Das Lukasevangelium (21)Eine Frage der Interpretation

Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe gehört zu den Grundlagen christlichen Lebens und Glaubens. Dabei ist es nicht mit Jesus in die Welt gekommen, sondern war zu seiner Zeit wohl schon traditionell.

„Und siehe, ein Gesetzeskundiger stand auf und stellte ihn auf die Probe, indem er sagte: Lehrer, was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben? Der aber sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du es? Der aber antwortete und sagte: Du sollst lieben den Herrn, deinen Gott, aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken und deinen Nächsten wie dich selbst! Er aber sagte ihm: Du hast richtig geantwortet. Tu das, und du wirst leben!“ (Lk 10,25–28).

Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe gehört zu den Grundlagen christlichen Lebens und Glaubens. Dabei ist es nicht mit Jesus in die Welt gekommen, sondern war zu seiner Zeit wohl schon traditionell. Dies gilt nicht nur für die beiden Einzelforderungen, die zentrale Gebote des alttestamentlichen Gesetzes sind (Lev 19,18; Dtn 6,5). Auch die Zusammenstellung scheint zumindest den Gesetzeskundigen zur Zeit Jesu durchaus geläufig gewesen zu sein. Darauf deutet die Schilderung der Szene im Markus- und im Lukasevangelium hin. Bei Markus gibt Jesus selbst die Antwort und wird dafür von seinem schriftgelehrten Gesprächspartner überschwänglich gelobt (Mk 12,28–34). Nach Lukas dreht Jesus den Spieß einfach um: Er gibt die Frage an den im Gesetz bewanderten Fragesteller zurück, der sie prompt richtig beantwortet.

Damit ist der Fall jedoch nicht erledigt. Lukas zufolge bleiben noch Fragen offen. Der Gesetzeskundige will wissen, wer denn nun sein Nächster sei, dem er die Liebe zu erweisen habe (Lk 10,29). Daraufhin erzählt Jesus das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Ein Mann fällt unter die Räuber und bleibt halbtot liegen. Ein Priester und ein Levit (Tempeldiener) kommen vorbei, leisten ihm aber keinerlei Hilfe. Erst ein Samariter, der unter Juden als religiös und politisch Abtrünniger gilt, nimmt sich des Raubopfers an (Lk 10,30–35). Am Ende des Gleichnisses dreht Jesus die Ausgangsfrage um und gibt sie an den Gesetzeskundigen zurück: „Wer von diesen dreien ist deiner Meinung nach zum Nächsten dessen geworden, der unter die Räuber gefallen war?“ (Lk 10,36). Damit wechselt Jesus die Perspektive. Er fragt nicht mehr: Wer ist mein Nächster? Wer so fragt, kann nach eigenem Gutdünken Liebe gewähren oder verweigern; denn er selbst legt fest, wer sein Nächster ist. Die Frage Jesu zielt deshalb in die entgegengesetzte Richtung: Wessen Nächster bin ich? Dadurch wird der Anspruch jedes hilfsbedürftigen Menschen unabweisbar: Nicht mehr ich bestimme, wem ich als Nächster einen Liebesdienst erweise, sondern derjenige, der im konkreten Fall auf meine Hilfe angewiesen ist.

Wer den Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung kennt, der weiß im Grunde noch nicht viel. Denn jedes Gesetz muss im konkreten Fall ausgelegt und angewandt werden. Schlussendlich ist daher nicht entscheidend, was im Gesetz geschrieben steht, sondern wie man es versteht und umsetzt. Deshalb stellt Jesus von Anfang an zwei Fragen: „Was steht im Gesetz?“ Und: „Wie liest du es?“ Die zweite wird meistens übersetzt: „Was liest du dort?“ Das ist aber nicht nur überflüssig, sondern verdirbt die Pointe des Textes. Denn am Ende entscheidet die Interpretation, ob ich mir meinen Nächsten aussuche oder ob er mich findet und in Anspruch nimmt. Es kommt darauf an, wie man das Gesetz liest.

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