Eltern sind VorbilderWenn die Flasche Familien zerstört

Eltern, die zu viel trinken oder sogar alkoholsüchtig sind, schaden nicht nur der eigenen Gesundheit. Auch ihre Kinder leiden. Oft ein Leben lang

Wenn die Flasche Familien zerstört
Für alle Beteiligten gilt: Nicht schweigen, sondern über die Probleme sprechen © milanvirijevic - GettyImages

Die Zeichnung zeigt einen Tisch mit zwei Stühlen, einer davon ist leer. Auf dem anderen sitzt eine Frau. Sie hält eine Flasche in der Hand und starrt vor sich hin. Auch ein Mädchen ist zu sehen, es hebt beide Arme und schaut die Frau an, neben seinem Kopf ist eine Sprechblase abgebildet. „Nein, hör auf, es reicht“, steht darin.
Mehrere solcher Bilder hängen im Eingangsbereich des Hauses, in dem das Modellprojekt Arbeit mit Kindern von Suchtkranken (MAKS) seinen Sitz in Freiburg hat. Auf ihnen drücken Kinder aus, was bei ihnen zu Hause passiert, wie es ihnen mit ihren sucht- oder psychisch kranken Eltern geht. Seit nunmehr 30 Jahren können betroffene Kinder aus der Region die verschiedenen Angebote der Einrichtung wahrnehmen. Im Jahr 2019 taten dies 135 Kinder. Die meisten von ihnen sind zwischen sieben und 13 Jahren alt, den nächstgrößeren Anteil bilden die 14- bis 17-Jährigen.

Die vergessenen Kinder

In Deutschland leben etwa 2,65 Millionen Kinder in enger Gemeinschaft mit einem alkoholabhängigen Erwachsenen. Ihre Kindheit ist geprägt von Stimmungsschwankungen und Unberechenbarkeit, von Unsicherheit, Scham, Angst und Vernachlässigung – wenn auch nicht immer körperlich, dann auf jeden Fall stets emotional. Denn in einer Alkoholikerfamilie dreht sich alles um den Süchtigen; auch der nicht trinkende Elternteil richtet seine Aufmerksamkeit eher auf die Sucht als auf den Nachwuchs. Ebenso sind TherapeutInnen und ÄrztInnen in erster Linie mit dem Kranken beschäftigt. Die National Association for Children of Alcoholics/Addicts (NACoA) spricht daher auch von den „vergessenen Kindern“. Umso wichtiger sind Projekte wie MAKS, bei denen nicht die Eltern im Vordergrund stehen. „Es geht uns immer um die Auswirkungen auf die Kinder“, sagt Helga Dilger, die die Einrichtung leitet.

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Wann ist man alkoholsüchtig?

Ob jemand zu viel trinkt oder bereits süchtig ist, hängt von verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel Gewohnheit und Gewicht ab. Ein deutliches Zeichen für Abhängigkeit ist jedoch der Kontrollverlust über das Suchtmittel: Wer seinen Konsum nicht mehr im Griff hat, sollte mit einem Arzt oder einer Beratungsstelle darüber sprechen. Schon den Kindern zuliebe.

Diese Auswirkungen reichen mitunter bis weit in das Erwachsenenalter hinein. Kinder von suchtkranken Eltern gehören zur größten Risikogruppe überhaupt: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst süchtig werden, ist um ein Sechsfaches höher als bei anderen. Ein Drittel von ihnen greift später selbst zur Flasche oder anderen Drogen, entwickelt Depressionen oder schwere Störungen. Ein Drittel weist leichte bis mittelschwere Störungen auf. Aber: Das letzte Drittel zeichnet sich durch ein hohes Maß an Resilienz aus und übersteht die Sucht der Eltern vergleichsweise unbeschadet. Eine besonders schöne Kindheit haben sie trotzdem nicht.
Was der elterliche Alkoholismus mit den Kindern macht, ist allerdings nicht immer zu erkennen, etwa durch auffälliges Verhalten in Kita oder Schule. „Suchtkranke Eltern zu haben heißt nicht, Symptomträger zu sein“, sagt Helga Dilger. Vielmehr entwickeln die Kinder häufig eigene Strategien, um im System Suchtfamilie überleben zu können. So übernehmen sie zum Beispiel frühzeitig Verantwortung und kümmern sich um die Eltern statt umgekehrt. Das führt dazu, dass sie immer wieder ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Sie nehmen diese gar nicht mehr wahr und sich selbst nicht wichtig genug. Spätestens im Erwachsenenalter kann dies zu Problemen führen, etwa in Paarbeziehungen. Einmal verinnerlicht, lassen sich die gelernten Verhaltensmuster nur schwer wieder ablegen.

Schon die Kleinen merken was

Ältere Kinder erkennen nach und nach einen Zusammenhang zwischen dem Alkoholkonsum und dem Verhalten des/ der Trinkenden. Dagegen wissen jüngere Kinder nicht, was genau mit dem betreffenden Elternteil los ist. Das heißt keineswegs, dass sie nichts von der Sucht spüren. „Kinder im Kleindkindalter bekommen die Stimmung mit. Sie fühlen oft, dass etwas nicht in Ordnung ist“, sagt Janine Vogt. Die Erziehungswissenschaftlerin betreut bei MAKS die Mini-Gruppe für Kinder bis sechs Jahren. Entwicklungsbedingt haben Kinder in diesem Alter einen starken Ich-Bezug. Sie beziehen das, was in ihrer Umwelt geschieht, unmittelbar auf sich. „Sie denken dann: Dass Papa nicht mit mir spielt oder Mama so ungeduldig mit mir ist, liegt daran, dass ich etwas falsch gemacht habe“, erklärt Vogt. Sich schuldig zu fühlen ist typisch für Kinder in Suchtfamilien. „Die Kinder kommen schnell auf die Idee, das Verhalten der Eltern hätte etwas mit ihnen zu tun und sie könnten etwas dagegen unternehmen. Es ist ganz wichtig, ihnen diese Sorge zu nehmen.“ In den Gruppen lernen sie unter anderem, dass ihre Eltern an einer Krankheit leiden, an der sie keine Schuld tragen – und dass es anderen Kindern ebenso geht. Das zu verstehen, entlastet sie enorm. Denn in einer Suchtfamilie aufzuwachsen, bedeutet, ständigem negativem Stress ausgesetzt zu sein.
Neben der Instabilität (Schläft Mama heute die ganze Zeit oder ist sie gut drauf?, Ist Papa wieder in der Kneipe oder spielt er endlich mal mit mir?) bestimmt natürlich auch die Sorge um die Eltern den Alltag der Kinder. Alkohol beeinflusst die Wahrnehmung und das Reaktionsvermögen, von den gesundheitlichen Spätfolgen abgesehen. Wer seinem Kind im Vollrausch gegenübertritt, jagt ihm einen gehörigen Schrecken ein.
Oft versuchen Eltern ihr Alkoholproblem zu verheimlichen und verbieten dem Kind, darüber zu sprechen. Es kann sich niemandem anvertrauen, da es sonst in einen Loyalitätskonflikt geraten würde. Sofern die Eltern nicht leugnen, überhaupt ein Problem zu haben. Das Kind lernt: Mein Gefühl sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Mama und Papa sagen aber, es ist alles in Ordnung. Also ist mein Gefühl falsch. Ich bin falsch. 

Auch hier helfen Angebote wie die von MAKS. Die Gruppen bieten Kindern einen neutralen Raum, in dem sie über solche Themen sprechen und Fragen stellen können. Wenn sie wollen, gezwungen wird niemand. „Manche Kinder möchten lange nichts erzählen und das ist genauso in Ordnung. Sie profitieren davon, die Geschichten der anderen zu hören“, sagt Janine Vogt. Durch den Kontakt zu Gleichaltrigen stärken sie außerdem ihre Sozialkompetenz und damit ihr Selbstbewusstsein.

Einfach mal Kind sein

In den Gruppen geht es natürlich nicht nur um die ernsten Themen. Das Team aus SozialpädagogInnen, SozialarbeiterInnen und PädagogInnen mit verschiedenen Zusatzausbildungen richtet sich stets nach den Stimmungen und Bedürfnissen der Kinder. Sommerfeste und Ferienfreizeiten ergänzen das Angebot. „Die sollen gerne hierherkommen. Das kann auch eine Zeit sein, in der einfach mal Entlastung angesagt ist und Kindsein und Spiel und Spaß“, sagt Vogt.
Sie rät Eltern dazu, so früh wie möglich solche Angebote zu nutzen. „Oft will man die Kinder schützen, weil man denkt, sie vertragen das noch nicht. So nimmt man ihnen aber auch die Möglichkeit, sich richtig damit auseinanderzusetzen.“ Mit zunehmendem Alter werden die Fragen der Kinder detaillierter und häufen sich. „Und da ist es viel einfacher, wenn von Anfang an die Bereitschaft signalisiert wurde: Wir können als Familie über dieses Thema sprechen.“ 

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Was können Fachkräfte tun?

Für Fachkräfte, die glauben, ein Elternteil habe ein Alkoholproblem, hat Janine Vogt von MAKS den Rat: „Seien Sie mutig! Wenn Sie es nicht ansprechen, wer dann?“

Stellen Sie dabei das Kind in den Vordergrund und weisen Sie auf Ihre Verantwortung ihm gegenüber hin, ohne jeden Vorwurf. Es gehe nicht darum, die Eltern in Behandlung zu schicken. Sondern sie zu sensibilisieren, dass eine Suchterkrankung auch etwas mit ihren Kindern macht.  

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