Wie Gott erkennen?Weisheit des Nichtwissens

Etwas nicht zu wissen, ist unangenehm. Es gilt als Mangel, der möglichst schnell zu beheben ist. Im Religiösen stellt sich das anders dar. Hier kann die Einsicht ins Nichtwissen gerade zum Beginn des Glaubens werden.

Wir sind eine Wissensgesellschaft, die folglich die Wissenschaft zur vorrangigen Richtschnur macht, und das in allen Bereichen privaten und gesellschaftlichen Handelns. „Wissen ist Macht“, lautet ein gängiger Satz. Er geht auf den englischen Philosophen Francis Bacon (1561–1626) zurück, der im Zeitalter der Aufklärung an die Erkenntnisse der Naturwissenschaften heranführen wollte. Heute unterstreicht der Satz den Vorrang des Wissens, das den Anspruch enthält, alle Probleme zu lösen und noch offene Fragen zu beantworten.

Kommen wir einmal ins Nachdenken über uns und die Welt, in der wir leben, kann uns bewusstwerden, wie groß der Bereich dessen ist, was wir nicht wissen. Ja, dann scheint es so, als ragte unser Wissen wie ein einsamer Fels aus einem Meer von Nichtwissen. Dann drängt sich der Eindruck auf, dass es gerade die Wissenschaft ist, die uns immer neue Bereiche des Nichtwissens eröffnet.

Grenze des Wissens

Und dies zumeist dann, wenn die Fragen über das Anschauliche hinaus nach dem Ursprünglichsten und Einfachsten gestellt werden. Dann zeigt sich, dass die Suche nach den Grundbausteinen der Materie, nach dem Ursprung und den Dimensionen des Kosmos in Raum und Zeit stets in neue Rätsel und Paradoxien mündet.

Es sieht doch so aus, als würden wir, wenn es um Entscheidendes und Wesentliches geht, was unser Dasein ausmacht, sehr bald ins Dunkel des Nichtwissens, des Geheimnisses gelangen. Und dies erst recht, wenn wir über unser begrenztes menschliches Leben hinausfragen nach dem Transzendenten, dem, was letztlich Leben als solches sinnvoll macht, es begründet und erhält, Fragen, die seit jeher die Philosophen und Theologen beschäftigen.

Der bekannte, Sokrates zugeschriebene Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist keine Übung in Bescheidenheit eines großen Philosophen, sondern die Verkürzung eines Zitats aus Platons „Apologie“, der Verteidigungsrede des Sokrates. Und im Zusammenhang zeigt sich, dass sich dieses Nichtwissen auf das Wissen um das Gute bezieht, worauf der Mensch wesensmäßig angelegt ist. Doch dieses Gute ist für Platon letztendlich identisch mit dem Wahren, dem Absoluten, auf das hin der Mensch lebt, aber das er denkend nicht erfassen kann. Mit diesem Nichtwissen gilt es dennoch nach dem Guten zu streben und diese Grenze anzunehmen.

Das Dunkel des Nichts

Wie sehr das Nichtwissen notwendig zugleich die Sinnfrage aufwirft, hat der Religionsphilosoph Bernhard Welte (1906–1983) erläutert. In seinem kleinen, aber sehr dichten Buch „Das Licht des Nichts“ geht er der Erfahrung des Nichts im Erleben von Sinnlosigkeit und Tod nach, insbesondere dann, wenn jedes religiöse Erleben wegfällt. Welte meint, dass dieses Erleben des Nichts durch Betriebsamkeit überdeckt wird, um nicht bewusstzuwerden. Wo religiöse Erfahrung ausfällt, macht sich zweckrationales Wissen breit und bestimmt als herrschende Ideologie Denken und Handeln. Das Nichts auszuhalten, bedeutet, zu spüren, dass es etwas Unendliches und Unbedingtes in sich birgt und damit eine Qualität hat, die traditionell dem Göttlichen zugeschrieben wird. Es tut sich immer wieder und überall auf, durchwirkt alltägliches Erleben im Scheitern und Misslingen, in Kriegen und Gewalt, in Leid und Tod. Was sich „hinter“ dem Nichts verbirgt, wissen wir nicht. Vor allem das Nichtwissen um das Dunkel des Nichts im Tod stellt den Menschen deshalb vor die Entscheidung, im Nichts ein verborgenes Licht zu erahnen oder resigniert das Nichtwissen als Beweis dafür zu nehmen, dass „nichts dahinter“ ist.

Der unbekannte Autor aus dem 14. Jahrhundert, der die „Wolke des Nichtwissens“ verfasste, setzt noch „Gott“ als das große Du voraus, mit dem sich der Mensch durch liebende Hingabe vereinigen, das er aber nicht denkend ergründen kann. Davon sind wir heute weit entfernt. Dass Gott nicht erkannt werden kann, dass es besser ist, zu schweigen, ist inzwischen die Grundmelodie, welche die theologischen Reflexionen über die Gottesfrage beherrscht. Dietrich Bonhoeffers bekannter Satz, dass wir leben müssen, als gäbe es Gott nicht, ist fast wie ein Mantra, welches das Erfahrungsdefizit eines Gottes, der sich im Alltag konkret nicht zeigt, benennt.

Doch dass wir nicht wissen, wer „Gott“ ist, thematisiert schon das Johannesevangelium. „Ihr betet an, was ihr nicht kennt“, sagt Jesus zu der Frau am Jakobsbrunnen (4,22). Die Menschen kennen den nicht, der Jesus gesandt hat (7,28).

Aber das Johannesevangelium als die jüngste und reifste Evangelienschrift rückt auch die Gestalt Jesu ins Dunkel, die uns doch durch die synoptischen Evangelien so vertraut scheint.

Schon Johannes der Täufer spricht von dem, „den ihr nicht kennt“ (1,26). Und im Disput mit den Pharisäern sagt Jesus, dass wir nicht wissen, woher er kommt und wohin er geht (8,14). Die Tragik ist, dass beides zusammenhängt, das Nichtkennen Gottes und das Nichtwissen um die Person Jesu: „Ihr kennt weder mich noch meinen Vater. Wenn ihr mich kenntet, würdet ihr auch meinen Vater kennen“ (8,19).

Der unbekannte Jesus

Auch die Jünger wissen nicht, wohin Jesus geht (14,5), als er sie verlässt. Ist es vielleicht notwendig, Jesus nicht zu kennen, um ihn als den Christus, gesandt von Gott, zu begreifen? Das scheint Paulus als seine Lebenserfahrung auszudrücken, wenn er schreibt: „Wenn wir auch (ehedem) Christus dem Fleische nach gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr so“ (2 Kor 5,16).

Damit sind wir auf Erfahrungen des helfenden Geistes verwiesen, den Jesus den Seinen verheißen hat, damit er sie „zur vollen Wahrheit“ führt (16,13). Diese Geisterfahrungen finden im Alltag statt. Wir staunen darüber, dass uns dort, wo wir nicht(s) wissen – vor allem in Begegnungen – Vertrauen und Liebe geschenkt wird. Wenn es uns gelingt, in jedem Notleidenden Jesus zu erkennen.

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