Was wir von dem großen reformierten Theologen heute lernen könnenKarl Barth für Katholiken

Kritiker der Nazis, Papstkenner, Visionär einer neuen Christologie: Der Protestant Karl Barth hat zeitlebens auch die katholische Theologie geprägt. 50 Jahre nach seinem Tod gäbe es gute Gründe, sich neu von ihm inspirieren zu lassen.

Karl Barth und Martin Niemöller
© KNA

Im Frühjahr 1968 trafen sich die Spitzen der in der Schweiz vertretenen Großkirchen zu einem gemeinsamen Besinnungstag. Reformierte, römisch- und christkatholische Leitungskräfte kamen in der Nähe von Basel zusammen, um über das Thema „Kirche in Erneuerung“ nachzudenken. Karl Barth (1886–1968), selbst reformierten Bekenntnisses, hielt eines der Referate. Er griff einen der eigenen konfessionellen Tradition entlehnten Leitsatz auf: ecclesia semper reformanda. Wie Barth ausführte, bedarf die Kirche immer der Erneuerung. Damit ist keineswegs gemeint, sich bloß an eine neue Zeit anzupassen, weil die Umstände dies unvermeidlich machen. Vielmehr geht es darum, sich in dauernder Umkehr dem in der Bibel bezeugten Gott zuzuwenden. Indem die Kirche diesem lebendigen Gott entspricht, wird sie erneuert. Ansonsten verfehlt sie sich selbst. Ausdrücklich ging Barth in seinem Referat auf das Zweite Vatikanische Konzil ein, das er als ermutigendes Signal wahrnahm, als Anfang eines Weges in die Zukunft.

Derzeit, anlässlich des 50. Todestags von Karl Barth, finden vielerorts gemeindliche Veranstaltungen und universitäre Tagungen statt, bei denen Barth ebenso als Person wie als Denker gewürdigt wird. Jüngst sind außerdem zwei lesenswerte Bücher erschienen, nämlich Michael Weinrichs „Karl Barth. Leben – Werk ‒ Wirkung“ (Göttingen 2018) und Christiane Tietz’ „Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch“ (München 2018). Hinzu kommt, dass unter dem Leitwort „Gott trifft Mensch“ von evangelischer Seite in Deutschland und der Schweiz ein Karl-Barth-Jahr ausgerichtet wird (www.karl-barth-jahr.eu). Mag das Interesse vor allem bei Protestanten groß sein, lohnt sich aber auch für Katholiken die Beschäftigung mit ihm. Von Interesse ist zum einen Barths Ansatz, Theologie als Christologie zu betreiben; zum anderen sein ausgeprägtes, theologisch begründetes politisches Bewusstsein; schließlich die Bedeutung persönlicher Begegnung für ein ökumenisches Miteinander.

Die Programmschrift zur Dialektischen Theologie

Weite Bekanntheit erlangte Barth, der damals Pfarrer einer industriell geprägten Landgemeinde im Kanton Aargau war, als er den „Römerbrief“ vorlegte. Eine erste Fassung erschien bald nach dem Ersten Weltkrieg; eine zweite, grundlegend überarbeitete datiert aus dem Jahr 1922. Insbesondere letztere wurde als Kampfansage an die vorherrschende Theologie wahrgenommen, die sich an Vorgaben der Aufklärung wie Subjektivität und Geschichtlichkeit orientierte. Barths Gegenthese: Soll zutreffend von Gott gesprochen werden, ist nicht vom Menschen mit seiner Religion auszugehen. Vielmehr muss man bei Gott in seiner untrennbar mit Jesus Christus verbundenen Offenbarung ansetzen. So wurde der „Römerbrief“ zur Programmschrift einer lose gefügten Arbeits- und Interessengemeinschaft, die erheblichen Einfluss gewinnen sollte: der Dialektischen Theologie.

Da bloßer Protest zu wenig war, begann Barth damit, einen eigenen systematischen Entwurf auszuarbeiten. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch seinen Wechsel vom Pfarramt in die Wissenschaft. Anfangs Professor an der Universität Göttingen, lehrte und forschte er dann in Münster, schließlich in Bonn. Dem nationalsozialistischen Regime ein Dorn im Auge, verließ er 1935 gezwungenermaßen das Deutsche Reich und wechselte an die Universität Basel. Bis ins hohe Alter beschäftigte ihn die „Kirchliche Dogmatik“: Sein bis heute stark beachtetes Hauptwerk mag monumental sein, ist aber keineswegs monolithisch. Barth setzte nämlich wiederholt neu an, um die Offenbarung immer besser zu beschreiben.

Leitend war ihm dabei die Überzeugung, Theologie konsequent als Christologie zu betreiben. Was und wer Gott ist, muss demnach an Jesus Christus abgelesen werden. Denn in ihm, seinem Leben und Sterben, erweist sich Gott als dem Menschen zugewandt. Beinahe schon meditativ, in immer neuen Wendungen, wird in der „Kirchlichen Dogmatik“ die ganz einmalige, personhafte Verbindung von Gott und Mensch zum Ausdruck gebracht.

Um bloß abstrakt-folgenlose Überlegungen handelt es sich dabei nicht. Ist diese Verbindung allein in Jesus Christus gegeben, dann hat das Konsequenzen für die kirchliche Praxis. Ein Beispiel dafür ist die Taufe. Sie verliert ihren Charakter als heilsentscheidendes Sakrament, denn das einzige Sakrament, das es gibt, ist Jesus Christus. Bei der Taufe kann es sich lediglich um einen Akt der Bezeugung handeln, durch den der Wille bekundet wird, mit Jesus Christus zu leben. Grundform ist daher die Erwachsenentaufe. In den westdeutschen Landeskirchen führte dies zu massiven Auseinandersetzungen. Zumal auf lutherischer Seite stieß die in der „Kirchlichen Dogmatik“ entfaltete Tauflehre auf Widerspruch.

Inzwischen mag das Thema seine Dringlichkeit verloren haben. Vielleicht besitzt das Programm, Theologie als Christologie anzulegen, aber in anderer Hinsicht Aktualität, nämlich aufgrund des Phänomens religiöser Indifferenz. Gemeint ist das faktische Nicht-Verhältnis vieler Zeitgenossen zur Gottesfrage, ja zur Transzendenz überhaupt. Nur noch 40 Prozent der Bundesbürger glauben an ein höheres Wesen, das für uns da sein will. Angesichts steigender Indifferenz bedarf die oftmals stillschweigende Annahme, dass der Mensch stets nach einem höheren Sinn für sein Leben suche und sich selbst eine Frage sei, auf die das Christentum die passgenaue Antwort biete, kritischer Prüfung. In dieser Situation könnte Barths Überzeugung, dass nur an Jesus Christus abgelesen werden kann, was und wer Gott ist, neue Plausibilität gewinnen. Es geht darum, Theologie und Kirche Möglichkeiten zu eröffnen, trotz schwindender Selbstverständlichkeiten ihrem jeweiligen Auftrag nachzukommen, also die Botschaft von Gottes befreiender Gnade überzeugend zu denken und zu verkündigen. Ob oder inwieweit die „Kirchliche Dogmatik“ dabei helfen kann, lohnt wenigstens diskutiert zu werden.

Themen wie die Migration, die Zukunft der Europäischen Union oder der Klimaschutz werden momentan heftig diskutiert, ja sie spalten und polarisieren die Bevölkerung. Mitunter droht das demokratische Miteinander Schaden zu nehmen. In dieser Situation dürfen Theologie und Kirche nicht untätig bleiben, sondern müssen sich engagiert zu Wort melden. Zumindest würde Barth genau dies einfordern. Seiner Auffassung nach soll der Theologe in der einen Hand die Bibel, in der anderen die Tageszeitung halten. Ohne eine aufmerksame Wahrnehmung der Gegenwart lässt sich nämlich nicht zutreffend von demjenigen Gott sprechen, um den es im Christentum geht. Denn wie der Blick auf Jesus Christus zeigt, hat sich dieser Gott bleibend zugunsten des Menschen engagiert. Insofern eignet Theologie und Kirche unweigerlich eine politische Dimension.

Bereits als Pfarrer wirkte Barth in diesem Sinne. Er suchte den Kontakt zum örtlichen Arbeiterverein, trat schließlich in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ein. Schwer enttäuschte ihn allerdings, dass der Sozialismus, der sich ansonsten revolutionär gab, dem Ersten Weltkrieg keinen Einhalt gebot. Ungeachtet aller Rede von internationaler Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse stellten sich die Arbeiterparteien beinahe überall hinter die jeweiligen nationalen Regierungen. Dieses Versagen bewahrte Barth zeitlebens davor, das Reich Gottes, das sich inmitten der Welt verwirklicht, mit einer bestimmten politischen Richtung zu identifizieren. Ins Private zog er sich aber keineswegs zurück. Ganz im Gegenteil! Er war aus theologischen Gründen, was man heute wohl einen public oder political theologian nennen würde.

Im Jahr 1931 wurde Barth Mitglied der deutschen SPD. Für ihn war das ein klares Bekenntnis zu der in ihrem Bestand gefährdeten, von extremen Parteien bedrängten Weimarer Republik. Mit der NSDAP selbst hatte er zunächst keine Konflikte. Wohl geriet er mit den „Deutschen Christen“ aneinander, welche die evangelische Kirche im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie umgestalten wollten. Barth setzte sich hingegen für die oppositionelle „Bekennende Kirche“ ein, war auch Hauptverfasser der im Jahr 1934 verabschiedeten Barmer Theologischen Erklärung. Deren erste These lautet: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Entsprechend verwarf die Barmer Theologische Erklärung als Irrlehre, dass die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Offenbarung anerkennen könne und müsse.

Dies richtete sich gegen die Aufladung der „Machtergreifung“ zu einem Ereignis von heilsgeschichtlicher Bedeutung. Als sich Barth weigerte, den „Führereid“ abzulegen, kam es zu beamtenrechtlichen Auseinandersetzungen. Schließlich musste er das Deutsche Reich verlassen. Von der Schweiz aus setzte er sich für Verfolgte ein und rief ab 1938 zum Kampf gegen das NS-Regime auf – zeitweise zum Ärger der Schweizer Bundesbehörden, die ihre „integrale Neutralität“ während des Zweiten Weltkriegs bedroht sahen.

Während er dem Nationalsozialismus von Anfang an entschieden entgegentrat, ist sein Verhältnis zum Kommunismus bis heute umstritten und nicht frei von Ambivalenzen. Dass er sich scharf gegen den in Westeuropa und Nordamerika grassierenden Antikommunismus wandte, trug ihm massive Kritik ein, bis hin zu persönlichen Diffamierungen. Freilich darf nicht vergessen werden, dass sich viele Christen jenseits des Eisernen Vorhangs durch Barth ermutigt sahen, ihren Glauben ungeachtet aller Widrigkeiten zu leben. Insbesondere in der DDR, der Tschechoslowakei sowie in Ungarn kristallisierte sich das Projekt einer Kirche für das Volk heraus, das heißt einer Kirche, die sich weder abkapseln noch auf Konfrontation gehen wollte, sondern in der sozialistischen Gesellschaft selbstbewusst ihrem Auftrag nachging. Mittlerweile mag dieses Projekt vornehmlich historisch interessant sein. Dennoch lohnt es, sich mit Barth zu beschäftigen – gerade heute, da extreme politische Positionen beträchtliche Zustimmung gewinnen. Anhand der von ihm getroffenen Entscheidungen lassen sich mehrere spannende Fragen diskutieren: Wie politisch können Theologie und Kirche sein? Müssen sie dies angesichts bestimmter gesellschaftlicher Umstände nicht sogar zwingend werden? Inwieweit dürfen sie dabei Partei ergreifen und sich damit selbst – um den Preis, eventuell die falsche Position zu vertreten – zu einem Faktor tagespolitischer Auseinandersetzung machen?

Barth war kein Stubengelehrter, der in Ruhe und Abgeschiedenheit seiner Forschung nachgegangen wäre. Vielmehr entwickelte er sein Denken im Austausch mit und in Absetzung von konkreten Gesprächspartnern. Die persönliche Begegnung war ihm höchst wichtig, gerade in Bezug auf das Miteinander der Konfessionen. Um Aufschluss über den Katholizismus zu erlangen, lud er wiederholt katholische Theologen in seine Lehrveranstaltungen ein oder traf sich privat mit ihnen. Beispielsweise nahm er in Münster regelmäßig an einem Gesprächskreis teil, dem Priester wie Laien angehörten – auch Frauen, was damals höchst ungewöhnlich war. Aus dem Kreis sollte die bis heute bestehende ökumenische Zeitschrift „Catholica“ erwachsen.

Während Barth in Bonn lehrte, fuhr er des Öfteren in die nahe Abtei Maria Laach. Er nahm dort nicht nur am Stundengebet teil, sondern pflegte mit mehreren wissenschaftlich tätigen Mönchen einen intensiven Austausch. Ein solcher ergab sich auch mit Hans Urs von Balthasar (1905–1988). Der Jesuit stammte aus der Schweiz. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte er sich eigens nach Basel versetzen lassen, um vom Verfasser der „Kirchlichen Dogmatik“ Anstöße für die Erneuerung des Katholizismus zu bekommen. Diesen empfand er als erstarrt. Besonders beeindruckte Balthasar, dass Barth die Theologie konsequent als Christologie anlegte. Das erschien ihm besser, als mit einer vernunftbasierten, damit allerdings abstrakten Gotteslehre zu beginnen, wie das in der gängigen Neuscholastik der Fall war.

Bei der Eigenbedeutung der Kirche zog Balthasar andere Schlüsse

Über Jahre hinweg arbeitete Balthasar an einem Buch über Barth, um diese Innovation im katholischen Diskurs bekannt zu machen. Aufgrund der ordensinternen Zensur gestaltete sich dies jedoch schwierig. Erst nachdem er die Gesellschaft Jesu verlassen hatte, gelang die Publikation. Balthasar machte sich alsbald daran, eine eigene systematische Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens zu verfassen, die an Umfang und Tiefe der „Kirchlichen Dogmatik“ nicht nachsteht. Aber obwohl ihm das Programm, die Theologie als Christologie anzulegen, zusagte, hielt er die Ekklesiologie bei Barth für zu unterbestimmt. Beide verbindet zwar die Auffassung, dass der einzelne Christ nicht allein auf Jesus Christus verwiesen, sondern Teil einer Gemeinschaft von Gläubigen ist. Was die Eigenbedeutung der Kirche angeht, gelangte Balthasar aber zu anderen Schlüssen als sein reformierter Gesprächspartner.

Ihre anfänglich enge Bindung lockerte sich zunehmend. Immerhin machte Balthasar einen katholischen, ebenfalls aus der Schweiz gebürtigen Promovenden mit Barth bekannt: Hans Küng (geboren 1928). Zwischen beiden entwickelte sich ein freundschaftliches, persönlich und sachlich begründetes Verhältnis. Angeregt durch Barth veröffentlichte Küng seinen ersten Bestseller, „Konzil und Wiedervereinigung“. Nicht nur das: Als Barth Ende 1968 verstarb, fand im Münster, der reformierten Hauptkirche Basels, eine Trauerfeier statt, bei der mehrere prominente Redner ihn als einen mitunter unbequemen und streitbaren, in jedem Fall auf gute Weise herausfordernden Denker würdigten. In diesem Sinne äußerte sich auch Hans Küng, der inzwischen an der Universität Tübingen lehrte.

Übrigens hätte Barth beinahe sogar als Beobachter am Zweiten Vatikanischen Konzil teilgenommen. Gesundheitsbedingt musste er das Angebot ausschlagen. Wieder zu Kräften gelangt, reiste er im Jahre 1966 nach Rom. Im Rahmen einer Privataudienz überreichte er Papst Paul VI. (1897–1978) ein Exemplar seiner „Kirchlichen Dogmatik“. Zudem führte er Gespräche mit prominenten Theologen, namentlich mit Karl Rahner (1904–1984) und Joseph Ratzinger (geboren 1927). Ratzinger fuhr bald darauf mit einer Gruppe Tübinger Studierender nach Basel, um Barths Seminar zu besuchen. In diesem Seminar wurden ausgewählte Texte des Konzils besprochen, insbesondere die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“.

Obwohl Barth einige Rückfragen an den zeitgenössischen Katholizismus hatte, faszinierte ihn, in welch hohem Maße dieser – bis dahin scheinbar so fest gefügt – in Bewegung gekommen war. Offenkundig konnten nicht allein die Reformierten den Grundsatz ecclesia semper reformanda für sich in Anspruch nehmen; auch die „römische Kirche“ erneuerte sich. Dieser Prozess dauert bis heute an, hat an Dringlichkeit nichts verloren. Sollen die weiterhin getrennten Christen aufeinander zugehen, damit aus einem Nebeneinander ein wirkliches Miteinander werden kann, bedarf es in Theologie und Kirche kollegial-freundschaftlicher Kontakte. Persönliche Begegnungen sind unverzichtbar, damit die Ökumene wächst. Karl Barth hat das vorgelebt.

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