Offene Bilanz von Pater Hans Langendörfer„Ich erkenne keinen Masterplan“

25 Jahre lang war der Jesuit Hans Langendörfer Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz. Er erlebte vier Vorsitzende, drei Päpste und prägte die wichtigsten Entwicklungen der katholischen Kirche in Deutschland mit. Für CHRIST IN DER GEGENWART zieht er offen Bilanz.

„Wunderbare, ganz unterschiedliche Chefs“: Pater Hans Langendörfer (re.) mit Georg Bätzing, seit 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
„Wunderbare, ganz unterschiedliche Chefs“: Pater Hans Langendörfer (re.) mit Georg Bätzing, seit 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz© picture alliance/dpa | Arne Dedert

Eine Woche vor Beginn meiner Zeit als Sekretär der Bischofskonferenz besuchte Papst Johannes Paul II. im Juni 1996 unser Land. Es waren schöne Tage einer kirchlichen Würdigung der wiedererlangten Einheit Deutschlands. Alles im Ablauf eines päpstlichen Besuchs war für mich neu, auch die traditionelle Ansprache des Pontifex an die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz. Dort kam der Papst auch auf die Abtreibung zu sprechen: „Im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Schwangerschafts-Konfliktberatung steht die Entscheidung über die Zuordnung der kirchlichen Beratungsstellen zur staatlich geregelten Beratung an. Diese Entscheidung muss mit großer Sorgfalt im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen vorbereitet und gefällt werden.“ Ich kannte das Ringen um die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs und ahnte, dass diese Sätze die ersten Jahre meines Dienstes mitprägen würden.

Genau genommen wurden in der Ansprache des Papstes, was mir erst nach und nach klar wurde, die meisten Themen explizit oder implizit intoniert, die mich als Sekretär während der vergangenen 25 Jahre kontinuierlich beschäftigten: der Schutz des menschlichen Lebens, die Autorität und Kompetenz des Amtes und insbesondere des Papstamtes, das Verhältnis von Kirche und öffentlicher Ordnung, die Entwicklung der geistigen und religiösen Orientierung in der Bevölkerung und die kirchliche Antwort darauf im Sinne neuer Bemühungen um die Glaubensverkündigung. Einige Themen kamen später hinzu, vor allem die Aufdeckung der ungeahnt vielen Fälle sexuellen Missbrauchs und die Aufarbeitung dieses Skandals.

Ich will natürlich nicht behaupten, es gebe für einen Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz nicht schier unzählige Themen und große Aktivitäten. Zu denen gehörten der Weltjugendtag (2005), der Deutschlandbesuch von Papst Benedikt XVI. vor jetzt zehn Jahren, der einen bewegenden Höhepunkt meiner Tätigkeit darstellt, die Katholikentage und Ökumenischen Kirchentage.

Hier ist das Vertrauensverhältnis zwischen dem Sekretär und dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz von größter Wichtigkeit. Karl Lehmann: der Professor alten Schlages auf dem Bischofsstuhl, ein badischer Liberaler, überzeugter Römer seit Studienzeiten und Meister menschlicher Nähe. Robert Zollitsch: der redliche, hingebungsvolle Brückenbauer, selbstbewusster Vertreter Freiburger Traditionen und Krisengeschüttelter der ersten Stunde. Reinhard Marx: ostwestfälische Eiche in Bayern und Rom, unüberhörbar präsent und vitaler Impulsgeber mit Herz. Georg Bätzing: Realist mit Herz, unerschrockener Optimist und entscheidungsstarker

Vormann der „jungen“ Bischöfe – sie alle waren wunderbare, ganz unterschiedliche Chefs, die das Sekretariat und den Sekretär gefordert und gefördert haben.

Aber ungeachtet wechselnder und immer neuer Themen und Engagements des Sekretärs gab und gibt es kontinuierliche, vielfach variierte Themenfelder. Ich nenne fünf von ihnen.

Erstens: Menschliches Leben ist verwundbar und fragil – und „Gott ist ein Freund des Lebens“, wie eine ökumenische Schrift aus 1989 titelt. Die deutschen Bischöfe tragen dieser Schutzbedürftigkeit des Menschen vielgestaltig Rechnung. Das betrifft den Lebensschutz von Anfang an und bis an das Ende des irdischen Lebens, wie der augenblickliche Streit um die Selbsttötung und eine mögliche Assistenz zum Suizid beweisen. Es ist nicht nur die kirchliche Beratungsarbeit, sondern es sind auch die ungezählten Herausforderungen im Bereich von Biomedizin und Bioethik, welche die Bischöfe und ihr Sekretariat beschäftigen. Besonders die Eingriffe in das menschliche Erbgut verlangten eine ethische Klärung, aber auch die Transplantationsmedizin.

Der Lebensschutz ist zudem nicht nur individualethisch belangvoll, sondern auch sozialethisch. Dann betrifft er die Herausforderungen durch die verschiedenen Formen der Migration oder auch durch Klimaschutz und nachhaltige Energie.

Weil es um ein hohes Gut geht, traten in der Konferenz immer auch Differenzen und Spannungen hinsichtlich des Lebensschutzes auf. Sie bezogen sich bisweilen auf die moralischen Aspekte und dann auch das Verhältnis zu Rom (Beispiel: Donum Vitae), gründeten aber auch in Fragen der politischen Analyse und deren kirchlicher Verarbeitung, zum Beispiel in der Migrationspolitik. Ihren theologisch-ethischen Kern haben solche Kontroversen oft darin, dass das Verhältnis zwischen sittlicher Urteilsbildung, Autonomie und kirchlich-lehramtlicher Verbindlichkeit und deren Wandelbarkeit unterschiedlich gesehen wird.

Besonders ist das bei den Themen der Sexualmoral und in Bezug auf verschiedene menschliche Partnerschaftsformen der Fall. Natur- und Vernunftrecht sowie die Genderdebatte erhitzen die Gemüter. Der kirchlichen Lehre wird vorgehalten, modernen Erkenntnissen etwa zur Vieldimensionalität der Sexualität nicht Rechnung zu tragen. Die Mehrzahl der Bischöfe dürfte die tiefgreifende Entfremdung zwischen der geltenden kirchlichen Lehre und dem Ethos eines Großteils der Gläubigen und der Gesamtgesellschaft leidvoll wahrnehmen und für neue Wege – gemeinsam mit dem römischen Lehramt – plädieren. So ist es ganz deutlich in den Diskussionen des Synodalen Weges der Fall.

Man könnte meinen, dass Debatten, die ernsthaft geführt werden, als gut angesehen werden. Diese Auffassung eint in der Tat, glaube ich, die verschiedenen Gruppen in der Kirche. Aber eine oft unerbittliche Aufgeregtheit und Empörungsbereitschaft auf allen Seiten erschweren es, das Ziel zu erreichen. Das stimmt für einzelne kirchliche Gruppierungen und Strömungen, aber auch für die Bischofskonferenz. Ich erinnere mich besonders der Zeit, als Kardinal Lehmann Vorsitzender war und von fast allen Seiten angegriffen wurde. Gegenwärtig werden oft fast apokalyptische Bilder vom drohenden Niedergang und einer Selbstabschaffung der Kirche an die Wand geworfen, Misstrauen und Argwohn prägen den Umgang miteinander, leider auch Bereitschaft zur Intrige. Ich habe solche Spannungen nachhaltig erlebt und neige inzwischen dazu, sie als unüberwindbar einzuschätzen.

Zweitens: Als einen weiteren Schwerpunkt möchte ich die vielgestaltigen Bemühungen nennen, unter den Bedingungen einer weltanschaulich pluralen oder auch religiös uninteressierten Gesellschaft und schwindender Kohäsionskraft des christlichen Glaubens diesen neu und kraftvoll zu verkünden: Neue Evangelisierung heißt der Schlüsselbegriff. Papst Johannes Paul II. hat sie (auch in der eingangs genannten Rede) gefordert, aber auch seine Nachfolger Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus schärften und schärfen sie ein.

Zunächst war es zu Beginn der 2000er-Jahre das Thema „Missionarisch Kirche sein“, das diesbezüglich in der Bischofskonferenz zum Programm wurde – maßgeblich geprägt durch den Erfurter Bischof Joachim Wanke. Vielleicht war es die vorläufig letzte grundsätzlich optimistisch geprägte Kampagne der Bischofskonferenz. Die folgenden Kampagnen zur Klärung der eigenen Identität und zur Rückgewinnung von Mut und Freiheit sind eher defensiv und um Schadensbegrenzung bemüht gewesen: der Dialogprozess und der Synodale Weg, der ja der Erkenntnis Rechnung trägt, dass die Schlussfolgerungen der MHG-Studie jede Verzögerung der ergebnisorientierten Debatte über Themen, die schon seit 40 Jahren anstehen, endgültig verbieten.

Auch wenn es üblich geworden ist, den Dialogprozess eher als frustrierend darzustellen, so war er doch eine mutige Initiative des Vorsitzenden Erzbischof Zollitsch, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts zu einem Gesprächsklima beigetragen hat, das erst einmal neu geschaffen werden musste – mehr allerdings nicht, denn es gab in der Tat keine verbindliche Meinungsbildung und Abstimmungen. Die sind dem Synodalen Weg vorbehalten, der als eine wichtige Neuerung das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in die Trägerschaft einbezieht und so dem Ziel der Synodalität verpflichtet ist. Kardinal Marx hat ihn der Bischofskonferenz vorgeschlagen. Ich finde es einen wichtigen Schritt nach vorne, dass das Zentralkomitee und die Bischofskonferenz jetzt so intensiv zusammenwirken. Sie sind zwei Pfeiler kirchlichen Lebens – ihr Verhältnis ist immer wieder klärungsbedürftig, aber es scheint mir doch sehr wichtig, dass es ein förderliches Verhältnis ist. Man denke nur zurück an positive Erfahrungen bei der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik in den 70er-Jahren.

Drittens: Wieder und mit großer Dichte steht dabei auch die Frage im Raum, wie sich die Kirche in Deutschland zur Weltkirche in Rom positioniert. Mich hat diese Frage unablässig begleitet, teils lockerer, wenn es um das Reformationsgedenken ging (2017), teils bedrängender, wenn es wie jetzt um die einzelnen Themen des Synodalen Weges oder um aktuelle theologische Fragen etwa rund um den Empfang von Eucharistie oder Abendmahl in derjenigen Kirche geht, der ein Gläubiger jeweils nicht angehört. Ein „richtiger“ Ökumenischer Kirchentag 2021 hätte letzterem Problem vermutlich viel zusätzliches Momentum gegeben.

Besuche und Gespräche mit dem Heiligen Vater und Vertretern der Kurie auf allen Hierarchieebenen haben mich ein breites Spektrum von Stimmungslagen gegenüber der Kirche in Deutschland spüren lassen – und umgekehrt. Ob und wie sich die Kirche bei uns loyal verhält – was auch immer das bedeuten mag –, wird gerätselt. Mancher traut ihr die Bereitschaft zum Separatismus zu, den ich allerdings im Sinne eines deutschen Sonderweges nicht entdecken kann. Es ist schon lange absehbar, dass das Verhältnis zwischen Zentralität und Dezentralität kirchlichen Glaubens und Lebens dringend zur Debatte und wohl auch Reform steht – das ist auch kein Wunder in einer Weltkirche mit einer unüberschaubaren Vielfalt an Kulturen.

Viertens: Die Mitwirkung der Kirche in Rom ist wichtig und unverzichtbar. Ähnlich verhält es sich auch um ihre Mitwirkung in der Gesellschaft. Vieles wird erfolgreich in Berlin getan, wo das Katholische Büro Kontaktadresse und Impulsgeber ist. Für den Sekretär heißt es, auf Tagungen und Seminaren, bei Präsentationen und Einladungen zu erscheinen und bisweilen auch mitzuwirken, ein Netzwerk in viele Bereiche der Gesellschaft, des Wirtschaftslebens, der Stiftungen und Fachgesellschaften zu knüpfen: dies alles gerne und ernsthaft zu tun, ohne doch die gebotene Distanz zu verlieren. Solche Verbindungen gestatten das freiheitliche Deutschland und die Europäische Union, sie fordern sie aber auch: Persönliche, solide Kontakte sind unverzichtbar, wenn die Kirche in ihrer spezifischen Relevanz Anerkennung finden will.

Fünftens: Deutschland ist das Land der Reformation. Die Kirchen tragen in ihrem umfassenden Zusammenschluss, der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), und in der sehr engen und vielgestaltigen Zusammenarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz dafür Verantwortung, dass es zu guten, korrekten und zukunftsweisenden ökumenischen Kontakten kommt. Papst Benedikt hat dies durch die Entscheidung unterstrichen, während seines Deutschlandbesuches eine ökumenische Begegnung im Erfurter Augustinerkloster zu begehen. Mir hat das Reformationsjubiläum 2017 eine tiefe Erfüllung gebracht und viele Impulse gegeben. Viel Vertrauen wurde vertieft – und wird hoffentlich nicht verspielt werden.

Die anhaltend große Zahl von Kirchenaustritten, der verstörende und empörende Skandal um den sexuellen Missbrauch und in der Folge ein großes Misstrauen gegenüber der Kirche und vielen ihrer Repräsentanten und Einrichtungen bewirken auf allen Seiten eine weit verbreitete Demotivation und vereinzelt auch Defätismus. Wie kann und soll es in Anbetracht dessen weitergehen? Wie werden neuer Schwung und neue Glaubensfreude grundgelegt und gefördert werden können? Und ein Selbstvertrauen, das der Realität und der Schuldgeschichte nicht ausweicht, sie aber im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit nicht für das Letzte hält, was gesagt wird?

Ich erkenne keinen Masterplan und würde mich hüten, wohlfeile Konzepte zu verkünden. Es ist alles zu komplex. Doch kommen mir einige Elemente in den Sinn, die mir wichtig erscheinen:

• Professionalität in Planung, Organisation, Realisierung und Begründung des Handelns der Kirche und Diskursoffenheit hinsichtlich ihres Redens sind unverzichtbar. Ohne sie schwindet ihre Anschlussfähigkeit in einer Gesellschaft, die für Sonderstellungen immer weniger Verständnis hat

• Zur Professionalität gehört ausdrücklich auch das selbstbewusste Festhalten an Prioritäten, die dem Glauben entwachsen: das Herz für die Armen aller Art und das Bemühen, die Gratuität der Liebe als letzten Impulsgeber zur Geltung zu bringen.

• Weil wir uns in gewisser Weise am Beginn einer neuen Etappe kirchlichen Lebens in Deutschland und unserer Weltgegend befinden, zählen besonders – fast frühkirchlich – die kirchlich gebundene Glaubens- und Persönlichkeitsstärke und Integrität der Einzelnen, die dann Menschen zum Glauben finden lassen oder ihn in ihnen stärken. Sie sind Ausdruck von Würde.

Dies alles übersteigt die Möglichkeiten und Aufgaben des Sekretariats unserer Bischofskonferenz. Das Sekretariat und die Person an seiner Spitze können aber ihren begrenzten Beitrag umso besser leisten, je klarer die Erwartungen an sie und je vertrauensvoller die Kommunikation mit denen sind, die sie in Dienst nehmen. Daran wird in Bonn gegenwärtig gearbeitet.

„Eine oft unerbittliche Aufgeregtheit und Empörungsbereitschaft auf allen Seiten erschweren es, das Ziel zu erreichen.“

„Ich habe solche Spannungen nachhaltig erlebt und neige inzwischen dazu, sie als unüberwindbar einzuschätzen.“

„Es ist schon lange absehbar, dass das Verhältnis zwischen Zentralität und Dezentralität kirchlichen Glaubens und Lebens dringend zur Debatte und wohl auch Reform steht.“

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