Mann sich auf den Jungen legen. „Ich stieß ihn weg, riss die Tür auf und rannte los.“ Sein Trainer, der Täter, kam nie vor Gericht. Er starb 2005 an Krebs, die Opfer meldeten sich erst danach – bislang weiß man von 31.

Angefangen durch das Interview im „Guardian“ vor vier Jahren und befeuert durch Menschen wie Paul Stewart läuft in England immer noch ein riesiger Missbrauchsskandal im Leistungssport. Nach Erscheinen des Artikels meldeten sich mehr und mehr Sportler. Eine eigens eingerichtete Polizeikommission „Operation Hydrant“ hatte am Ende 3000 Opferaussagen auf dem Tisch, 350 Vereine waren betroffen, von den Amateuren bis hin zur Profiliga. 300 Täter konnte die Soko benennen, einige waren längst verstorben.

In der Schweigespirale

Die weltweite Tragweite des Missbrauchs im Sport lässt sich nur erahnen, ist aber ganz sicher erschreckend. Eine belgisch-niederländische Studie von 2015 mit 4000 befragten ehemaligen Athleten führte zu dem Ergebnis, dass dort im Nachwuchssport jeder Siebte sexuelle Gewalt erlebt hat. Die Untersuchung hat auch ergeben, dass nicht-heterosexuelle Kinder und solche aus ethnischen Minderheiten eher zum Opfer werden. In Deutschland hat die Wuppertaler Soziologin Bettina Rulofs 2016 eine Studie veröffentlicht. Das Ergebnis: Im Leistungssport hat mehr als jeder Dritte irgendwann mal sexuelle Übergriffe erlebt, die meisten Täter seien Männer.

Alarmierend ist auch das Ausmaß des Schweigens, das Zögern, öffentlich zu sprechen. Die deutsche Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die sich auch um Verbrechen in der Kirche und anderen Institutionen kümmert, hat vergangenes Jahr eigens einen Aufruf an Betroffene im Sport gestartet. Die Vorsitzende Sabine Andresen wusste kürzlich bei einer Anhörung in Berlin von nur hundert Betroffenen zu berichten, die sich darauf gemeldet hatten. Die meisten waren Frauen. „Wir müssen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen“, sagte sie.

Anschaulich wird die Schweigespirale auch am Beispiel der spanischen Turnerin und Teilnehmerin der Olympischen Spiele Gloria Viseras, die ebenfalls im Doku-Film von Luneau-Daurignac porträtiert wird. Sie war schon ganz früh begeistert vom Turnen, wollte anfangs aus der Sporthalle nicht mehr raus. Das begabte Mädchen kam später ins spanische nationale Trainingszentrum für Turner, sie und ihre Eltern waren stolz. Der Trainer Jesús Carballo García isolierte die junge Gloria, sagte, ihre Eltern seien „schlechte Menschen“ und: „Ich liebe dich“. Irgendwann fing er an, sie zu vergewaltigen, wieder und wieder. „Ich tanzte in Gedanken zu Bizets Oper Carmen oder Ravels Bolero, ging meine Turnübungen im Geist immer wieder durch“, beschreibt Gloria Viseras ihre Gedanken während des Missbrauchs. Sie suchte damals die Schuld bei sich, bei ihrem Aussehen. Sie schnitt sich die Haare ab, meinte, so weniger anziehend auf ihren Peiniger zu wirken. Da das nicht half, beschloss sie, sich zu verletzen – öffentlich. Sie stürzte bei einem olympischen Wettkampf in Moskau absichtlich so sehr, dass sie disqualifiziert werden musste. Als sie sich ihren Eltern offenbarte, konfrontierte ihr Vater den Trainer. Danach sagte er zu Gloria: „Hierhin gehst du nie wieder.“ Was ganz genau passiert war, hatte der Vater sie allerdings nie gefragt. Das Thema war einfach tot.

Der französische Sportpsychologe Greg Décamps analysiert: „Die Eltern bringen Opfer. Sie opfern ihr Leben, ihr Geld, ihren Urlaub, ihre Zeit mit eventuellen Geschwistern.“ Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf das eine Kind mit dem großen Talent. „Das Kind ist darin gefangen, es darf die Familie nicht enttäuschen, sonst würde es alle Hoffnungen und Träume zerstören, die seine Familie in ihm sieht.“ Gloria Viseras kann über ihren Missbrauch erst öffentlich sprechen, als ihr Vater tot ist. 36 Jahre lang hat sie geschwiegen. Auch wurde ihr Trainer Jesús Carballo García nie verurteilt, einflussreiche Funktionäre schützten ihn weiterhin, es gibt Vetternwirtschaft. Lange garantierte er Spanien in Wettkämpfen Ruhm und Medaillen, wird teils bis heute geachtet, ist beliebt. „Man sagt nichts, weil man überzeugt ist, dass keiner einem glaubt“, sagt Viseras. Die wenigen Aussagen weiterer Opfer wurden nicht weiter verfolgt, weil die Ereignisse zu lange her sind.

Pervers ist auch der schleichende psychologische Prozess bei vielen Missbrauchsfällen. Bei Gloria Viseras waren es anfangs Massagen durch ihren Trainer, als Teil des Aufwärmprogramms. Langsam wurde die Nähe zwischen beiden immer größer, die Intimität wuchs, es entstand eine Art von Vertrautheit. Ihr Trainer spielte damit, dass die Grenze zum unangemessenen Verhalten immer schwerer erkennbar wurde, sich irgendwann auflöste – bis das Verbrechen zwischen Kind und Erwachsenem passierte. Täter und Opfer würden so schrittweise zu „Komplizen“, sagt der Psychologe Greg Décamps. Sie teilen ein Geheimnis. Als Viseras es nach dem ersten Missbrauch nicht geschafft hatte, etwas zu sagen, war sie in die Falle getappt: Je länger das Schweigen geht, desto weiter steigt die Hürde, über das Erlebte zu sprechen. Wer sollte mit der Zeit schon noch verstehen, warum man so lange nichts gesagt hat? Beim missbrauchten Kind entstehe ein diffuses Gefühl der Verantwortung für die eigene missliche Lage, so die Soziologin Bettina Rulofs. Als sei alles normal, eigentlich doch ganz okay, man muss sich nur zusammenreißen. Der Täter als irgendwie geduldeter, scheinbar selbst gewählter „Liebespartner“, den man nicht bloßstellen will, nicht bloßstellen kann. Verkehrter, verdrehter geht es wohl kaum.

Wem gehört mein Körper?

Außerdem: Der Körper steht beim Sport im Mittelpunkt. Was Paulus als „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6,19) bezeichnet, wird nicht nur beim Turnen bis aufs Äußerste beansprucht. „Der Körper ist für Sportler eine leistungsfähige Maschine“, sagt Greg Décamps. Der Leib werde trainiert und so verzweckt, benutzt, um ein sportliches Ziel, eine Leistung zu erreichen. Wie weit lässt man dann zu, überlegt Décamps, dass auch andere Menschen diesen Körper „gebrauchen“ – und womöglich misshandeln? Viele angehende Athleten sind es gewohnt, andere den eigenen Körper irgendwie „benutzen“ zu lassen, weil das Teil der Ausbildung ist, weil es die Möglichkeiten des eigenen Körpers erweitert: dehnen, strecken, die Anleitung von komplexen Bewegungen, das Einüben artistischer Haltungen. Körperliche Unterordnung geschieht also fast beiläufig: Leistungsbereitschaft – Leidensbereitschaft – Schmerzbereitschaft – Missbrauch.

In Deutschland sind geschätzt sieben Millionen Kinder sportlich aktiv, die meisten in einem der 90000 Sportvereine. Was wäre zu tun, um sie besser zu schützen? Viele Forderungen, die in der letzten Zeit an die Verbände gingen, sind richtig und wichtig: Es braucht Präventionskonzepte, es braucht Anlaufstellen, systematische Aufarbeitung. Missbrauch muss überall zum Gesprächsthema werden, ohne Tabu, ohne falsche Scham. Die Bundesregierung hat zudem jüngst einen Gesetzentwurf beschlossen, mit dem sexualisierte Gewalt gegen Kinder „ohne Wenn und Aber“ rechtlich als Verbrechen gelten soll, nicht mehr als Vergehen. Ohne mindestens ein Jahr Gefängnis käme dann kein Täter mehr davon. Eine reine Geldstrafe, wie sie bei Vergehen möglich ist, würde zudem ausgeschlossen. Höchststrafe: Fünfzehn Jahre.

Geht es nach Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater in Ulm, braucht es allerdings vor allem einen Perspektivwechsel. „Kinderschutz geht nicht primär über Abschreckung der Täter“, schreibt er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Fegert fordert, „vom Kind her“ zu denken. Ein Ansatz wäre, vor Gericht und in anderen Situationen das noch unvollständig ausgebildete Urteilsvermögen von Kindern besser zu berücksichtigen. Wenn Kinder Missbrauch erleiden, können sie ihre fürchterliche Lage oft gar nicht ausdrücken oder darauf angemessen reagieren. So wie bei Paul Stewart, den sein Traum vom Profifußball lange davon abgehalten hat, seinen Trainer zu meiden. Oder Gloria Viseras, die die Erwartungen und Hoffnungen der geliebten Eltern nicht enttäuschen wollte und die zu ihrem Trainer eine krude Hassliebe entwickelt hatte. Es brauche Richtlinien, wie Kinder bei Aussagen und Befragungen unterstützt werden können, schreibt Fegert. Auch hier will die Bundesregierung nachbessern, mit psychologischen und pädagogischen Fortbildungen für Richter. Auch Schutzbeauftragte der Sportverbände sollten hier einbezogen werden. Fegert ist überzeugt, dass noch viel mehr darüber zu lernen ist, wie Kinder die Geschehnisse wahrnehmen, wie sie diese beschreiben, und wie man ihnen dabei ohne Bevormundung helfen kann.

Der leere Blick

Der einfühlende – nicht übergriffige! – Blick „vom Kind her“ statt des kritisch-prüfenden Blicks „auf das Kind“, das könnte vielleicht die Kurzbeschreibung des langen Wegs sein, der im Kinderschutz noch zu gehen ist. Die Sportverbände kommen ganz langsam in Bewegung, auch die Kirchen mühen sich. In der katholischen Kirche in Deutschland kam das Thema vor zehn Jahren endgültig und unwiderruflich auf den Tisch, angestoßen durch den Jesuitenpater Klaus Mertes. Mittlerweile gibt es hier immerhin eine groß angelegte Studie, in der Missbrauch zwischen den Jahren 1946 und 2014 systematisch untersucht wurde. Aufarbeitung ist das noch nicht, aber eine Voraussetzung dafür. Doch es bringt nichts, wenn bei diesem Thema die einen auf die anderen zeigen, sich selbst hinter vorgehaltener Hand gar als „Vorreiter“ in der Aufarbeitung sehen. Kindesmissbrauch ist ein Unrecht, das in sich immer und überall Unrecht ist.

Paul Stewart, der englische Fußballspieler, hatte sich zwar von seinem Trainer Frank Roper befreit. Zudem nahm seine Karriere weiter Fahrt auf. Auch von der späteren Sucht nach Drogen und Alkohol konnte er sich irgendwann befreien. Doch wenn er heute den Fußballplatz seiner Kindheit besucht, ist sein Gesicht leer. „Das sollte ein Ort glücklicher Erinnerungen sein, an dem ich so viel Fußball spielen konnte, so viel ich wollte“, sagt er. Die Freude gibt es nicht mehr.

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