Vatikan: Jung und Jünger

Das Papstschreiben an die Jugend zerfällt in zwei Teile. Passagen trister Allgemeinheit stehen viele schöne Franziskus-Momente gegenüber. Man muss sie nur finden.

Das päpstliche Schreiben
© KNA

Zu den charakteristischen Eindrücken bei der Lektüre der Apostelgeschichte gehört der Umstand, dass hin und wieder der Erzähler zu wechseln scheint: Neben den langen Passagen, die in der dritten Person geschildert werden, tauchen ganz unvermittelt hin und wieder Abschnitte auf, die in der ersten Person formuliert sind, als wären es Augenzeugenberichte: „Auf diese Vision hin wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir kamen zu dem Schluss, dass uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden“ (Apg 16,10). Einerseits vermitteln diese sogenannten „Wir-Passagen“ dem Leser das Gefühl, einen heterogenen, aus verschiedenen Schichten bestehenden Text vor sich zu haben, und werfen so Fragen auf zu seinem Zustandekommen. Sie stellen also Distanz zum Text als Ganzem her. Gleichzeitig aber atmen die Verse in der ersten Person gerade auch in ihrem Kontrast zum übrigen Text eine Unmittelbarkeit und Lebendigkeit, die sich distanzverringernd auswirken, die Nähe herstellen. Es ist wenig verwunderlich, dass die Wir-Passagen Leser wie Forscher seit jeher in besonderer Weise beschäftigt und fasziniert haben.

Ein ähnlicher Effekt erwartet jeden, der das neue Papstdokument „Christus vivit“ durchliest (eine Übung, die übrigens das Gros der bisherigen Kommentatoren den vorrangigen Adressaten des Schriftstücks, den jungen Menschen, gar nicht erst zutraut, da es sich um ein Büchlein von 190 Seiten handele und junge Menschen angeblich grundsätzlich keine 190-Seiten-Bücher mehr läsen). Papst Franziskus’ nachsynodales apostolisches Schreiben über die Jugend, das Anfang April veröffentlicht wurde, hat ebenfalls zwei verschiedene Erzähler, zwei verschiedene Sprecherrollen: Über lange Strecken formuliert es in einem sachlichen bis unbeteiligten Ton einige grundsätzliche Gedanken über das Jungsein als solches, über die Rolle junger Menschen in der Kirche und einen sinnvollen Umgang der Kirche mit diesen jungen Menschen. Immer wieder jedoch durchbrechen bunte und originelle Gedanken den grauen Nebel der Allgemeinheit, und es kommt ein ganz anderer, persönlicher Stil zum Vorschein. Dann richtet sich auf einmal ein Ich direkt an die Jugendlichen: „Liebe junge Freunde, bitte schaut euch das Leben nicht vom Balkon aus an! Begebt euch in die Welt! Jesus ist nicht auf dem Balkon geblieben“ (Nr. 174). Es klingt, als sei es tatsächlich und authentisch Franziskus selbst, der sich hier zu Wort meldet und den Schulterschluss mit den jungen Menschen in der ganzen Welt sucht, mit ihnen ein großes, neues Wir bilden will. Es sind die Wir-Passagen von „Christus vivit“, und sie sind es vor allem, die die Lektüre dieses Textes lohnen.

Verzögerungen im Betriebsablauf

„Christus vivit“ ist erklärtermaßen Teil eines synodalen Prozesses. Dessen Höhepunkt war die Jugendsynode in Rom im Oktober 2018, in deren Umfeld bereits zwei lange Texte erschienen sind, das Instrumentum laboris sowie das Abschlussdokument (vgl. HK, Dezember 2018, 11–12). Jung im Sinne des Vatikans sind übrigens, so stand es im Abschlussdokument, Menschen zwischen 16 und 29 Jahren. Ob der Papst dieser Jugend auch noch persönlich etwas schreiben würde, war lange Monate ungewiss. Noch im Januar, als auf der Website des Dikasteriums für Laien, Familie und Leben bereits von einem „voraussichtlichen nachsynodalen Schreiben“ des Papstes die Rede war, winkten Mitarbeiter anderer Kurienbehörden ab: alles noch gar nicht sicher.

Als dann schließlich Ende Februar der Vatikandienst „Vatican News“ wirklich die Veröffentlichung ankündigte, hieß es, Franziskus werde sein Schreiben bei seinem Besuch im italienischen Wallfahrtsort Loreto am 25. März vorlegen, also an Mariä Verkündigung. Doch wenige Tage vor dem Termin ruderte der Vatikan zurück: Franziskus werde das Dokument in Loreto lediglich unterzeichnen, aber noch nicht veröffentlichen. Ein ungewöhnlicher Vorgang, auch wenn es durchaus Vorläufer gibt: Benedikt XVI. etwa hatte zwischen der Unterzeichnung seiner Enzyklika „Deus caritas est“ an Weihnachten 2005 und ihrer Veröffentlichung sogar einen Monat verstreichen lassen, nicht, wie nun Franziskus, nur eine gute Woche. Dennoch führte das Hin und Her zu Spekulationen: Gab es vielleicht hinter den Kulissen ein Tauziehen um den Wortlaut, um die eine oder andere brisante Stelle, vielleicht gar um eine der berühmten franziskanischen Fußnoten? Wie aus der Kurie zu hören ist, soll die Wahrheit allerdings viel weltlicher gewesen sein: Der Text wurde einfach zu spät fertig, so dass die notwendigen Übersetzungen nicht pünktlich bis Mariä Verkündigung vorlagen. Verzögerungen im Betriebsablauf.

Kirchenpolitische Sensationen, etwa neue Töne zur Sexualmoral, finden sich jedenfalls nicht im endgültigen Wortlaut von „Christus vivit“. Adressaten sind laut Überschrift „die jungen Menschen und das ganze Volk Gottes“. Die neun Kapitel mit ihren insgesamt 299 Nummern sind dagegen in erster Linie eine handbuchartige Zusammenschau dessen, was das katholische Lehramt zum Thema Jugend zu sagen hat, von entsprechenden Bibelauslegungen über ekklesiologische Überlegungen zum Stellenwert junger Menschen für die Kirche bis hin zu Tipps für eine zeitgemäße Jugendpastoral. Dabei ließen sich Déjà-vu-Effekte leider nicht vermeiden. Der deutsche Jugendbischof Stefan Oster formulierte in seiner im Namen der ganzen Bischofskonferenz verfassten Stellungnahme zu „Christus vivit“ vielsagend: „Wir sehen einige Parallelen zur Würzburger Synode.“ Die war bekanntlich in den Siebzigern.

Viel Selbstverständliches wird, wie man so sagt, bekräftigt und in Erinnerung gerufen. Punkt 84 lehrt etwa über das wahre Wesen von Jugendlichen: „In vielen gibt es wohl den echten Wunsch, die ihnen innewohnenden Fähigkeiten zu entwickeln, um einen Beitrag in der Welt zu leisten. In einigen sehen wir eine besondere künstlerische Ader oder eine Suche nach Einklang mit der Natur. In anderen wird es vielleicht ein großes Bedürfnis nach Kommunikation geben.“ Und zur Frage, wo man Jugendliche am besten erreichen könne, hält Punkt 221 fest: „Die Schule ist zweifellos eine Plattform, um sich den Kindern und Jugendlichen zu nähern.“ Es ließe sich ergänzen, dass der Ball rund ist und ein Spiel 90 Minuten dauert. Selbst die Thesen zur digitalen Lebenswelt heutiger Jugendlicher lesen sich kaum überraschender: Cybermobbing, Vereinsamung, Pornos, Fake News – von den Schattenseiten des Internets, auf die Franziskus noch aufmerksam machen zu müssen glaubt, wird längst auch jeder Veteran der Würzburger Synode gehört haben, von der globalen Generation der Digital Natives ganz zu schweigen.

Die Herzen als heiliger Boden

Aber immer wenn man gerade fürchtet, dem hohen Anspruch von Nr. 223 beim Lesen nicht mehr länger gerecht werden zu können (dort heißt es, man solle sich im Leben „nicht von der Banalität betäuben lassen“), wechselt der Text seine Farbe und Temperatur, und der einmalige Franziskus-Ton setzt ein. Ein Ton, der gerade bei diesem Thema seine ganz eigene Berechtigung hat und viele schöne Bilder prägt. Etwa wenn Franziskus sich an die Erwachsenen wendet und unter Anspielung auf die Berufung des Mose schreibt: Gott sei in der Lage, „die Samen des Guten, die in die Herzen der jungen Menschen gesät wurden, zur Geltung zu bringen und zu nähren. Das Herz eines jeden jungen Menschen muss daher als ein ,heiliger Boden‘ betrachtet werden, der Samen göttlichen Lebens in sich birgt und vor dem wir ,unsere Schuhe ausziehen‘ müssen, um uns dem Geheimnis annähern und es vertiefen zu können“.(Nr. 67). Wenn er über die Schönheit des Betens als wirklichem Ort der Begegnung und der Unterhaltung mit Gott schwärmt (Nr. 155). Wenn er die Gaben, die Gott jedem Einzelnen mit auf den Lebensweg gibt, mit den Geschenken eines Freundes vergleicht: „Ich möchte, dass ihr wisst: Wenn der Herr an jeden Einzelnen denkt, an das, was er ihm schenken könnte, so denkt er an ihn als seinen persönlichen Freund. Und wenn er entschieden hat, dir eine Gnade zu schenken, ein Charisma, das dich dein Leben in Fülle leben lässt und dich in eine Person verwandelt, die für andere nützlich ist, in jemanden, der eine Spur in der Geschichte hinterlassen wird, so wird dies sicher etwas sein, was dich in deinem Innersten glücklich machen und mehr als alles andere auf dieser Welt begeistern wird“ (Nr. 288).

Oder wenn er das wahre Gefühl liebender Anteilnahme so beschreibt: „Ich lade jeden von euch ein, sich zu fragen: Habe ich gelernt zu weinen? Habe ich gelernt zu weinen, wenn ich ein hungriges Kind sehe, ein Kind unter Drogeneinfluss auf der Straße, ein obdachloses, ein verlassenes Kind, ein missbrauchtes Kind, ein von der Gesellschaft als Sklave benutztes Kind? (…) Versuche zu lernen, um die jungen Menschen zu weinen, denen es schlechter geht als dir. (…) Wenn du kein Weinen herausbringst, bitte den Herrn, dir zu gewähren, Tränen für das Leiden anderer zu vergießen. Erst wenn du weißt, wie man weint, wirst du wirklich in der Lage sein, etwas von ganzem Herzen für andere zu tun“ (Nr. 76).

So ist es sicher kein Zufall, dass im Herzstück des Dokuments, dem 4. Kapitel („Die große Botschaft an alle jungen Menschen“), die Adressaten durchgängig direkt angesprochen werden. Drei „Wahrheiten“ sind es, die Franziskus in diesem Kapitel der Jugend mitteilt: „Gott liebt dich“. (Nr. 112) „Christus rettet dich“ (Nr. 118). Und: „Er lebt!“ (Nr. 124). „In diesen drei Wahrheiten … erscheint Gott, der Vater, und Jesus. Wo der Vater und Jesus Christus sind, da ist auch der Heilige Geist. Er ist es, der die Herzen zur Aufnahme dieser Botschaft vorbereitet und öffnet; er ist es, der diese Heilserfahrung lebendig hält; er ist es, der dir helfen wird, in dieser Freude zu wachsen, wenn du ihn handeln lässt.“ Wozu das dann führen kann, lässt sich zum Beispiel in der Apostelgeschichte nachlesen.

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