Verehrter Papa emeritus!

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat einen Aufsatz zur Missbrauchskrise der Kirche verfasst, mit dem er zu „einem neuen Aufbruch“ beitragen will. Der Text hat massive Kritik ausgelöst. Es bleiben Fragen, die an den Autor direkt gestellt werden müssen.

Aufschrift
© KNA

Hochverehrter Papa emeritus, vor einigen Wochen habe ich meinen Vater zu Grabe getragen. Das Seelenamt fand in einer kleinen Kirche in seinem Heimatort statt. Dort wurde er getauft, dort hat er ministriert, dort stand nun sein Sarg. Ich durfte am Ambo stehen und mit dem Priester „predigen“. Für meinen Vater als Kind, er war Jahrgang 1932, wäre das unvorstellbar gewesen. Als Kind hatte der Pfarrer ihm eingebläut, er solle nicht so viel nachdenken, das gefährde den Glauben. Vor dem Frühstück hat er sonntags in der Messe „gedient“, ohne ein Wort zu verstehen. „Das reicht fürs ganze Leben“, hat er gesagt. Mein Vater ging nach Münster, entdeckte Romano Guardini, hörte Josef Pieper. Er war kein Theologe, aber zeitlebens theologisch interessiert. Er hat seinen Glauben gerettet. „Du musst nachdenken, damit Du Deinen Glauben behältst“, das hat er mich gelehrt, das war sein Vermächtnis. Ich habe, so darf ich sagen, in Ihnen, verehrter Papa emeritus, als Josef Ratzinger und Papst Benedikt doch immer einen Gewährsmann für dieses Vermächtnis gesehen. Die Versöhnung von Glaube und Vernunft.

Mein Vater war und blieb skeptischer im Bezug auf die sogenannte konservative Theologie und auch die „Amtskirche“ als ich. Ich habe Sie immer wieder verteidigt, nicht in allen Punkten, ohne mich gänzlich zu identifizieren, nicht pauschal, aber doch in Vielem. Ich war bei der Regensburger Rede im Saal, ich bin im Freiburger Konzertsaal nach Ihrem Vortrag keineswegs in Alarmgeschrei verfallen. Ich habe im Bundestag von der Tribüne aus Ihr Wort vom „hörenden Herzen“ vernommen. Mein großes Anliegen: zuhören, auf Argumente hören, nicht in bloßen Grabenkämpfen verharren, die Wahrheit suchen, den Gottglauben voranstellen, „vorsetzen“, wie Sie es mit Hans Urs von Balthasar formulieren. Doch nun fühle ich mich verlassen. Nach dem Lesen Ihres Textes aus dem „Klerusblatt“ bleibe ich ratlos zurück und erlaube mir deswegen, diese ungewöhnliche Form zu wählen und mich mit meinen Fragen an Sie zu wenden.

Am meisten erschüttert mich diese Legende von der linearen Verfallsgeschichte des Glaubens. Als ob alles immer schlimmer und schlechter würde. „Die Selbstverständlichkeit, mit der mancherorts einfach die Anwesenden auch das heilige Sakrament empfangen, zeigt, dass man in der Kommunion nur noch eine zeremonielle Geste sieht.“ Ihre beklagende Beschreibung müsste doch eigentlich auf die Fünfzigerjahre gemünzt sein. Damals war die Zeit der Selbstverständlichkeiten, die aber doch längst vorbei ist. Meine Münsteraner Großmutter, von der ich viel über den Glauben gelernt habe, hat mir von ihrer „Schott-Frömmigkeit“ der Zwanzigerjahre berichtet, von einem Volksaltar, den sie in Leipzig fand, von der Liturgischen Bewegung als einem Aufbruch im Glauben. Sie hat als fromme Frau doch gerade an den volkskirchlichen und klerikalen Erstarrungen der Fünfzigerjahre gelitten.

Sie beklagen heute einen Routine-Katholizismus, der die „Größe der Gabe“ nicht einzuschätzen vermag. Meinen Sie im Ernst, dass diese heute vermisste Ehrfurcht in einem bayrischen Katholizismus Ihrer Kindheit und Jugend im Kern bei der breiten Bevölkerung größer war? Vielmehr war durch Tradition und Gewohnheit alles geregelt und keiner musste sich um seinen Glauben kümmern, weil er so selbstverständlich und unabänderlich wie die Abfolge der Jahreszeiten war. Wenn ich heute mit meinen Kindern in Berlin am Sonntag in die Messe gehe, ist das völlig ungewöhnlich und unerwartbar. Ein Katholizismus ohne Routine und Selbstverständlichkeit. Der Katholizismus in Bayern und im Münsterland war für viele früher im Kern oft Mitläufertum. Das ist er für meine Kinder nie, ihr Katholizismus ist immer Entscheidung, jeden Tag neu. Es ist deswegen so falsch und traurig, diese „alte Zeit“ so zu verherrlichen und die heutige Zeit derart schwarz zu zeichnen. Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle Eltern, die heute ihre Kinder im Glauben zu erziehen versuchen. Oder um es mit Bischof Joachim Wanke zu sagen, unsere Welt wird nicht weniger christlich, sondern biblischer. Unsere Zeit erinnert mehr an die Zeit der frühen Christen als die Zeit der Fünfzigerjahre, die manche offenbar zurücksehnen.

Das Problem von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch im Raum der Kirche ist gewiss kein isoliert zu betrachtendes Problem. Es gab und gibt – wie immer wieder gesagt wird – ähnliche Phänomene auch in Schulen, Sportvereinen und vor allem der Familie. In der Tat hat die Debatte um Vorgänge in der Kirche eine gewisse Stellvertreterfunktion für die ganze Gesellschaft. Was allerdings die Schwere der Schuld in den konkreten Fällen weder mindert noch Fehlverhalten entschuldigt. Schon an dem von Ihnen beschriebenen konkreten Fall wird ja deutlich, dass zu der seelischen und körperlichen Verletzung der Ministrantin durch den Priester die Zerstörung des Gottvertrauens hinzukommt. Die Frau, mit der Sie gesprochen haben, könne die Wandlungsworte nur noch unter Qualen vernehmen, schreiben Sie. Doch ist der Satz, den Sie als Konsequenz ziehen, nicht zumindest missverständlich? Man müsse nämlich „alles tun“, um die Eucharistie vor Missbrauch zu schützen. Was mich so ratlos macht nach der Lektüre Ihres Textes, dass er an entscheidenden Stellen ins Uneindeutige flieht.

Mehr Anklage als Selbstanklage

Sie haben doch durchaus Recht mit der Glaubenskrise, Sie haben doch Recht mit der Gottvergessenheit, aber bitte, warum beklagen Sie nicht einmal die Glaubenskrise, die Gottvergessenheit, die teuflische Verdorbenheit eines Theodore McCarrick, eines Hans Hermann Groër, eines Marcial Maciel? Und warum ist es so schwer, wenn vom Bösen die Rede ist, auch die eigene Sündhaftigkeit zu bekennen. Sie schreiben: „Die Idee von einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels.“ Das mag ja richtig sein. Aber es klingt doch mehr wie eine Anklage als wie eine Selbstanklage. Wer direkt oder indirekt mit dem Fall Groër zu tun hatte, muss sich doch über die eigene Schuld Gedanken machen, weil er daran beteiligt gewesen sein könnte, das Zeugnis des Auferstandenen zu verdunkeln. Warum kein Wort dazu? Nur die Achtundsechziger?

Hingegen setzen Sie sich mit dem Moraltheologen Franz Böckle auseinander. Was auch immer Böckle zu sexualmoralischen Fragen geäußert hat oder äußern wollte, er verdient post mortem Achtung und Respekt, denn Verfehlungen und Sünden sind von ihm nicht bekannt. Er hatte angekündigt, sich gegen die Position von Papst Johannes Paul II. wenden zu wollen, wenn dieser sie in einer Enzyklika festschreiben sollte. „Der gütige Gott hat ihm die Ausführung dieses Entschlusses erspart“, schreiben Sie mit Blick auf Böckles Tod 1991. Er konnte somit nicht mehr gegen die Enzyklika „Veritatis splendor“, die 1993 erschienen war, protestieren, wie er es ankündigt hatte. Sie sind nun offenbar dankbar, dass er dazu keine Gelegenheit mehr hatte. Ich glaube, dass Häme beichtfähig wäre, und hoffe, dass irgendjemand diese Passage in Ihren Text hineingeschmuggelt hat. Es muss hart debattiert werden, aber ich werde immer versuchen mich dagegenzustellen, wenn abfällig und herabwürdigend über Menschen, auch über Sie verehrter Papa emeritus, geschrieben wird.

Die Fragen der Sexualmoral begleiten meinen Weg mit der Kirche, meinen Glaubensweg begleiten sie eigentlich nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig, es wird oft geschrieben, die Sexualmoral sei nicht „lebbar“, das scheint mir eine unglückliche Formulierung. Auch würde ich Ihnen gerne zustimmen bei der Analyse, dass es falsch ist, „keine Normen“ zuzulassen. Auch teile ich Ihre differenzierte Beschreibung eines „Minimum morale, das mit der Grundentscheidung des Glaubens unlöslich verknüpft ist“. Aber wollen Sie etwa einem Eberhard Schockenhoff völlig absprechen, sich um die Formulierung einer „biblischen Moral“ zu bemühen? Dass die Kategorie der Verantwortung keineswegs Beliebigkeit bedeutet, kommt bei Ihnen nicht vor. Auch ist interessant, dass sich das päpstliche Lehramt in 2000 Jahren die längste Zeit zum sechsten Gebot gerade nicht geäußert hat.

Was ich aber überhaupt nicht verstehe, ist, dass Sie nun auch die Missbrauchskrise in eine Verbindung bringen mit der Debatte um die Sexualmoral. Die Kirche hat nun gerade im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Gruppen Pädophilie nie akzeptiert oder in die Nähe des Legalen gerückt. Nun zu meinen, die Kirche habe sich vom gesellschaftlichen Mainstream infizieren lassen und müsse sich nun wieder rein machen, ist doch weder empirisch noch intuitiv einleuchtend. Zumindest war mir nicht bekannt, dass Groër ein Vorkämpfer sexueller Befreiung war. Zudem lässt es mich fassungslos zurück, Aufklärungsunterricht und jedwede sexuelle Emanzipation generell in einen monokausalen Bezug zu Missbrauch und Pädophilie zu stellen. Es gibt Akteure, die ziehen den genau umgekehrten Schluss (Zölibat führt zu Missbrauch), auch das ist natürlich zu kurz gegriffen.

Aber bitte erklären Sie mir doch noch mal die Szene aus dem bayrischen Priesterseminar, die Sie beschreiben und die Sie so erschreckt hat. „Bei den gemeinsamen Mahlzeiten waren Seminaristen, verheiratete Pastoralreferenten zum Teil mit Frau und Kind und vereinzelt Pastoralreferenten mit Freundinnen zusammen.“ Sie beklagen, dass hier also im Seminar unter einem Dach diese Menschen gemeinsamen leben. „Das Klima im Seminar konnte die Vorbereitung auf den Priesterberuf nicht unterstützen.“ Wieso um Himmels willen nicht? Wissen Sie eigentlich um die gallige Einsamkeit, unter der viele Priester leiden, oder gehört die zum Martyrium dazu?

Wie gesagt, ich möchte es verstehen, ich bin Journalist geworden aus Neugierde, nicht weil ich schon festgelegt wäre in meinen Positionen. Ich möchte klüger werden, auch in meinem Glauben wachsen. Aber ich brauche die Chance dazu und möchte nicht sofort verdächtigt werden.

Noch eine Frage zum Schluss: Warum sind Sie damals 1968 nicht in Tübingen geblieben, wie Hans Küng, warum haben Sie nicht an der Front für den Glauben gestritten und um die Wahrheit mitgerungen? Petrus ist auch nicht hinter die Mauern, ins bequeme Jerusalem zurückgekehrt, sondern erlitt das von Ihnen eingeforderte Martyrium im feindlichen Rom. Ihren Segen erbittend und mit den besten Segenswünschen verleibe ich in Hochachtung, Ihr Volker Resing. resing@herder.de

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