Gottes falsche Wahl

Leopold von Ranke nannte ihn die „erste tragische Figur in der Welthistorie“. Händel schuf um diese Gestalt herum eines seiner größten Oratorien. Nun widmet sich auch der Dramatiker Botho Strauß dem biblischen König Saul. „Der erste König meines Volks war ich“, sagt Saul hier kurz vor seinem Tod, „Gottes falsche Wahl“.

Um das Rätsel dieser falschen Wahl kreist das Drama, das Strauß, im Gegensatz zu Händel und seinem Librettisten Jennens, als Kammerspiel inszeniert. Im Mittelpunkt steht das Trio Saul, Jonathan und David: Saul als Herrscher ohne Fortune, Jonathan als sein Sohn und David als der strahlende Emporkömmling. Dazu treten mit Samuel und der Hexe von Endor zwei Figuren, die mit der Sphäre des Göttlichen kommunizieren. Der Seher Samuel ist dabei traditionell gezeichnet. Dagegen wird die in der Bibel negativ besetzte Frau von Endor bei Strauß gründlich entdämonisiert. In einem Klagepsalm erhebt er sie zur zweiten Stimme Sauls und gibt ihr später auch das letzte Wort.

Worin besteht die Tragik Sauls? Wie Bibelleser wissen, steht sein Königtum von Beginn an unter einem unglücklichen Stern. Das Rätsel der falschen Wahl kann auch Strauß nicht lösen. Denn aus heutiger Sicht erscheint Sauls Ungehorsam gegen Gottes Willen durchaus plausibel und sogar humanistisch motiviert: Dass er von Gott verworfen wird, weil er den besiegten Gegner schont, sich weigert, die Stadt der Feinde vollständig auszulöschen, bleibt ein Stein des Anstoßes.

Als König übernimmt Saul eine Rolle, die es eigentlich gar nicht hätte geben sollen, und zerbricht an einer Aufgabe, der er nicht gewachsen ist. Als ihm mit David ein Konkurrent entsteht, verfällt er in Jähzorn und Melancholie. In hellen Momenten erkennt er selbst seine innere Zerrüttung. „Ich werde bald nicht mehr sagen können, wer ich bin und was mit mir geschieht“, lässt Strauß ihn sagen. „Die Wüste steigt mir in den Schädel. Hinter der Stirn nichts als Staub und Geröll.“

In einem Netz aus Dialogen arbeitet Strauß das dramatische Potential des Stoffs heraus. Er glättet nicht und lässt innere Widersprüche stehen. Im Unterschied zu André Gides verfremdender Deutung von 1903 hält sich Strauß eng an die biblische Vorlage und lehnt sich auch dort, wo er selbst zur Feder greift, an die poetische Diktion Luthers an. Was ihm überzeugend gelingt.

Der Text, dies muss einschränkend gesagt werden, ist als Opernlibretto gedacht. Durch die Erkrankung des Komponisten Wolfgang Rihm kam das Projekt, mit dem 2017 die Berliner Staatsoper wieder eröffnet werden sollte, bis jetzt noch nicht zustande, und eine Aufführung ist derzeit nicht absehbar. Zum 75. Geburtstag von Botho Strauß am 2. Dezember hat der Verlag das Stück samt Materialien nun veröffentlicht. Es bleibt zu wünschen, dass das Drama tatsächlich einmal auf der Opernbühne verwirklicht werden kann. Denn um seine volle Wirkung zu entfalten, fehlt dem knappen und archaisch anmutenden Text, wie Strauß selbst anmerkt, noch eine Brechung durch die Sprache zeitgenössischer Musik.

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Strauß, Botho

Saul

(Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, 96 S., 20 €)

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