BuchauszugErwartungen und Hoffnungen

Auch manche „ewigen Wahrheiten“ sind dem Wandel der Zeit unterworfen. Das kann gelassen machen – und Hoffnung schenken.

Ich bin am Ende meines Lebens weiterhin in einem suchenden Glauben unterwegs. Ich bleibe auf dem Weg in der Hoffnung, dass ich meine neue Heimat, welche mir ohne Beziehung zur ursprünglichen nicht denkbar ist, unbeschadet erreiche, angekommen bin ich indes noch nicht. Weil ich gelernt habe, meine alte Heimat mit anderen Augen zu sehen, mich Fragwürdigkeiten und Unglaubwürdigkeiten verunsichert haben, konnte ich nicht bleiben; ich musste aufbrechen und mich auf den Weg machen und die „Heimat“ der naiven und unkritischen Befindlichkeit verlassen, welche für mich einst über lange Zeit Geborgenheit, Sicherheit, Trost und Zuversicht, Vertrauen und Empathie bereithielt.

Indes bedeutet das nicht, dass ich meine Kirche verlassen will, vielmehr wünsche ich mir, dass auch meine Kirche sich auf den Weg macht und mein Exodus nicht ein Gang in die Leere ohne Ziel und ohne ein Ankommen bleibt. Ich hoffe, dass die Kirche, welche sich als pilgernde Kirche versteht und nicht müde wird zu erklären, dass sie eine Ecclesia semper reformanda, eine immer sich erneuernde Kirche ist, denn tatsächlich auch die mutigen Schritte unternimmt, sich in Verkündigung, Lehre und Struktur so zu verändern, dass sie einen Glauben vermittelt, der in der aufgeklärten und säkularen Gesellschaft sich behaupten kann und nicht zum Scheitern verurteilt ist.

Mein Auszug hat bislang ergeben, dass ich mich von vielen Vorstellungen, Gewohnheiten und Ritualen meines Glaubens trennen musste, was mir im Rahmen der rationalen Auseinandersetzung kaum schwerfiel, aber im Bezug auf meine emotionalen Bindungen im Glauben eine Betroffenheit auslöste, welche ich auch heute noch nicht so ohne Weiteres hinter mir lassen kann. Allerdings fühle ich mich inzwischen einer großen und auch gegenwärtig rasch wachsenden Gesellschaft von katholischen Christ(inn)en zugehörig, welche man schon in den 70er-Jahren unter dem von Paul Zulehner verwandten Begriff der „Auswahlchristen“ kannte und die damals schon eine Totalidentifikation mit ihrer Kirche und deren Lehren verweigerten. Auch nehme ich mich nicht mehr als Außenseiter wahr, wenn ich eine Totalidentifikation einem rückwärts orientierten Christentum zuschreibe und als Ausdruck fundamentalistischer und affirmativer Grundorientierungen im Glauben verstehe.

Wenn ich mehr Offenheit
von meiner Kirche erwarte,
habe ich auch die Hoffnung,
dass sie lernt, sich
außerhalb der eigenen
Denk- und Glaubens-
horizonte zu bewegen.

Ich fühle mich darüber hinaus in meiner Auffassung zur Totalidentifikation durch Joseph Kardinal Ratzinger, den inzwischen verstorbenen Papst Benedikt XVI., bestätigt, wenn dieser am Ende der 70er-Jahre schreibt, dass es theologisch legitim eine Totalidentifikation mit dem jeweiligen empirischen Zustand der Kirche nicht geben kann. Um der Kirche selbst willen müsse gerade die Identifikation der ganz Kirchentreuen immer Teilidentifikation bleiben. Er stellt dazu noch fest, dass das Offenbleiben, das Nicht-assimilieren-Können normal sei und es sicher nicht darum gehe, den Menschen einen quantitativ möglichst umfänglichen Entscheid für das vielfältige Glaubensangebot der Kirche aufzunötigen, sondern es vielmehr darauf ankomme, ihn an einen qualitativ wirklich zentralen Entscheid heranzuführen, ihn eben letztlich in die Identifikation zu führen mit dem, der sich mit uns identifiziert hat. Eine so verstandene Offenheit kennt keine Abgrenzung und Ausgrenzung und weiß – wie schon von Augustinus geäußert und wiederholt von Ratzinger in unterschiedlichen Schriften als Hinweis in die Argumentation eingebracht worden ist –, dass die, welche vermeintlich drinnen sind, oftmals draußen, und die, welche anscheinend draußen, oftmals drinnen sind, was die Kirche und ihren Glauben angeht.

Dennoch – so meine ich – ist meine Kirche von der hier angesprochenen Toleranz für Offenheit und Partialidentifikation heute weiter entfernt als in den 70er-Jahren. Katechismen und offiziell geäußerte Lehrmeinungen, Gottesdienstsprache und Credo von heute verstärken weiterhin die Tendenz zur Affirmation, welche Fundamentalisten, Rechtgläubige und Rückwärts- gewandte – wie auch immer man die im „wahren Christentum“ Lebenden bezeichnen mag – stark macht.

Statt Affirmation tun der Kirche Öffnung und Offenheit not. Affirmation bedeutet Starrheit, Sturheit, Abgrenzung und Ausgrenzung, das Festhalten an überholten Welt- und Gottesbildern, an Lehrformeln und Dogmatismen, welche in einer säkular aufgeklärten Gesellschaft keine Akzeptanz mehr finden und ins Leere laufen. Ohnehin ist der Glaube, der alles weiß und einordnen kann, kein Glaube. Nur ein suchender und fragender Glaube, der sich im Dialog und in Korrespondenz mit anderen Religionen und Glaubensentwürfen befindet und sich nicht besserwisserisch als einzig wahr und allein selig machend versteht, wird Zukunft haben und den Menschen in den besonderen Herausforderungen ihrer Lebenssituationen helfen und sie an der Weltgestaltung, der Verbesserung der Verhältnisse entsprechend der Botschaft Jesu teilhaben lassen.

Was Wahrheit und Offenheit anbelangt, darf in entsprechenden Erwägungen nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Christentum eine Geschichte hat und nicht voraussetzungslos vom Himmel gefallen ist und seine Inkulturation in die jeweils unterschiedlichen Gesellschaften verschiedener Zeiten sich unterschiedlich darstellt und eine Entwicklung hat. Das Christentum zeigt sich beeinflusst durch die Religionen und Völker vor und mit ihm. Ist der Glaube der Menschen vor Entstehung des Christentums wirklich so bedeutungslos, wie es die Lehre meiner Kirche zu glauben suggeriert, frage ich mich. Immerhin sind nach Auffassung der Naturwissenschaftler rund 170000 Jahre seit dem Werden des Homo sapiens bis heute vergangen. Generationen von Menschen sind also über fast 170.000 Jahre ins Grab gesunken, ohne etwas von Christus, dem Sohn Gottes, gehört zu haben. Was sind überhaupt schon die zweitausend Jahre Christentum gegenüber diesem großen Zeitraum – nicht nur rein zeitlich betrachtet? Jesus und seine Zeitzeugen gingen wohl in dem damals bestehenden Weltbild davon aus, dass die Welt gerade mal 4000 Jahre existierte. So betrachtet, eröffnet sich dem gegenwärtigen Menschen eine Perspektive, welche in besonderer Weise viele der von meiner Kirche im Glauben verbindlich gemachten Lehräußerungen als relative und zeitbedingte Aussagen erscheinen lässt.

Wenn ich mehr Offenheit von meiner Kirche erwarte, habe ich auch die Hoffnung, dass sie – statt immer wieder stringent theologisch-dogmatisch denkend, an verkündeten „Wahrheiten“ orientiert neue „Wahrheiten“ zu verkünden und alte zu bestätigen – lernt, sich maßgebend und richtungsweisend auch religionsgeschichtlicher Betrachtungsweisen zu bedienen und sich außerhalb der eigenen Denk- und Glaubenshorizonte zu bewegen. Dazu gehört sicherlich die Aufgabe, die eigene Religion auch einmal von außen mit den „Augen“ Nichtgläubiger oder Andersgläubiger kritisch in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang gilt dann auch zu sehen: Einerseits sind Religion und Glauben der Gesellschaft voraus, sie strukturieren und beeinflussen das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln der Gesellschaft und bleiben andererseits abhängig und beeinflusst von dem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln der Gesellschaft. Für mich ein dialektisches und dialogisches Spannungsverhältnis, dem meine Kirche in ihrer Verkündigung immer noch nicht entsprechend Rechnung trägt.

Immerhin hielt Karl Rahner schon in den 80er-Jahren für möglich, dass die Dogmen- und Glaubensgeschichte Veränderungen mit sich bringen werde, die man sich in seiner Gegenwart im Blick auf die Zukunft kaum vorstellen könnte. Er nahm sogar an, dass es in der Kirche möglich sein müsste, an die Zäsur beim Übergang des Christentums in die damalige heidnische Welt und damit auch vor die ersten Konzilien und ihre Dogmen zurückzugehen und dann unter anderen Verstehensvoraussetzungen eine neue Inkulturation des Christentums zu wagen. Ich bin diesbezüglich skeptisch, allerdings bleibe ich hoffnungsvoll, wenn ich die dienende, am Evangelium orientierte Hingabe und liebende Zuwendung von Papst Franziskus sehe und als Zeichen für mögliche Neujustierungen und Neuorientierungen einer von massivem Glaubens- und Vertrauensverlust bedrohten Kirche wahrnehme.

Dabei hoffe ich – in Distanz zur gegenwärtigen Kirche –, dass mich Gott bei der Suche nach dem Sinn von Welt und Leben auf Kurs hält und mich am Ende meines Lebens erwartet. Doch sind da immer Zweifel. Ich weiß, diese sind Teil meines Glaubens, der wesentlich nach einem Wort von dem Theologen Karl Rahner in der Spannung lebt, „die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten“. Gleichzeitig denke ich, wie der unlängst 96-jährig verstorbene Schriftsteller Martin Walser formuliert: „Wenn es keinen Gott gibt, fehlt er mir.“ Ein Gedanke, der immer in mir ist, nicht nur dann, wenn Unheil und Leiden in dieser Welt übermächtig werden. Für mein Ankommen nach dem Auszug bleibt die Erwartung: Gott spricht das letzte Wort.


Der Text ist ein Auszug aus Heribert Schefflers biographischem Buch Auszug ohne Ankommen: Ein Leben lang offen und kritisch im Glauben unterwegs (Bernardus Verlag, Aachen 2023, 326 S., 22 €).
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