Genter AltarAllerheiligen und Apokalypse

Nach ihrer Restaurierung und Ausstellung im Museum (vgl. CIG Nr. 10, S. 106) sind die Tafeln des Genter Altars jetzt wieder zusammengefügt und in die Kirche Sankt Bavo zurückgekehrt. Diese Rückkehr und das Fest Allerheiligen sind Anlass, über die Innenseite dieses Retabels neu nachzudenken.

Zwölf Meisterwerke des Jan van Eyck: Die Innenseite des Genter Altars, der nach seiner Restaurierung jetzt wieder am angestammten Ort steht., Das Zentrum der unteren Hälfte zeigt unzählige Heilige, die vor dem Thron und dem Lamm versammelt sind. Von links ziehen gerechte Richter und Reiter, 		        von rechts heilige Einsiedler, Jungfrauen und Pilger zur Mitte hin, angeführt vom Riesen Christophorus.
Zwölf Meisterwerke des Jan van Eyck: Die Innenseite des Genter Altars, der nach seiner Restaurierung jetzt wieder am angestammten Ort steht., Das Zentrum der unteren Hälfte zeigt unzählige Heilige, die vor dem Thron und dem Lamm versammelt sind. Von links ziehen gerechte Richter und Reiter, von rechts heilige Einsiedler, Jungfrauen und Pilger zur Mitte hin, angeführt vom Riesen Christophorus.© Saint-Bavo’s Cathedral, www.artinflanders.be, photo Hugo Maertens, Dominique Provost, Foto: Saint-Bavo’s Cathedral, www.artinflanders.be, photo Hugo Maertens, Dominique Provost

Die Innenseite des Genter Altars, von der wir nicht wissen, an welchen Sonn- und Feiertagen sie ursprünglich zu sehen war, besteht aus zwölf Tafeln mit unterschiedlichen Maßen, die nicht ganz zusammenpassen. Das weist darauf hin, dass die Gesamtplanung im Zuge der Ausarbeitung geändert wurde, womöglich mehrmals. Wir betrachten heute die fünf Tafeln des unteren Registers jeweils von den Rändern zur Mitte, in der Ausgabe zum ersten Advent dann die sieben Tafeln des in der Hoheit des Vaters wiederkommenden Menschensohns.

Die fünf unteren Tafeln beziehen sich auf das Fest Allerheiligen, an dem die Kapitel 5 und 7 der Apokalypse als Lesungen vorgesehen sind. „Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und dem Lamm und trugen Palmzweige in den Händen“ (7,9).

Das Fest Allerheiligen wurde in der Ostkirche seit dem vierten Jahrhundert als Herrentag aller Heiligen am ersten Sonntag nach Pfingsten gefeiert. In Rom weihte Papst Bonifatius IV. an diesem Tag 609 den Rundtempel des Pantheon zur Kirche Sancta Maria ad Martyres. Papst Gregor III. weihte 732 zwei Allerheiligenkapellen, eine bei Sankt Peter und eine bei Sankt Paul vor den Mauern, die mit Ikonen und Reliquien reich ausgestattet waren. Dies war eine Demonstration gegen den oströmischen Kaiser Leon III., der die Verehrung von Ikonen im Bilderstreit bekämpfte. Im selben Jahr ernannte er Bonifatius zum Erzbischof mit dem Auftrag, die Kirche in Germanien neu zu organisieren und Bistümer zu gründen. Papst Gregor IV. (827–844) legte als Datum für das Allerheiligenfest den 1. November fest. Mit diesem Datum am Beginn des Nebelmonats gewann das Fest auf der Nordhalbkugel einen düsteren Charakter. Das seit 998 zuerst in Cluny begangene Gedenken aller Verstorbenen, das Allerseelenfest am 2. November, verdunkelte den österlichen Charakter des Allerheiligenfestes noch mehr, denn die meisten Gläubigen haben in ihrem Leben mehr Verstorbene kennengelernt als Heilige.

Der heitere hellblaue Himmel der Tafeln hat nichts von nebliger Novemberstimmung. Es herrscht ein klares gleichmäßiges Sonnenlicht. In einer hügeligen Landschaft, überwiegend bewaldet, teilweise auch felsig, über der Kirchtürme und eine Stadt in den hellen Himmel ragen, ziehen von rechts Pilger zur Mitte. Ihnen voran geht der Riese Christophorus im roten Mantel. Siebzehn nur zum Teil sichtbare Köpfe deuten eine unübersehbare Menge an, die mit ihm wandert. Einer davon wird der heilige Jodok (Jost, Josse), der Namenspatron des Stifters, Jodok Vijd, sein. Ein Pilger trägt an der Kapuze die Jakobsmuschel. Im Hintergrund sind vier Frauen zu unterscheiden, zwei verheiratete mit dunklen Kopftüchern und zwei Jungfrauen mit offenen Haaren. Eine, die äußerste rechts, lächelt, alle anderen wirken sehr ernst. Im Hintergrund deuten eine Dattelpalme, eine Zypresse, Orangenbäume und ein Blick auf das Meer südliche Gegenden an, wie sie Jan van Eyck auf seiner diplomatischen Reise nach Portugal 1428/29 gesehen hat.

Die Tafel ganz links wurde 1934 gestohlen und ist durch eine gute Kopie ersetzt. Sie zeigt gerechte Richter, die hoch zu Ross vor einer Felsenwand zur Mitte reiten. Sie sind prächtig, zum Teil exotisch, zum Teil modisch, gekleidet mit Pelzmützen, Sendelbinden (Kapuzen), Turbanen. Pilger und Richter weisen auf den Namen und den Stand des Stifters, der zum Magistrat der Stadt Gent gehörte.

Heilige Einsiedler und Ritter

Die zweite Tafel rechts versammelt heilige Einsiedler. Hinter den zehn bärtigen, erdfarben gekleideten Eremiten sind zwei buntgekleidete Jungfrauen zu erkennen, eine ist durch das Salbgefäß in ihrer Hand als Maria Magdalena gekennzeichnet. Die zweite könnte ihre Schwester Martha oder Maria Ägyptiaca sein. Von allen dreien erzählt die Legende, dass sie viele Jahre als Einsiedlerinnen gelebt haben. Zwei der Einsiedler ganz vorne, vermutlich die Wüstenväter Antonius und Paulus, tragen lange dunkle Gebetsschnüre, die ältere Form des Rosenkranzes.

Ihnen gegenüber reiten neun heilige Ritter. Das braune Pferd des ersten neigt seinen Kopf und scharrt mit dem linken Vorderhuf am Boden. Dadurch wird der Schimmel neben ihm in seinem stolzen Schritt mit erhobenem Kopf gut sichtbar. Er trägt den heiligen Georg, den wir am Schild mit dem roten Kreuz, dem Wappen von Genua, England, der Georgiritter und des Roten Kreuzes erkennen. So viele Menschen bei gleichartiger Tätigkeit, beim Reiten, Gehen, Beten darzustellen, fordert vom Maler Phantasie und strenge Planung. Das verschiedene Verhalten der Pferde ist künstlerisch ein Mittel, Wiederholungen, starre Reihung und Symmetrie zu vermeiden.

Das gilt auch für die Mitteltafel, auf der unzählige Heilige vor dem Thron und dem Lamm versammelt sind. Sie sind in vier Gruppen aufgeteilt: links vorne die Schar der Patriarchen und Propheten. Die vordersten knien und halten aufgeschlagene Bücher mit reichem Buchschmuck, rechts zwölf weißgekleidete Apostel, ebenfalls kniend. Propheten und Apostel sind als gleichberechtigte Gruppen aufgefasst, die Apostel mit dem Vorzug, rechts zu knien, die Propheten durch ihre exotische bunte Kleidung aber malerisch bevorzugt. Hinter den Aposteln stehen drei Päpste, sieben Bischöfe mit prachtvollen Mitren, zwei Diakone, ein Fürst mit Hermelinkrone und viele andere. Von den Diakonen hält einer in seiner geschürzten Dalmatik(?) Steine, die an das Martyrium des Stephanus erinnern (vgl. Apg 7,59).

Links oben wiederum führen drei weitere Päpste, zwei Kardinäle und neun Bischöfe zwischen Laubbäumen und Rosensträuchern eine große Schar von Klerikern zur Mitte. Ihnen kommen von rechts unzählige Jungfrauen entgegen. In der ersten Reihe sind die Heiligen Agnes, Barbara und Dorothea an ihren Attributen Lamm, Turm und Blumenkorb zu erkennen. Alle halten wie die Kleriker gegenüber Palmzweige in den Händen. Damit folgen sie der Schilderung in der Offenbarung des Johannes, aber sie haben ihre Kleider nicht „im Blute des Lammes weißgewaschen“ (Apk 7,14), sondern sind in festlicher Buntheit gekleidet. Weiß erscheinen in dieser Mitteltafel nur die Apostel und die Engel, die aber das asketische Weiß durch die Farbenpracht ihrer Flügel konterkarieren können. Die Engel schwenken Weihrauchfässer, beten und halten das Kreuz, die Dornenkrone, die Lanze, den Ysopstengel mit dem Schwamm voll Essig und die Geißelsäule, die Werkzeuge des Leidens Jesu. In der Mittelachse steht unten der Lebensbrunnen (Apk 21,6; 22,1), darüber ein Altar mit rotem Antependium, auf dem wir in Goldbuchstaben lesen können: ECCE AGNUS DEI QUI TOLLIT PECCATA MUNDI und JHESUS VIA VERITAS VITA (Joh 1,29; 14,6).

Auf dem Altar steht das Lamm. Aus seiner Brust ergießt sich ein Strahl Blut in einen Kelch. Ein Strahlennimbus in Kreuzform zeichnet es aus. In einem blau-gelben Halbkreis, von dem goldene Strahlen ausgehen, schwebt ganz oben die weiße Taube des Heiligen Geistes (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,22).

Die Bilderzählung folgt weitgehend der Vision in der Offenbarung des Johannes (Apk 7,9–27), doch sind nicht alle Wortbilder ausgemalt. Es fehlen die sieben Hörner und sieben Augen des Lammes (Apk 5,6). Das Blut des Lammes dient nicht dem Weißwaschen der Gewänder, sondern wird als Blut des neuen Bundes (Mt 26,27; Mk 14,24; Lk 22,19) im Kelch auf dem Altar gezeigt. Ein eucharistischer Aspekt überlagert den apokalyptischen. Das Lamm steht keinesfalls da „wie geschlachtet“, sondern aufrecht und stolz. Erst in der Malerei nach 1945 hat Rudolf Büder ein zusammenbrechendes blutendes Lamm gemalt, das dann von Franz Nagel und seinen Schülern in viele Kirchen übernommen wurde. Im Barock erschien das apokalyptische Lamm schlafend auf einem Buch mit sieben Siegeln oder als Schmusetier für Englein. Davon ist der feierliche Ernst dieses Lammes weit entfernt.

Die Welt als Paradies

Die Gesichte der Apokalypse erscheinen am Himmel, nur in der letzten Vision im Kapitel 21 wird ein Ort ausführlich beschrieben, das himmlische Jerusalem, die Stadt erbaut aus Gold und Edelstein. Van Eyck zeigt den Himmel als Garten, als paradiesische Landschaft voller Bäume, Blüten und Früchte. Das ist gut biblisch begründet, denn Jesus hat am Kreuz dem reumütigen Räuber, dem heiligen Dismas, versprochen: „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Der Maler musste das nicht aus der Katechese wissen, denn Gärten hatten als Himmelsbilder eine lange Tradition, angefangen in frühchristlichen Kirchen (Sant’Apollinare in Classe, Ravenna), in den Blumenranken spätgotischer Gewölbe und in Andachtsbildern wie dem Frankfurter Paradiesgärtlein. Doch van Eyck verzichtet auf die umschließenden Mauern, er malt die Welt als Paradies.

Die Offenbarung des Johannes wurde von einem kleinasiatischen Autor als Brief der Ermutigung und des Trostes für Christen in der Verfolgung des Nero, um 69, oder wahrscheinlicher des Domitian, um 96 bzw. des Trajan um 112, geschrieben. Seit dem Mittelalter wurde sie wegen der Sterne, die vom Himmel fallen, der apokalyptischen Reiter, der Drachenkämpfe und des ewigen Feuersees als Buch der Drohung verstanden. So hat sie Albrecht Dürer für den Holzschnitt gezeichnet und so erscheint sie im Film „Apocalypse now“ von Francis Ford Coppola, wo amerikanische Kampfhubschrauber von den Walküren aus Richard Wagners Götterdämmerung begleitet werden.

Im Genter Altar ist von Bedrohung nichts zu spüren. Die Versammlung aller Heiligen um das eucharistische Lamm wirkt verheißungsvoll, friedlich. Die Heiligen sind nicht in erster Linie als Martyrer verstanden, wie in der Apokalypse und in den Anfängen des Allerheiligenkultes. Auch bei denen, die als Martyrer bekannt waren, den Aposteln, der heiligen Barbara, Agnes, Dorothea und den Heiligen Georg und Christoph, sind die Marterwerkzeuge nicht gemalt; nur Stephanus zeigt bescheiden seine Steine vor. Die Heilige zwischen Barbara und Dorothea ist als Katharina nur zu vermuten, weil zu ihrer Identifikation Rad und Schwert fehlen. Heilige sind nach van Eyck Kleriker und Laien, Pilger, Einsiedler, Herrscher, Magistraten, Frauen und Jungfrauen. Alle dürfen die Palme der Sieger tragen. Aber es ist kein sozialdemokratischer Himmel, eher ein bürgerlich kapitalistischer, denn die Gewänder der Reichen bilden mit Samt, Seide, Leinen, Leder, Goldschmuck und Edelsteinen mehr optische Reize als die der Armen und Asketen. Vor allem aber gehörte der Besteller und Stifter der ewigen Messe an diesem Altar zu den Reichen; er besaß Landgüter und wurde Bürgermeister von Gent. Der Himmel der van Eyck spiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse in Flandern unter den Herzögen von Burgund wider. Erfreulich ist aus der Sicht des Autors, dass in diesem Himmel viel mehr Laien Platz haben als in den kanonischen Heiligenverzeichnissen, die überwiegend Priestern und Ordensleuten vorbehalten sind.

Bei der Restaurierung seit 2012 wurden Übermalungen der letzten Jahrhunderte abgenommen. Die Tafeln erscheinen nun weniger gelblich und wesentlich präziser in den Details. Das Lamm wirkt zarter und heller, sein Gesicht mit rötlicher Schnauze und gelblichen, gerade auf die Betrachter gerichteten Augen hat eine Woge von Entrüstung in den „sozialen Medien“ ausgelöst. Seit langem war man gewöhnt, an seinem Kopf drei Ohren zu sehen, zwei aus Übermalungen und eines vom Original, das man aus Zeitmangel 1954 nicht ganz freigelegt hatte. Um die Restaurierung endgültig zu beurteilen, wird man die Veröffentlichung eines ausführlichen Berichts abwarten müssen. Doch vom Augenschein her hat sie die Allerheiligentafel dem, was wir von der Malweise Jan van Eycks wissen, wesentlich angenähert.

Wer hat das gemalt?

Ein kunsthistorisches Problem ist der Anteil der Maler Hubert und Jan van Eyck am vollendeten Werk. In den vorderen Propheten, bei den Aposteln und auch bei einem der Pilger sehen wir Profile von Gesichtern, die in die Fläche gepresst wirken, die meisten anderen Gesichter sind mit leichten Drehungen plastisch im Raum gesehen. Auch bei den Falten der Gewänder gibt es welche, die wie auf den Boden gebügelt erscheinen, und andere, die das plastische Volumen der in ihnen steckenden Körper voll ausmalen. Die Wiese im Vordergrund erscheint wie in die Malfläche geklappt, nur im Hintergrund entfalten sich Raumzonen. Von der Maloberfläche her aber ist alles von „einer Hand“. Jan van Eyck hat mit seiner Werkstatt alle Tafeln vollendet, und auch den von einem älteren Meister angelegten Partien ihren farbigen Glanz verliehen.

Wegen der Corona-Pandemie wurde die Eröffnung des neuen Besucherzentrums an der Kathedrale Sankt Bavo auf Frühjahr 2021 verschoben und das Van-Eyck-Jahr der Stadt Gent bis Johanni, 24. Juni 2021 verlängert.

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