Das verbindende Band Identität

Politische Führer mit autokratischen Anmaßungen gerade auch in westlichen Nationen oder auch der chaotisch geplante Austritt Englands aus der Europäischen Union zeigen eines deutlich: Die liberale Demokratie ist durchaus gefährdet. Woran mag das liegen, und was wäre ein Heilmittel? Diese Fragen beschäftigen den amerikanischen Politiktheoretiker Francis Fukuyama, der 1989 das Ende des Ost-West-Konflikts und den Sieg des westlichen Gesellschaftsmodells mit der gewagten These vom „Ende der Geschichte“ deutete. Dass gerade die Demokratien heute um Akzeptanz ringen, liegt auf der Hand.

Für Fukuyama liegt die große Herausforderung darin, ein umfassendes Verständnis des menschlichen Wunsches nach Anerkennung zu gewinnen. Natürlich muss sich Politik um die Sicherung materieller Bedürfnisse nach der Maßgabe von Gleichheit und Gerechtigkeit bemühen. Aber ebenso wichtig und vielfach vernachlässigt ist der Wunsch nach einer symbolisch-kulturellen Form der Anerkennung. Man möchte innerhalb des Gemeinwesens fühlen und empfinden, dass man respektiert ist, dazugehört, einen Wert hat. Fukuyama bemüht hierfür den griechischen Ausdruck thymos, der die inneren Seelenkräfte des Menschen bezeichnet, sein Bewegtsein von dem, was man als Mensch für wichtig empfindet.

Hier nun setzt er mit seinem Vorschlag an: Die westlich-liberalen Staaten hätten in der Vergangenheit zu viel auf die Identität marginalisierter Gruppen geachtet. An sich ist das gar kein Problem, sondern moralisch sogar richtig. Aber es wird problematisch, wenn darüber vergessen wird, dass eine Gesellschaft neben der Rücksicht auf die Bedürfnisse Einzelner auch ein alle verbindendes Band benötigt. Eben hier schlägt das Herz des Buches: Fukuyama möchte als Liberaler darauf hinweisen, dass es nicht genügt, Rechte zu haben und recht zu bekommen, sondern dass eine gemeinsame Identität nötig ist: „Es gilt, nationale Bekenntnisidentitäten auf den Gründungsideen der modernen liberalen Demokratie zu errichten und Neuankömmlinge mit politischer Hilfe zielstrebig zu assimilieren.“

Das Buch ist ein wichtiger Diskussionsbeitrag zur Frage nach der Zukunft der Demokratie. Es ist flüssig geschrieben, und es schöpft aus einem breiten, anschaulichen Schatz an historischen und geografischen Beispielen. In der europäischen, besonders der deutschen Debattenlage kann es dafür sorgen, die etablierte politische Sitzordnung produktiv zu irritieren: Warum sollten nicht auch Linke und Liberale aktiv darüber nachdenken, wie man das gemeinsame Haus der Demokratie nicht nur mit Freiheitsrechten und sozialer Sicherung befestigt, sondern auch wie man aktiv eine gemeinsame, integrierende gesellschaftliche Identität konstruieren könnte? Mit Fukuyama kann man lernen, wie viel Luft nach oben die alteuropäischen Nationalstaaten noch haben. Daniel Bogner

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Fukuyama, Francis

IdentitätWie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet

Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, 240 S., 22 €

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