Der Schauspieler und Schriftsteller Peter Radtke ist gestorbenNicht vor der Behinderung fliehen

Er war einer der wichtigsten Kämpfer für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Jetzt ist der Literaturwissenschaftler, Schauspieler und Schriftsteller Peter Radtke im Alter von 77 Jahren gestorben. Radtke litt selbst an der Erbkrankheit „Osteogenesis imperfecta“, die umgangssprachlich auch als „Glasknochenkrankheit“ bezeichnet wird – und war seit einigen Jahren auf ein Beatmungsgerät angewiesen.

Wo immer er über sein bewegtes Leben im permanenten Ausnahmezustand erzählte, konnte man einem Mann begegnen, auf den der paulinische Satz von der Kraft in der Schwachheit unmittelbar zutraf. In seinem Rollstuhl sitzend erzählte Peter Radtke dann von seinen vielen Leben – dabei niemals larmoyant.

Auf der Startseite seiner Homepage findet sich das Zitat des brasilianischen Erzbischofs und Befreiungstheologen Helder Camara als Motto seines Lebens: „Sage ja zu den Überraschungen, die deine Pläne durchkreuzen, deine Träume zunichtemachen, deinem Tag eine ganz andere Richtung geben, ja, vielleicht deinem Leben. Sie sind kein Zufall.“ Dieser Satz bringt seine zupackende Lebenseinstellung zum Ausdruck: In eine Zeit hineingeboren, in der der Ungeist des Nationalsozialismus behinderte Menschen als „lebensunwert“ deklariert hatte und viele in Hadamar, Sonnenstein oder Grafeneck ermordet wurden, konnte Radtke nur dank seiner widerständig-mutigen Mutter überleben. Seine Volksschuljahre absolvierte er überwiegend im Rahmen von Privatunterricht. 1957 bis 1961 erhielt er eine Dolmetscherausbildung in Englisch, Französisch und Spanisch, die 1963 die Grundlage für den Erwerb des „Certificate in American Culture and Civilization“ der University of Pennsylvania war. Nach seinem Abitur folgten von 1968 bis 1976 Studien der Germanistik und Romanistik an den Universitäten Regensburg und Genf, die er mit einer Promotion abschloss. Radtke war in dieser Zeit Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 1974 heiratete er die Münchner Grundschullehrerin Gertraud Spanner, mit der er bis zu seinem Tod verheiratet war.

Die gesellschaftlichen Aufbrüche in den Siebzigerjahren, die den Gedanken der Rehabilitation und Integration von Menschen mit Behinderungen überhaupt erst haben wirksam werden lassen, eröffneten 1977 Radtke eine Anstellung an der Münchner Volkshochschule als Fachgebietsleiter für das sogenannte „Behindertenprogramm“. 1984 gründete er die „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien e. V“, der er bis 2008 als Geschäftsführer vorstand. 2003 folgte seine Wahl in den Nationalen Ethikrat und 2008 in den Deutschen Ethikrat, dem er bis 2016 als Mitglied angehörte. In dieser Eigenschaft verstand er sich als Brückenbauer zwischen Menschen mit und ohne Behinderung und als Vorkämpfer für gesellschaftliche Teilhabe beziehungsweise Inklusion. Kritisch äußerte er sich immer wieder zu den gesellschaftlichen Auswirkungen von vorgeburtlicher Gendiagnostik. Von 1994 bis 2001 war er Präsident der europäischen Vereinigung zur Förderung von Kreativität und Kunst behinderter Menschen.

Peter Radtke war auch ein Ausnahmekünstler: Ohne Schauspielausbildung feierte er Erfolge auf den großen deutschsprachigen Bühnen in München, Wien und Zürich mit Regiegrößen wie George Tabori, Franz Xaver Kroetz und Karin Henkel – als Willie in Samuel Becketts „Glückliche Tage“ oder als „Großinquisitor“ in Friedrich Schillers „Don Karlos“.

Auf die Frage, ob er sich als Christ bezeichnen würde, sagte Radtke in einem seiner letzten Interviews, dass sich Gott oder die Schöpferkraft, an die er glaube, nicht nur in einer Konfession oder in einer Religion wiederfinde: „Ja, ich bin Christ in dem Sinne, dass ich als Christ geboren wurde. Aber wie Er unsere Zukunft gestaltet oder ob wir in dieses schwarze Loch gesogen werden, darüber will ich nicht spekulieren. Ich glaube nicht, dass nach dem Tod Schluss ist.“

Peter Radtke hat durch sein beeindruckendes Leben ein Hoffnungsbild hinterlassen. Er zitierte in diesem Zusammenhang immer gern Václav Havel: „Hoffnung heißt nicht, dass alles gut ausgeht, sondern dass alles, was ausgeht, gut ist.“ Wir sollten, so zeigt sein Leben, nicht zu klein von uns denken. Martin W. Ramb

Martin W. Ramb leitet die Abteilung Religionspädagogik, Medien und Kultur im Bistum Limburg und ist Chefredakteur der Zeitschrift „Eulenfisch“.

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