10 Jahre Arabischer Frühling in ÄgyptenArabischer Winter

Am 25. Januar 2011 brach der Arabische Frühling in Ägypten aus – und zog die ganze Welt in seinen Bann. Was geschah vor zehn Jahren und was ist von der Aufbruchsstimmung geblieben?

Gepanzerte Sicherheitskräfte rücken mit Schlagstöcken und Tränengas vor, reißen Plakate herunter und führen einzelne Demonstranten ab. Doch die Menge bleibt. Vor zehn Jahren wurden die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo zum Symbol des Arabischen Frühlings. Die ganze Welt blickte nach Kairo und fieberte mit, ob es diesen jungen Menschen, die sich über Facebook und Twitter zusammengefunden hatten, gelingen würde, einen Diktator zu stürzen. Kareem Farid, damals 19, war von Anfang an auf dem Tahrir-Platz dabei. „Es war ein spontaner Entschluss“, erzählte er später im „Deutschlandfunk“. „Vorher war ich ein ganz normaler Bürger und litt auch nie unter der Polizei. Aber ich habe ja zwei Augen im Kopf und sah die Misere im Land. Was ich mir als junger Mensch vor allem wünschte, war Hoffnung.“

Die „Misere im Land“ war Präsident Husni Mubarak, der Ägypten in den drei Jahrzehnten seiner Regierungszeit Schritt für Schritt zur Scheindemokratie gemacht hatte. Seine Neue Demokratische Partei (NDP) regierte uneingeschränkt, Oppositionsparteien spielten keine Rolle. Ein engmaschiger Sicherheitsapparat überwachte die Bürger. Wer zu laut die Regierung kritisierte, fand sich schnell in einem Foltergefängnis wieder. Dieses dauernde Klima der Überwachung und Einschüchterung hatte sehr konkrete Auswirkungen: In einer Studie aus dem Jahr 2005 gaben neun von zehn befragten ägyptischen Jugendlichen an, politisch vollkommen desinteressiert zu sein.

Ein Blogger wird zum Märtyrer

Aber ob politisch interessiert oder nicht – durch steigende Jugendarbeitslosigkeit wurden viele junge Ägypter sehr direkt mit den ökonomischen Folgen der NDP-Politik konfrontiert. So hatte der Anstieg der Getreidepreise zu Jahresbeginn 2011 verheerende Folgen. Ein entscheidender Faktor für den Ausbruch der Proteste waren auch die Aufstände in Tunesien. Dabei hatten die ägyptischen Aktivisten ihre Identifikationsfigur schon gefunden, bevor die volle Wucht des Arabischen Frühlings das Land mitriss: Khaled Said war bereits ein Jahr zuvor, im Juni 2010, gestorben. Nachdem der 28-jährige Blogger aus Alexandria ein belastendes Video über einen Polizeieinsatz veröffentlicht hatte, wurde er von der Staatssicherheit aufgegriffen und auf offener Straße totgetreten. Wenige Tage nach seinem Tod gründete sich in seinem Gedenken eine Facebook-Gruppe, die binnen weniger Wochen mehrere Hunderttausend Mitglieder gewinnen konnte. Obwohl sie keine politische oder ideologische Agenda im klassischen Sinne teilten, hatten sie ein gemeinsames Ziel – den Sturz von Präsident Mubarak und ein Ende der Polizeigewalt. Mit einer Großkundgebung auf dem Tahrir-Platz erreichte der Arabische Frühling am 25. Januar 2011 weltweite Aufmerksamkeit.

Als klar wurde, dass Polizei und Geheimdienst die Protestbewegung – trotz mehrerer Hundert Todesopfer – nicht zerschlagen konnten, wandte sich die Armee gegen ihren Präsidenten. Der Historiker Martin Pabst geht dabei von einer Interessenallianz zwischen Demonstranten und Generälen aus. Indem sie dem Präsidenten den Gehorsam verweigerten, konnten sich die Streitkräfte als Sympathisanten der Revolution inszenieren und ihren Ruf in der ägyptischen Bevölkerung verbessern. Ohne militärische Unterstützung hatte Mubarak keine Möglichkeit, die Proteste aufzuhalten – am 11. Februar 2011 trat er von seinem Amt zurück. Schließlich übernahm eine Militärregierung unter Führung des Obersten Militärrats die Herrschaft bis zur nächsten Wahl. Ihre klare Positionierung während der Aufstände hatte die ohnehin schon hohen Beliebtheitswerte der Armee in der Bevölkerung noch verbessert, so dass es ihr gelang, die Revolution für sich zu vereinnahmen. Die unangefochtenen Sieger der Parlamentswahl zum Jahreswechsel 2011/12 wurden die Muslimbrüder, deren Freiheits- und Gerechtigkeitspartei knapp die Hälfte der Stimmen gewinnen konnte.

Obwohl der neu gewählte Präsident Mohammed Mursi einem verhältnismäßig gemischten Kabinett vorstand, das Säkularen, Christen und muslimischen Splittergruppen Platz bot, fürchteten viele, Ägypten könnte sich zur religiösen Diktatur entwickeln. Die Muslimbrüder hatten schon unter Mubarak offen von der Errichtung eines Gottesstaates geträumt. Als es erneut zu Straßenschlachten kam, schritt die Polizei nicht ein – und das Militär stellte Mursi ein 48-Stunden-Ultimatum, um den öffentlichen Frieden wieder herzustellen. Als er sich weigerte, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen, wurde er am 3. Juli 2013 abgesetzt. General Abd al-Fattah as-Sisi übernahm den Posten als Präsident. Er hat ihn bis heute inne.

Unter der Militärregierung begann für die ägyptischen Muslimbrüder eine Zeit intensiver politischer Verfolgung. Die Bruderschaft wurde als terroristisch und staatsfeindlich eingestuft. Gegen mehr als fünfhundert Parteimitglieder wurden Todesurteile verhängt. Dabei beschränkten sich die Repressionen des Militärrats schon bald nicht mehr nur auf die Gruppe der Muslimbrüder. Bezeichnenderweise wurde mit „Al Jazeera“ ausgerechnet der Sender früh Opfer der neuen Zensoren, der 2011 so unverzichtbar für den Sturz Mubaraks geworden war. Journalisten wurden willkürlich zu Terroristen erklärt und verhaftet. Wo neue Demonstrationen hochkochten, wurden sie schnell und brutal niedergeschlagen. Bei den letzten Wahlen im Frühjahr 2018 vermeldete as-Sisi einen Sieg mit über 95 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die meisten Gegenkandidaten waren vorher verhaftet oder genötigt worden, ihre Kandidatur zurückzuziehen.

Was vom Frühling bleibt

Ist der Traum von Demokratie in der arabischen Welt also ausgeträumt? Folgt auf die kurzen Frühlingsgefühle ein langer Arabischer Winter des politischen Stillstands? Der finnische Kulturwissenschaftler Samuli Schielke sieht noch immer Grund zur Hoffnung. Für ihn ist der Arabische Frühling das „Schlüsselereignis einer Generation“. Die Erinnerung daran, wie schnell Diktatoren gestürzt werden konnten, die jahrzehntelang regierten, hat sich tief ins Bewusstsein der Bevölkerung eingebrannt. Umfragen unter arabischen Jugendlichen zeigen, dass immer weniger auf die Autorität von politischen Führern vertrauen. Die jungen Menschen wollen selbst über ihr Leben und ihre Zukunft entscheiden. „Das unbeschreibliche Gefühl, das ich damals auf dem Tahrir-Platz verspürte, hat alles in meinem Leben verändert“, erzählt Kareem Farid Jahre später. „Ich traf Liberale, Linke, Islamisten. Alle waren da, und alle kämpften für Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Plötzlich gab es Hoffnung.“ Inzwischen hat Farid eine Ausbildung zum Journalisten gemacht, um über politische Missstände und Machtmissbrauch zu berichten. Ob er eines Tages in einem freien, demokratischen Ägypten leben wird, lässt sich nicht sagen. Sicher ist aber, dass für die Generation des Arabischen Frühlings kein Weg zurück zu den Zeiten führt, als neun von zehn sich nicht für Politik interessierten.

Länderinfo

Tunesien

Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 führte zu Demonstrationen. Als sich die Streitkräfte weigerten, diese gewaltsam zu beenden, floh Präsident Zine el-Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien. Im Oktober fanden freie Wahlen statt. 2015 wurde Tunesien als erstes arabisches Land von der politischen Organisation Freedom House als „frei“ eingestuft. Doch die wirtschaftlichen Probleme blieben und die Corona-Krise sorgt aktuell für neuen Zündstoff. Zum zehnjährigen Jahrestag des Sturzes von Ben Ali kam es zu nächtlichen Ausschreitungen.

Jemen

Am 27. Januar 2011 begannen die Proteste im Jemen. Als Auslöser gilt eine Verfassungsänderung, mit der Präsident Ali Abdullah Salih sein Amt auf Lebenszeit sichern wollte. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften mit zahlreichen Todesopfern. Am 23. November 2011 unterzeichnete Salih ein Abkommen, das seinen Rücktritt vorsah. Doch die Wahlen im Februar 2012 führten nicht zu einem Ende der Gewalt, bis heute herrscht Krieg. Das Hilfswerk Unicef nannte Jemen Ende 2020 den „gefährlichsten Ort der Welt“.

Libyen

Die großen Protestwellen begannen in Libyen mit dem 17. Februar 2011. Diktator Muammar al-Gaddafi setzte früh das Militär gegen die Demonstranten ein, in strategisch wichtigen Gebieten kam es zu Stellungskriegen. Schließlich griffen NATO-Truppen ein und halfen, die Regierung zu stürzen. Im Juli 2012 fanden die ersten freien Wahlen seit über vierzig Jahren statt, bei denen der politisch gemäßigte Mahmoud Jibril siegte. Die Macht wurde ihm allerdings von islamistischen Gruppen streitig gemacht. Libyen versank in einem neuen Bürgerkrieg, der das Land bis heute prägt.

Syrien

Ab März 2011 gingen Hunderttausende gegen das Regime von Baschar al-Assad auf die Straße. Als die Demonstrationen brutal zerschlagen wurden, bewaffneten sich zahlreiche Rebellen. Allerdings gelang es den Demonstranten nicht, die Regierung zu stürzen, bevor auch das Land in einem unübersichtlichen Bürgerkrieg versank, der – mit Unterbrechungen – bis heute anhält und in den sich auch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ einmischte. Aus regionalen Konfliktherden entwickelte sich ein globaler Stellvertreterkrieg zwischen verschiedenen Interessensgruppen, darunter die USA und Russland.

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