"An das Wilde glauben"Wildnisbedarf

Ein Bär und eine Frau begegnen sich. Ihr Kampf wird zur Wiedergeburt, zum Staunen und Fragen. Nastassja Martins viel diskutiertes Buch kann auch als kleine Religionsphänomenologie gelesen werden.

Ein Buch wie der Einschlag eines Meteoriten: Eine französische Anthropologin fährt bis ans Ende der Welt und in die Tiefe der Menschheitsgeschichte. In Kampschatka will sie jene ursprünglichen Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur besser begreifen, die man früher etwa „animistisch“ genannt hat. Schon im Voraus träumt sie, was dann in der Wildnis passiert: die fast tödliche Begegnung mit einem Bären. Das Tier verbeißt sich in ihren Kopf und Körper, sie bleibt schwerstverletzt zurück.

Nun ist der Frau dieser Tag eingeschrieben wie ein Wund- und Geburtsmal. „Ein Bär und eine Frau begegnen sich, und die Grenzen zwischen den Welten implodieren“ – und das nicht nur physisch bis in die Knochen, sondern seelisch; nicht nur rational, sondern mythisch. Mit dieser hilflosen Unterscheidung sind wir mitten in dieser Geschichte einer Bewältigung: Wo verläuft die Grenze zwischen Wissenschaft und Mythos, Vernunft und Traum, zwischen Zivilisation und Wildnis?

Hin-gerissen werden

All das kommt erst richtig in Bewegung, als die wieder genesene Autorin sich ein zweites Mal in die Wildnis aufmacht und wirklich zu bewältigen beginnen kann. Der fast tödliche Kampf erschließt sich ihr wie eine Geburt im Tod. „Ich schreibe seit Jahren über die Grenzen, die Ränder, die Liminalität, die Übergangszone, die Zwischenwelt“ – aber mit diesem Text bekommt es ein neues Gewicht. Die nicht einmal 150 Seiten sind der bewegende Bericht über einen Grenzübertritt, schonungslos persönlich und zugleich in ständiger selbstkritischer Reflexion. Die starke Wirkung des Buchs resultiert auch aus jenem Wildnisbedarf nach Unmittelbarkeit, der unsere kontrollierte und künstliche Lebenswelt begleitet. Wer wollte nicht endlich einmal hin-gerissen werden?

Schon vom treffenden Titel her kann das Buch wie eine kleine Religionsphänomenologie gelesen werden – und als Anfrage an den spirituellen und religiösen, auch kirchlichen Betrieb. Religion heißt ja – ein erster Hinweis – Unterbrechung: Trans-zendieren „bis in die Tiefen der Zeit vor der Zeit…, die Zeit des Mythos, der Matrix, des Urbeginns“ – und damit die Frage nach dem Unverfügbaren, das in allem und über allem wirkt.

Die Urgewalt im Inneren

Religion hat zweitens mit Exzess zu tun, mit Sprengung und Neuvermessung der Grenzen, mit dem Kundschafter-Geist ins (ganz) andere Neuland. Deshalb ist drittens vom Faszinierenden und Erschreckenden die Rede, das Gegenteil des Domestizierten und Eingepferchten. Und es geht viertens höchst körperlich zu, vital und sinnlich. Immer ist die Frage dabei, wer ich denn wirklich bin. „Ich sage, tief in uns muss doch eine Urgewalt brodeln. Eine Hälfte des Körpers, des Geistes, die ständig bereit ist, die fragile Einheit unseres Lebens zu zerreißen… Man müsste, nein, man muss um jeden Preis aus dieser tödlichen reversiblen Dualität herauskommen.“ Längst ist damit fünftens die Frage aller Fragen gestellt: Was tue ich, wenn ich Gott sage und ihm gar begegnen will? Das Wort fällt diskreterweise nicht, aber jede Seite macht deutlich: Gotteserfahrungen sind eine unglaubliche Sache.

Ist also die übliche Redeweise von Gott zu niedlich, sind kirchliche Symbole und Riten zu verwaltet und verkapselt? Der Prophet Hosea (13,8) jedenfalls hörte Gottes Stimme in gefährlicher Wildheit: „Ich falle sie an wie eine Bärin, der man die Jungen geraubt hat.“ Und einem Nikolaus von Flüe riss es fast das Gesicht weg ob der unmittelbaren Gottesbegegnung. Und wer dächte nicht auch an den Gotteskämpfer aus Nazaret und Gethsemane, an diesen wilden Träumer, der für das Über-Leben einsteht, das Gott heißt?

Nastassja Martin hat Recht: „Ich denke an all diese Menschen, die in die dunklen, unbekannten Zonen der Alterität vorgedrungen und von dort zurückgekehrt sind, verwandelt und nunmehr fähig, dem, ‚was kommt‘, aus einer etwas verschobenen Perspektive zu begegnen“. Und so endet Martins Text mit einem Loblied auf „die Ungewissheit: ein Versprechen von Leben“.

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