Herr Kardinal, Sie waren im Oktober bei der Amazoniensynode in Rom dabei. Dort ging es drei Wochen lang um die Bedeutung des Umweltschutzes, die Gefahr der Ausbeutung indigener Völker sowie um die mangelhafte sakramentale Versorgung entlegener Regionen im Amazonasgebiet. Was hat die Kirche in diesen drei Wochen gelernt, was vorher nicht eh schon alle wussten?
Kardinal Christoph Schönborn:Wer wollte, konnte zumindest lernen, wie ernst die Lage unseres Planeten wirklich ist. Einer der eindrücklichsten Beiträge in der Synodenaula war der allerletzte, der vom Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. Wenn die Aufzeichnungen in meinem Notizbuch stimmen, war es die 266. Wortmeldung. Er hat auf Englisch gesprochen und gesagt: „Amazonien ist der entscheidende Test. Es ist wissenschaftlich belegbar: Der Tod des Regenwaldes in Amazonien wäre gleichbedeutend mit dem Tod der Welt.“ Dieser dramatische Schlusspunkt aller Interventionen in dieser Synode passte zu einigen starken spirituellen Zeichen, die ich in diesen Tagen sehen durfte und die schon etwas Prophetisches hatten. All die organisatorischen Fragen, die diskutiert wurden, sind sicher wichtig, aber sie sind nicht das Hauptthema. Wenn die Amazoniensynode einen Sinn hat, muss sie als ein prophetisches Zeichen gelesen werden.
Welche Zeichen haben Sie denn gesehen?
Schönborn:Ich habe mir am ersten Tag der Synode den Bibeltext notiert, der gerade in der Lesehore an der Reihe war, am 5. Oktober. Es war 2 Könige 20,19: König Hiskija ist schwer krank, aber weil er zu Gott betet, werden ihm noch 15 weitere Lebensjahre gewährt. In diesem Moment reagiert Hiskija in einer Weise, die mich unglaublich getroffen hat, weil sie so gut auf unsere Situation heute passt: „Und er dachte: Wenn nur zu meinen Lebzeiten noch Friede und Sicherheit herrschen.“
Nach mir die Sintflut?
Schönborn: Nach mir die Sintflut! Als ich das gelesen habe, ist mir sofort klar geworden: Das ist die Rede meiner Generation. Wie oft höre ich im Zuge der Klimadebatte den Satz: „Gott sei Dank bin ich schon so alt, ich werde das nicht mehr erleben.“ Ich selbst bin jetzt fast 75 Jahre alt – und auch ich ertappe mich dabei, dass mir dieser Gedanke manchmal kommt. Deshalb war ich umso erschütterter, als ich schließlich am Morgen des letzten Sitzungstages, am 26. Oktober, das Tagesevangelium las. Lukas 13: Man erzählt Jesus von einigen Galiläern, die Pilatus hat ermorden lassen, während sie im Tempel geopfert haben. Ihr Blut vermischte sich mit dem Blut der Opfertiere. Da sagt Jesus: „Meint ihr, dass diese Galiläer größere Sünder waren als alle anderen Galiläer, weil das mit ihnen geschehen ist? Nein, sage ich euch, vielmehr werdet ihr alle genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt.“ Diese beiden Schriftworte, am Anfang und am Ende der Synode, sagen im Grunde alles. Meine Generation – und wir sind die Generation, die einen Großteil dieses Klimadramas produziert hat! – sagt: Hauptsache, wir haben noch schöne 15 Jahre in Ruhe. Und dagegen das Jesus-Wort: Wenn ihr euch nicht grundlegend ändert, werdet ihr genauso umkommen. Da hilft dir auch kein Alter und kein noch so privilegierter Platz auf der Erde. Diesen Ernst der historischen Stunde müssen wir an uns heranlassen. Es ist noch nicht zu spät, umzukehren. Aber: Später wäre zu spät.
Der Klimawandel erfordert ein Umdenken, es braucht Gegenmaßnahmen – aber da kommt es auf weltliche Gegenmaßnahmen an, auf wirksamen Umweltschutz. Wo sehen Sie die religiöse Dimension des Themas? Was ist die Aufgabe der Kirche?
Schönborn: Wir wissen, dass Veränderung selten eine Veränderung zum Bequemeren ist. Das gilt für die heutige Jugend in besonderer Weise, mehr als für meine Generation: Wir haben unsere Kindheit nach dem Krieg in einer Zeit der Armut und Entbehrung verbracht, aber solange ich denken kann, ist es damals jedes Jahr ein bisschen besser geworden. Das war das Lebensgefühl meiner Generation. Heute dagegen spüren wir, dass es der Generation meiner Neffen und Nichten, meiner Großneffen und Großnichten in Zukunft zumindest wirtschaftlich nicht mehr so gut gehen wird wie zur Zeit ihrer Kindheit, und dass es wahrscheinlich von Jahr zu Jahr schwieriger wird. Entsprechend groß ist die Abneigung, ja die Furcht vor Veränderung, die ohnehin in uns drinsitzt. Was ist die Rolle der Kirche dabei? Sehr einfach: das Evangelium. Change-Prozesse brauchen Ressourcen, und das heißt auch: spirituelle Ressourcen. Um auf einem friedlichen Weg eine Änderung des Lebensstils zustande zu bringen, braucht es geistliche Mittel, vor allem eine Motivation zum Verzicht und zum Teilen. Diese Motivation hat man nicht als Ich-AG. Die Kirche hat keine Wirtschaftsmacht, sie hat keine militärische Macht, sie hat keine politische Macht. Aber sie hat ihre Botschaft: Selig die Armen, ihnen gehört das Reich Gottes! Selig die Friedenstifter, sie werden Kinder Gottes genannt werden!
Sie haben während der Synode viele Wortmeldungen in ihrem Notizheft vermerkt. Wie zu hören war, hat sich auch Papst Franziskus bei mehreren Gelegenheiten spontan zu Wort gemeldet. Was hat er gesagt?
Schönborn: Die Gespräche in der Aula sollen ja in der Aula bleiben. Aber es gibt einen Ausdruck des Papstes, den ich sicher wiedergeben darf, weil er danach unter den Teilnehmern in aller Munde war. Der Papst hat über genau jene Kraft gesprochen, die für die eben genannten friedlichen Änderungsprozesse im Angesicht der Klimakrise nötig sein wird. Franziskus hat sie mit einem poetischen spanischen Wort beschrieben: „el desborde“. Es heißt so viel wie das Überlaufen, das Überströmen – wie in dem schönen Gedicht „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer: „Aufsteigt der Strahl und fallend gießt / Er voll der Marmorschale Rund, / die, sich verschleiernd, überfließt / In einer zweiten Schale Grund; /Die zweite gibt, sie wird zu reich, / Der dritten wallend ihre Flut, / Und jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht.“ „El desborde“ ist das Überborden, das Mehr, das magis, wie es Ignatius von Loyola genannt hat: Das, was es braucht, um in einer ökologischen Krise wie der unseren wirklich zu überleben, ist ein über sich Hinausgehen, eine größere Dimension des Menschseins. Hier liegt die zutiefst religiöse Dimension der aktuellen Herausforderungen.
Wie haben Sie die Streitkultur in der Synodenaula erlebt? Man hatte von außen den Eindruck, viele Wortmeldungen der Bischöfe bestanden lediglich aus ein paar Modeformeln des aktuellen Pontifikates, „zusammen unterwegs sein“, „das gemeinsame Haus“ und so weiter, dann folgten vielleicht noch ein, zwei pflichtschuldige Zitate aus der Umweltenzyklika „Laudato si‘“, und damit hatte es sich. Ist es hinter den Kulissen auch einmal etwas handfester geworden?
Schönborn: Ich sage es mal etwas unverblümt: Die Gesättigtheit der Wortmeldungen mit ausgesprochenen, konkreten Erfahrungen war eher gering. Dabei müssten wir doch nur davon ausgehen, wie es in Jerusalem auf dem Apostelkonzil war. Da haben die Teilnehmer nicht abstrakt für Reformen geworben. Sie haben einfach erzählt, was sie erlebt haben, und dann haben sie darüber diskutiert, was Gott ihnen in diesen Erlebnissen zeigen wollte. Es war eine Erzählgemeinschaft, in der dann zum Beispiel Petrus berichtete: „Ich habe auf der Missionsreise dieses und jenes erlebt, und plötzlich kam ein Abgesandter und sagte, ich solle zu einem römischen Hauptmann gehen – ich! In ein heidnisches Haus! Und als wir dort gepredigt haben, erlebten wir, dass der Hauptmann vom Heiligen Geist erfüllt wurde! Wenn Gott es bei dem auch macht, wie wir es sonst nur in den jüdischen Gemeinden erlebt haben, will er uns dadurch sicher etwas sagen.“ Verglichen damit blieb es auf der Amazoniensynode in der Tat zu oft nur bei allgemeinen Formulierungen. Mich hat schon immer gewundert, wie ungern wir Bischöfe über wirklich Gelebtes, über Erlebtes sprechen.
Warum ist das so?
Schönborn: Ich weiß es nicht. Es ist einfach eine fehlende Gesprächskultur. Deshalb habe ich in meiner Wortmeldung in der Synode nur Fragen gestellt – ich als Europäer kann den Bischöfen aus Amazonien ja keine Lektionen erteilen. Ich habe zum Beispiel gefragt: Wie erlebt ihr die pastorale Situation angesichts des Phänomens der Landflucht? Was heißt das für die Zukunft dieser Landgemeinden? Ich habe mit einem Katechisten aus Peru gesprochen, einem Vater von sechs Kindern, von denen fünf in die Stadt gegangen sind. Der Vater selbst blieb aber im Dorf und hilft dort in der Gemeinde. Er wäre also ein klassischer Fall für einen Vir probatus, der diese Gemeinde durchaus leiten könnte und es de facto schon jetzt tut. Was ist die Zukunft dieser Gemeinde, wie sieht die Zukunft der Indigenos dort aus? Oder: Wie erlebt ihr das, dass mehr als die Hälfte der Christen in eurer Region mittlerweile bei den Evangelikalen sind? Was sagt euch das? Darauf gab es wenig Antwort. Das hat mich gewundert.
Bei der Schlussabstimmung haben sich mehr als zwei Drittel der Synodenväter für Viri probati ausgesprochen. Was, denken Sie, wird der Papst entscheiden?
Schönborn: Frühere Dokumente dieser Art zeigen: Wenn der Papst ein nachsynodales Schreiben macht, nimmt es viel auf von dem, was auf der Synode gesagt worden ist. Insofern rechne ich schon damit, dass er die Frage der Viri probati ansprechen und eine Orientierung geben wird – allerdings keine einsame und losgelöste, sondern eine, die ein Echo auch der abweichenden Stimmen auf der Synode sein wird. Eines muss man ja deutlich sagen: Die globale Lösung für den Priestermangel sind die Viri probati sicher nicht. Die Grundgestalt des römisch-katholischen Priesters wird weiterhin der ehelose Priester sein. Das ist einfach zu tief in der DNA der katholischen Kirche verankert, als dass es dort eine grundlegende Veränderung geben und etwa eine Gesetzgebung wie in der Ostkirche gefunden wird. Und ich muss ehrlich sagen: Ich wünsche es mir auch nicht.
Neben den Viri probati war vor allem die Rolle der Frauen ein Thema, das mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Im Abschlussdokument der Synode ist sehr allgemein davon die Rede, dass Frauen mehr Wertschätzung erfahren sollen. Aber außer einer Öffnung des Lektoren- und des Akolytenamtes für Frauen – wie es in vielen Gemeinden ohnehin längst selbstverständlich ist – fehlen konkrete Forderungen für einen größeren Einfluss der Frauen. Hätten Sie sich in dieser Sache mehr gewünscht?
Schönborn: Ich finde es gut, wie entschieden das Abschlussdokument die tragende Rolle würdigt, die Frauen in vielen indigenen Gemeinden spielen. Die machen dort ja so ziemlich alles. Und wenn die Kirche künftig auch offiziell von „Ämtern“, von „Ministeria“ der Frauen im Gottesdienst spricht, mag das nur ein Symbol sein, aber ein wichtiges. Wir haben in der Erzdiözese Wien schon lange viele Wortgottesdienstleiterinnen, außerdem sicher an die dreißig Begräbnisleiterinnen. Aber das sollte schon in der Form eines richtigen Amtes im Sinne des Kirchenrechts gestaltet sein. Das ist einfach nachzuholen.
Würden Sie sich wünschen, dass die Frauen bei der nächsten Synode auch mit abstimmen dürfen? Diese Forderung kam ja diesmal am Rande der Beratungen auf.
Schönborn: Der Papst hat ja schon für den Synodenrat, der zwischen den Synodenversammlungen tagt, am Schluss der Amazoniensynode drei zusätzliche Personen ernannt: eine Ordensfrau, einen Laien und eine Laiin. Frauen als stimmberechtigte Mitglieder der Synodenversammlung dagegen sind aus meiner Sicht nur möglich, wenn man die Definition der Synode ändern würde. Die Synode als Instrument gibt es auf universalkirchlicher Ebene nur als Bischofssynode. So hat es das Zweite Vatikanische Konzil gewünscht, so hat es Paul VI. eingerichtet. Sie besteht also aus Bischöfen, und das sind bekanntlich Männer.
Zeitgleich zur Amazoniensynode haben Sie ein Buch veröffentlicht, ein Gespräch zwischen Ihnen und der Theologin Doris Wagner. Die frühere Ordensfrau wirft ihrer einstigen Ordensgemeinschaft vor, sie sei dort mehrfach vergewaltigt und außerdem spirituell missbraucht worden. Ein zentrales Zitat aus dem Buch ist ein Satz, den Sie Doris Wagner in diesem Gespräch gesagt haben: „Ich glaube Ihnen das, ja.“ Was ist damit eigentlich gemeint?
Schönborn: Diese Frage ist mir sehr oft gestellt worden. Ich habe unendlich viel Post bekommen, seit das Fernsehinterview des Bayerischen Rundfunks, das ja die Grundlage dieses Buches ist, im Februar 2019 ausgestrahlt wurde. In vielen Zuschriften wurde mir, teils auf sehr berührende Weise, gedankt für diesen Satz, gerade auch von Menschen, die selbst Betroffene von Missbrauch geworden sind. Aber andere schrieben mir auch: „Wie können Sie so etwas sagen, woher wissen Sie, dass das stimmt?“ Ich habe darauf eine sehr einfache Antwort: Mein Satz ist kein richterliches Urteil. Wie die Fakten objektiv waren, weiß ich nicht. Ein Richter, der über Schuld und Unschuld zu urteilen hat, legt andere Kriterien an. Das setzt eine Nachforschung voraus, die übrigens oft sehr schwierig sein kann: Es handelt sich bei solchen Fällen oft um Situationen, die letztlich nur die beiden direkt beteiligten Personen beurteilen können, wenn Aussage gegen Aussage steht. Solche Nachforschungen mache ich nicht. Ich habe mit relativ vielen Betroffenen von Missbrauch Gespräche gehabt, zum Teil auch lange Begleitungen, über Jahre hinweg. Das Entscheidende ist immer dieses Signal: Ich glaube Ihnen. Doris Wagner sagt, dass sie das, was ihr in ihrem Orden widerfahren ist, als Vergewaltigung erlebt hat und dass das traumatisierend für sie war. Und das glaube ich ihr.
Wenige Wochen nach der Ausstrahlung des Interviews, im März, haben Sie auf einer Pressekonferenz in Wien öffentlich gemacht, dass Sie an Krebs erkrankt seien und sich einer Operation würden unterziehen müssen. Dieser Eingriff war für den Mai geplant. Wie geht es Ihnen heute?
Schönborn: Es geht mir gut. Es sieht so aus, als sei der Krebs besiegt. Die Rekonvaleszenz geht gut voran, auch wenn sie länger dauert, als ich gedacht hätte. Ich stelle jetzt einfach fest, dass ich in meinem realen Alter angekommen bin. Das ist auch eine schöne Erfahrung – ich gehöre zu denen, die mit 75 nicht mehr jung sein wollen. Die das Privileg beanspruchen, das sein zu dürfen, was man wirklich ist, wenn man 75 ist: alt. Das ist mir durch die Krankheit und die Heilung physisch und seelisch sehr bewusst geworden, und ich bin gerne dort angekommen, wo ich jetzt bin.
Gab es im Krankenhaus irgendeinen bestimmten Gedanken, ein bestimmtes Gebet oder ein Schriftwort, das Sie besonders getragen hat?
Schönborn: Ich habe mir vor der OP gesagt: Egal, wie es ausgeht, in meinem Alter ist es eine Win-win-Situation! Das war vielleicht etwas vollmundig – natürlich bin ich jetzt auch froh, dass es gut gegangen ist. Ob es noch einmal die 15 Jahre werden, die dem König Hiskija bewilligt wurden, weiß ich nicht.
Wenn man schon so lange Kardinal von Wien war, fragt man sich dann irgendwann automatisch: Kann ich auch Papst?
Schönborn: Die Frage hat sich mir gestellt, als ich vor dem letzten Konklave in den Medien viel gehypt wurde als angeblicher Papstkandidat. Bezeichnenderweise fanden sich diese Spekulationen vor allem in italienischen und französischen Medien, weniger in den österreichischen – die kennen mich ja besser. Ich kann darauf nur antworten, was meine Mutter damals gesagt hat, als sie von einer Lokalzeitung gefragt wurde: „Frau Schönborn, würden Sie sich freuen, wenn Ihr Sohn Papst wird?“ Sie sagte: „Das wäre nix für meinen Buben. Er hat schon genug mit den Intrigen in Wien. Ich glaube nicht, dass er mit den Intrigen in Rom fertig würde.“ Ich möchte meiner Mutter da nicht widersprechen.
Wie viele Stimmen haben Sie dann bekommen im Konklave 2013?
Schönborn: Über Stimmen wird außerhalb des Konklaves sicher nicht geredet.