Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land, / aus ewgem Stein erbauet von Gottes Meisterhand. / Gott wir loben dich, Gott, wir preisen dich. / O lass im Hause dein uns all geborgen sein.“
Aus Tausenden von Kehlen begeisterter Teilnehmer, Männer und Frauen, an Katholikentagen und anderen kirchlichen Großveranstaltungen erklang jeweils dieses Lied. 1874, kurz nach dem Ersten Vatikanischen Konzil, von Joseph Mohr gedichtet und komponiert, drückte es wie kein anderes den damaligen Triumphalismus der katholischen Kirche aus, die sich nach den Stürmen der Aufklärung und der Revolution wieder mächtig erhoben hatte, unter Führung der Pius-Päpste kraftvoll neu organisiert wurde und den Katholiken in einer ihnen oft feindlich gesinnten Welt Geborgenheit und Halt bot.
Heute allerdings schaut dieses Haus ziemlich desolat aus. Überall zeigen sich Risse, die Farbe ist abgeblättert, durch das Dach regnet es Kritik und selbst die Grundmauern scheinen nach verschiedenen kirchlichen Erdbeben zu wanken. Rat- und Orientierungslosigkeit, Missmut und Verdrossenheit, Rückzug und offener Protest machen sich breit. In einer solchen Situation mag vielleicht ein Blick zurück in die Geschichte hilfreich sein. Im Folgenden wird die These vertreten, die aktuellen Probleme der Kirche seien nicht strukturbedingt, bestünden also nicht seit jeher, sondern seien im Wesentlichen eine Erbschaft des 19. Jahrhunderts, das aus einem anderen Blickwinkel besehen nämlich alles andere als ein glorioses war. Damals wurde der falscher Weg eingeschlagen, der letzten Endes in den Abgrund führt. Das lässt immerhin die Hoffnung aufkeimen, Umkehr wäre möglich und die Schwierigkeiten, wenn nicht zu beseitigen, wenigstens deutlicher zu erkennen. Gezeigt werden soll dies an drei aktuellen Problemkreisen, nämlich Zentralismus, Klerikalismus und Sexualität.
Der Papst baut eine Eisenbahn
Zentralisierende Bestrebungen der Päpste lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Ihre Durchsetzung stieß aber lange auf ziemliche Hindernisse. Neben rechtlich-sozialen Besonderheiten wie Eigenkirchenrecht, fürstlichen Machtansprüchen, Adelskirche und Familieninteressen waren natürliche Gegebenheiten, nämlich die beschränkten kommunikativen Möglichkeiten, der Hauptgrund dazu. Nachrichten von und nach Rom und den neu christianisierten Gebieten im Norden brauchten Wochen, Reisen in die Ewige Stadt dauerten noch länger und waren mühsam und gefährlich (Wegelagerer, Unfälle, Naturgewalten). Nicht zuletzt deswegen empfahl man sich vor der Abreise dem besonderen Schutz Gottes.
Diese Situation änderte sich im 19. Jahrhundert grundlegend mit Eisenbahn und Dampfschiff, welche die Kirche alsbald nutzte. Pius IX., der im berüchtigten „Syllabus errorum“ (1864) eigentlich jeden Fortschritt verdammte, ließ trotzdem im Kirchenstaat Eisenbahnlinien bauen und liebte es, sich unterwegs im eigenen Salonwagen seinen Untertanen zu zeigen. Nach der Eröffnung der großen untertunnelten Alpentransversalen (Mont Cenis, Gotthard, Brenner) konnte man Rom von fast jedem Punkt Europas aus in zwei bis drei Tagen erreichen, und dies weitaus bequemer als mit den holprigen Kutschen, denn schon bald kamen gut ausgestattete Speise- und Schlafwagen auf.
Die Folge war, dass nun auch außerhalb der Heiligen Jahre nicht nur Geistliche, sondern auch fromme Laien massenhaft die Pilgerreise nach der Ewigen Stadt antraten und den päpstlichen Segen persönlich erlangen konnten. Die Bischöfe konnten den schon im Konzil von Trient geforderten Besuchen ad limina, der periodischen Rechenschaftsablage vor dem Papst, endlich persönlich nachkommen. Ebenso ließen sich unbotmäßige Theologen ohne große Umstände direkt vor das römische Forum ziehen. Die Bischöfe in den missionierten überseeischen Gebieten, die früher bisweilen monatelange Segelfahrten unternehmen mussten, erreichten nun Europa mit dem Dampfschiff mehrfach schneller (aus Nordamerika in einer Woche) und ebenfalls weit bequemer. Im 20. Jahrhundert verkürzte sich die Reisezeit durch das Flugzeug nochmals auf Stunden. Daneben setzte die Kurie auch auf die übrigen modernen Kommunikationsmittel: Telegraf und Telefon ermöglichten eine Verbindung von der Zentrale zu den bischöflichen Kurien fast oder ganz in Echtzeit.
Somit waren die technischen Mittel zu einer effektiven Zentralisierung gegeben und wurden vom Vatikan wie von irgendeiner internationalen Handelsfirma souverän benutzt. Transmissionsriemen vor Ort waren die Bischöfe. Seit dem Mittelalter hatten meist die Fürsten diese ernennen können – sicher auch nicht gerade ein Ideal, denn „Wer allen vorsteht, soll von allen gewählt werden“ (Leo der Große). In der deutschen Reichskirche konnten zwar die Domkapitel bis 1803 das Wahlrecht bewahren. Durch den Fall oder wenigstens die Schwächung der monarchischen Gewalten seit den Revolutionen gelang es den Päpsten dann aber, mit ganz wenigen Ausnahmen das alleinige Ernennungsrecht an sich zu ziehen. Die Bischöfe benutzten gleicherweise alle neuen technischen Mittel und gaben damit die römischen Direktiven an die nun ebenfalls zumeist ausschließlich von ihnen ernannten Pfarrer weiter, womit die entferntesten Winkel der Welt problemlos erreicht wurden. Der Papst, dessen Porträt durch Stich und noch mehr durch die Fotografie millionenfach reproduziert werden konnte, war kein ferner kirchlicher Potentat mehr, sondern stand den Christen fast täglich vor Augen. Auf diese Weise wurde der Machtanspruch Roms endlich Wirklichkeit.
Wie der Pfarrer zum „Hochwürden“ wurde
Mit der Zentralisierung ging eine Klerikalisierung der Kirche Hand in Hand. Wie erwähnt spielten im Mittelalter Laien, namentlich durch ihr Besetzungsrecht der Pfründen, eine bedeutende Rolle in der Kirchenpolitik, und das blieb so bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Sie stand – und auch das war sicherlich nicht mit dem Wesen des Christentums im Einklang – im Dienste einer Familienpolitik der großen adligen Häuser. Wie hätten sonst Angehörige der Familien Schönborn und Thun noch zwischen 1650 und 1803 nicht weniger als je ein Dutzend Bischofsstühle im Reich besetzen können?
Aber auch auf der unteren Ebene hatten Laien eine starke Stellung. Vielfach besaßen die Gemeinden das Pfarrwahlrecht, den Bischöfen blieb bloß die Überprüfung der Anwärter und die Bestätigung. Ebenso erfolgte die Wahl des kirchlichen Hilfspersonals wie Sakristane durch die Gemeinden beziehungsweise deren Vertreter, die Kirchenräte. Diesen waren auch die pfarrlichen Finanzen anvertraut. Die Mission in den neuentdeckten überseeischen Ländern unterlag dem staatlichen Patronat, an dem beide iberischen Königreiche, Spanien und Portugal, festhielten. Rom hatte sich trotz der Gründung der „Propaganda fide“ 1622 da gar nicht einzumischen, provozierte sonst bloß Konflikte.
Die Pfarrer waren also früher eher Angestellte der Laien und hatten auch wegen der ihnen obliegenden Bewirtschaftung des Pfarreiguts (Widum) keine Sonderstellung im Dorf. Zuerst im Frankreich Ludwigs XIV. versuchte die Kirche mit verschiedenen inneren und äußeren Maßnahmen den Status der Geistlichen zu heben, ihn gewissermaßen auf einen Sockel zu stellen. Er sollte sich jedenfalls deutlich von den Laien als höherwertig unterscheiden. Diese Vorstellungen drangen im 19. Jahrhundert auch im deutschsprachigen Raum und zuletzt in Südeuropa durch: Die „Hochwürdigen Herren“ wurden nun zu allseits anerkannten Respektspersonen, deren Wort sich kaum jemand widersetzen durfte. Sie griffen auf der dörflichen Ebene über den rein geistlichen Bereich in die Schul- und Sozialpolitik hinein und fühlten sich kraft ihrer Bildung für alle möglichen Bereiche, bis hin zur Landwirtschaft, zuständig. Die nach den Revolutionen erfolgte weitgehende Säkularisierung der Kirchengüter ließ die Geistlichen der Form nach zu staatlich besoldeten Beamten werden, wobei aber die Besetzung, insbesondere der unteren Chargen der Kapläne, den Bischöfen überlassen wurde. Es spielte sich somit der gleiche Prozess wie eine Ebene weiter oben ab.
Kaum mehr eine Vorstellung machen kann man sich heute von der Bedeutung der Bruderschaften in früheren Zeiten. Namentlich die mit bestimmten Berufen verbundenen waren reine Laienorganisationen, wenngleich mit religiösen Zielen. Ihre Vorstände waren Laien und die für die religiösen Zeremonien notwendigen Priester oftmals ziemlich untergeordnete Angestellte, die angesichts des Priesterüberschusses in der Frühneuzeit froh um ein geregeltes Einkommen durch die meist reichen Bruderschaften waren. Aus verschiedenen Gründen erlebten diese aber schon im 18. Jahrhundert einen Niedergang und verschwanden danach bis auf geringe Restbestände vollständig. Sie wurden im 19. Jahrhundert durch die kirchlichen Standesvereine (für Jungfrauen, Jungmänner, Frauen und Mütter, Gesellen und so weiter) ersetzt. In allen diesen nahmen nun aber Geistliche als Präsides klar die leitenden Funktionen wahr. Die Klerikalisierung der Kirche wurde dadurch begünstigt, dass nach der Krise der Aufklärung der zahlenmäßige Bestand des Klerus überall wiederum stark zunahm. Es betraf dies vor allem die Orden, die natürlich ebenfalls als Schutzherren diverser Laienvereinigungen in Frage kamen.
Die Kirche und der Viktorianismus
Dass die Kirche ein Problem mit der Sexualität hat, ist nicht erst durch die sich nun schon Jahrzehnte hinschleppende Zölibatsdiskussion und die jüngst unter großem Medienspektakel bekannt gewordenen Missbrauchsfälle offenkundig geworden. Im Grunde genommen wurde es schon deutlich mit der Enzyklika „Humanae Vitae“ (1968) zur Geburtenregelung, welcher das Kirchenvolk weitgehend die Gefolgschaft verweigerte. In früheren Zeiten hatten auch Christen, sowohl Eliten wie gemeines Volk, ein ziemlich unverkrampftes und natürliches Verhältnis zur Sexualität, auch wenn negative Äußerungen dazu schon bei den Kirchenvätern zu finden sind. Eine stärkere Moralisierung und Disziplinierung erfolgte erst durch den Jansenismus und dann vor allem die Aufklärung. Die von dieser erstrebte und auf allen Ebenen gepredigte Tugendhaftigkeit erstreckte sich nämlich auch auf den Eros und führte zu einem Paradigmenwechsel. Nach 1760 erschienen beispielsweise, ausgehend von einer Schrift des Lausanner Arztes Auguste Tissot, Dutzende von Traktaten, welche die Schädlichkeit der Onanie demonstrierten. Katholische Geistliche begannen, die freizügigen Kleiderausschnitte der Bauernmädchen zu brandmarken. In der Alpwirtschaft und bei Wallfahrten sollten die Geschlechter strikt getrennt werden.
Die Verengung der Sexualmoral steigerte sich, wie allgemein bekannt, im 19. Jahrhundert und erreichte in seiner zweiten Hälfte, im „Viktorianismus“ (nach der prüden englischen Königin Victoria I.), ihren Höhepunkt. Die repressive Welle hatte zwar eher im protestantischen Raum begonnen, doch übernahm das katholische Europa diese Auffassungen alsbald ohne Einschränkungen, ja vielleicht noch übersteigerter. Praktisch alles, was außerhalb der Ehe irgendwie mit Geschlechtlichem zu tun hatte, war nun Sünde, und im Ehebett sollten wenigstens die Frauen am besten gar keine Lust empfinden. Schon bloße Geburtenverhütung war eine schwere Sünde. Deren Ablehnung hatte allerdings neben moralischen auch bevölkerungspolitische Gründe: Kinderreiche Familien konnten das Gewicht der Katholiken in den sich nun demokratisierenden und das allgemeine Wahlrecht einführenden Staaten vorteilhaft erhöhen.
Ein Spezialfall des kirchlichen Umgangs mit der Sexualität ist der Pflichtzölibat der Kleriker, der 1139 auf dem Ersten Laterankonzil formuliert und vom Konzil von Trient bestätigt wurde. Neben auch in anderen Religionen zu findenden Ideen der kultischen Reinheit standen durchaus weltliche Motive hinter dieser Vorschrift: Der Einfluss mächtiger Familien auf die Kirchenämter, der zu eigentlichen Klerikerdynastien führen konnte, sollte eingedämmt, ebenso die Entfremdung von Kirchengut durch Erbschaft an Priesterkinder vermieden werden. Allerdings konnte das Zölibatsgebot im Mittelalter kaum durchgesetzt werden.
Legende ist auch, dass gleich nach dem Tridentinum reformeifrige Bischöfe die damals allgemein in den Pfarrhäusern wohnenden Konkubinen vertrieben und damit ein für allemal Ordnung geschaffen hätten. In Wirklichkeit dauerte es, vor allem in Randgebieten, recht lange, bis ins 18. Jahrhundert hinein, die disziplinierende Vorschrift einigermaßen Wirklichkeit werden zu lassen. Das Volk verübelte den Priestern ihre Gefährtinnen nicht, im Gegenteil, sie machten den Dorfgeistlichen nur menschlicher und vor allem die Männer waren nicht unglücklich darüber, denn die Gefahr, dass jener ihren eigenen Frauen und Töchtern nachstellte, war so wesentlich geringer. Erst nach und nach konnten die Dörfler überzeugt waren, dass ein Pfarrer ohne Frau zu leben habe. In der Folge wurden die Zölibatsbrecher nicht mehr ohne weiteres akzeptiert; allerdings ist nicht zu übersehen, dass entsprechende Klagen beim Bischof oft bloße Verdächtigungen waren, um einen wegen anderer Reibungspunkte unbeliebten Geistlichen loszuwerden.
Die Abnahme der Konkubinate im 17. Jahrhundert lässt sich für viele Gebiete statistisch belegen. Französische Forscher allerdings meinen, es habe in vielen Fällen einfach eine Verlagerung stattgefunden, nämlich zu Prostituierten in der nächsten Stadt. Das war einfacher, anonymer, folgenloser und auf die Länge auch billiger als die Geliebte im Pfarrhaus. Relativ wenig weiß man über die damals in aller Regel mit dem Tod bestrafte Homosexualität bei Geistlichen. Bei der spanischen Inquisition war der Klerus mit 17 Prozent aller deswegen Verurteilten deutlich übervertreten. Noch erschütternder ist das Resultat einer Untersuchung zu Venedig im 17. Jahrhundert: Bei sexuellen Übergriffen auf Mädchen und Knaben, teils auf offener Straße, waren 37 Prozent der Täter Geistliche, weit mehr als ihr Bevölkerungsanteil. Über die Situation im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existieren bislang nur wenige wissenschaftliche Arbeiten. Jedenfalls wuchs der Druck enorm und mit ihm der Zwang zur Verheimlichung und auf Seite der Oberhirten die Sorge, die Täter zu decken und die Sache möglichst unauffällig zu erledigen. Zölibatsbrecher wurden in eine andere Pfarrei versetzt, eine bis in die letzten Jahrzehnte übliche Praxis. Für schwere Fälle errichtete man Korrektionshäuser. In vielen Fällen allerdings verließen die Delinquenten einfach den Priesterstand und heirateten, nicht selten verbunden mit der Konversion zum Protestantismus.
Der lange Schatten einer Epoche
Das Zweite Vatikanische Konzil hatte auf vielen Bereichen einen Bruch mit der triumphalistischen Kirche der „Pianischen Epoche“ mit sich gebracht. Er war aber nicht vollständig. Der Zentralismus besteht unverändert fort und die technischen Hilfsmittel werden benutzt, sobald sie zur Verfügung stehen. Auch die katholische Kirche wird heute mit E-Mail und Internet regiert. Bei Bischofswahlen haben Geistliche und Laien der Ortskirchen allenfalls auf dem Papier ein Vorschlagsrecht, die Forderung Leos des Großen bleibt weiterhin unerfüllt.
Das hergebrachte Pfarrwahlrecht ist zwar illusorisch geworden, weil die Kirchenräte froh sein müssen, überhaupt einen Geweihten auftreiben zu können. Allerdings begrenzt der immer massivere Priestermangel auch den Klerikalismus in seiner klassischen Form. Neben den ihnen vorbehaltenen religiösen Handlungen verbleibt den Priestern gar keine Zeit mehr, sich mit vielen anderen Dingen zu beschäftigen. Dass man den Diakonen jene vorenthält, bezeugt aber gerade noch einmal die hervorgehobene Stellung des Priesterstandes: Es herrscht heute einfach eine andere Form des Klerikalismus. Denn auch die Kompetenzen der Laien sollen möglichst klein gehalten werden, wiewohl es ein offenes Geheimnis ist, dass ohne ihre engagierte Mitarbeit die Seelsorge schlicht zusammenbrechen würde. Dass die Sexualität nach wie vor ein Problem ist, allerdings mehr für die Oberhirten als für die einfachen Gläubigen, zeigt sich an den aktuellen Debatten, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll. Das Zölibatsgebot ist faktisch ausgehöhlt, weil die Bischöfe es sich gar nicht leisten können, den Priestermangel durch rigorose Bestrafung entsprechender nonkonformer Geistlicher noch zu verschärfen. Aber weder die historische Evidenz noch der aktuelle Glaubwürdigkeitsverlust führten bislang zu einer Änderung.
Zurück zum fröhlichen Barock
Will man die unselige Erbschaft des kirchlichen 19. Jahrhunderts überwinden, so scheinen drei Wege möglich. Jede Epochenwende ist mit einer Abwertung der jeweils vorangehenden verbunden; vor der Finsternis der Vergangenheit erscheinen ja die eigenen Leistungen umso heller. So war es im Zweiten Vatikanum und seinen Folgeerscheinungen. Man kann hier mit guten Gründen eine zweite katholische Aufklärung sehen, auch wenn den Konzilsvätern die Bezüge zur ersten im späten 18. Jahrhundert gar nicht bewusst waren. Nun war diese eine Kriegserklärung an den Barock, insbesondere den kirchlichen. Ebenso ist heute bei den meisten kirchlichen Funktionären Barock ein absolutes „No go“; er war bloß eine Zeit schlimmer Verirrung. Auf ihn zurückgehende Frömmigkeitsformen sind allenfalls noch für versprengte Folkloristen und hoffnungslose Nostalgiker (inklusive überzeugte Rechtskatholiken) tragbar.
Etwas maliziös könnte man nun sagen: Wenn es je eine triumphale katholische Kirche gab, so im Barock. Tausende von reich geschmückten Kirchen und eine Unzahl von (erst neuerdings wieder entdeckten) herrlichen Werken der Kirchenmusik zeugen davon. So wäre eine Neubewertung des Barock vielleicht angezeigt. Wer sich auf die Reise von der miefigen Kirche des 19. Jahrhunderts zurück zum fröhlichen Katholizismus jener Zeit begibt, wird einige Überraschungen erleben!
Zweitens muss das kirchliche 19. Jahrhundert in den gesamten Kontext der Epoche gestellt und kritisch beurteilt werden. Sicher wird niemand den damaligen materiellen Fortschritt in Grund und Boden verdammen wollen. Die Verbesserungen in Hygiene und Medizin waren gewaltig, ebenso, wie gezeigt, auch die der Kommunikationsmittel. Allerdings zeigt gerade dieses Beispiel auch, wie der erzielte technische Fortschritt in sein Gegenteil umschlagen kann. Die Eisenbahn, vor allem elektrisch betrieben, mag auch heute für die Überwindung größerer Distanzen ein gutes Mittel sein. Aber die Massenmotorisierung und die gedankenlose Benutzung des Flugzeugs im 20. Jahrhundert hat nicht nur unser ganzes soziales Leben umgewälzt, sondern auch ökologische Probleme in bisher unbekanntem Ausmaß geschaffen, deren Folgen uns heute auf den Nägeln brennen. Welche unvorhergesehenen negativen Folgen das Internet mit sich bringt, sehen wir heutzutage klarer.
Weitere Beispiele lassen sich problemlos finden. Der in den Revolutionen proklamierte, im 19. Jahrhundert praktizierte und nach 1970 erneuerte Wirtschaftsliberalismus führte letztlich in die aktuellen Exzesse der Finanzwirtschaft und des globalen Kapitalismus, die eine kleine Schicht bereichern, aber die Massen verarmen lassen. Der Industrialismus – seinerzeit schon von den katholischen Romantikern kritisiert – brachte gewiss viele materielle Verbesserungen, produziert aber heute zu einem großen Teil überflüssige, jedoch mit viel Abfall verbundene Waren. Historisch führte er zu einer nie zuvor gekannten Ausbeutung der Arbeitskraft, einer schonungslosen Plünderung der natürlichen Ressourcen und zuletzt einfach der Auslagerung aller Probleme in die Dritte Welt. Das alles ist auch Erbschaft des 19. Jahrhunderts.
Die dritte Möglichkeit ergibt sich von selbst aus der zweiten: Statt sich in manchmal wenig relevanten und historisch eigentlich abgehakten kirchlichen Diskussionen selbst zu zerfleischen, müsste die Kirche zu jener kritischen Instanz werden, die heute trotz einiger Ansätze in grünen Parteien und NGOs weltweit fehlt. Sie nimmt diese Rolle heute zwar gelegentlich, aber insgesamt doch zu wenig entschieden wahr, bildet jedenfalls nicht ein machtvolles Gegengewicht. Vielleicht ließe sich so auch die verlorene Glaubwürdigkeit wieder gewinnen. Kernpunkt wären zweifellos soziale und ökologische Fragen. Bei der ersten kann man sich auf die heute fast vergessene katholische Soziallehre berufen, bei der zweiten auf den Schöpfungsgedanken („Laudato si‘“). Langsam dringt heute die Einsicht durch, diese unsere aktuellen Probleme ließen sich nicht einfach mit technischen Mitteln lösen: Es geht nicht ohne Konsumverzicht. Wer anders als das Christentum wäre in der westlichen Welt (und um die geht es) berufen, den ideellen Hintergrund dafür zu liefern?