Entfaltung bei Kindern fördernKleine Menschen, große Talente

Sollten Eltern schon bei ihren Kindergartenkindern auf Begabungen achten und diese gezielt fördern?

Kleine Menschen, große Talente
Manche Kinder entwickeln schon früh spezielle Interessen © andreonegin - iStock

Jakob hat eine ganz besondere Beziehung zu Zahlen. Körper und Schuhgrößen, Geburtstage, Entfernungen, all das interessiert den Fünfjährigen brennend. Fehlerlos zählen kann er schon lange. Neuerdings verblüfft er seine Umgebung damit, dass er sich die Ergebnisse aller Bundesligaspiele merken kann. Manchmal fragen sich seine Eltern, ob ihr Sohn ein angeborenes Talent für Mathematik hat. Aber wie erkennt man so etwas überhaupt – und wie sollte man darauf reagieren?
Dr. Nicole von der Linden arbeitet in der Begabungspsychologischen Beratungsstelle an der Universität Würzburg, zu ihr kommen regelmäßig Eltern von Kindergartenkindern. „Der erste oder beste Hinweis besteht darin, dass die Kinder andere Dinge tun oder sich für andere Dinge interessieren als Gleichaltrige.“ Eltern würden das häufig erst bemerken, wenn ihre Kinder in den Kindergarten kommen. Im Vergleich mit anderen wird dann ein Talent offensichtlich, eine Begabung sichtbar. Nicht selten seien es sogar die ErzieherInnen, die die Eltern darauf hinweisen.
Besondere Fähigkeiten können in vielen Bereichen auftreten. Manche Kinder sind in bestimmten Sportarten außergewöhnlich geschickt, andere haben ein gutes Rhythmusgefühl und treffen beim Singen besser die Töne als der Rest der Kitagruppe. Wieder andere können gut mit Zahlen oder Buchstaben umgehen, bringen sich selbst das Lesen bei oder haben ein erstaunliches Gedächtnis. Manche Kinder fallen auf, weil sie sich sprachlich sehr gut ausdrücken können. Wieder andere sind besonders einfühlsam, hilfsbereit und besitzen einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ihnen kann man ein soziales Talent attestieren.

Talente sind verschieden

Die Würzburger Beratungsstelle ist vor allem auf intellektuelle Fähigkeiten spezialisiert. „Für diese Form der Begabung gibt es im Kleinkindalter zwei Merkmale“, erklärt Nicole von der Linden. Neugier und Explora tionsverhalten ist das eine, eine frühe Sprachentwicklung das andere. Im Vorschulalter fallen die Kinder dann unter anderem durch gute Merkfähigkeit, logisches Denken und einen großen Wissensschatz auf. Daraus folgt aber nicht unbedingt die Diagnose Hochbegabung. „Das sind lediglich Hinweise“, betont die Psychologin. Im Kindergartenalter gilt die Intelligenz als noch nicht stabil; Tests werden daher meist erst in der Grundschule durchgeführt. Außerdem kann ein intellektueller Vorsprung, den ein drei-, vier- oder fünfjähriges Kind in Bezug auf Gleichaltrige hat, auch wieder schrumpfen oder ganz verschwinden.

Eine anregende Umgebung reicht

Wenn Eltern dennoch das Gefühl haben, ihr Kind sei besonders aufgeweckt oder interessiere sich über die Maßen fürs Bauen, Rechnen, Malen oder Musizieren, müssen sie dann handeln? Die Kinder in besondere Kurse schicken? „Wir erleben manchmal, dass Eltern sich großen Druck machen“, sagt von der Linden. Dabei sei das gar nicht nötig. Im Kindergartenalter sollte vor allem Förderung und Unterstützung in der Familie im Vordergrund stehen: „Es braucht Eltern, die ihre Kinder ermutigen, vieles auszuprobieren.“ Bücher, Gespräche, Bewegung, soziale Kontakte, Ausflüge, Spiele, kurz: eine anregungsreiche Umgebung. „Das ist das allerwichtigste – und zwar für alle Kinder.“ In einer solchen offenen, unterstützenden Atmosphäre wird der Grundstein gelegt, damit sich aus frühkindlichen Neigungen und Talenten überhaupt mehr entwickeln kann.
Denn Talent im Kindergartenalter ist, da sind sich die Wissenschaftler einig, zunächst nur eine Möglichkeit. „Ein Potenzial“, sagt von der Linden. Ob aus dem begabten Kind tatsächlich ein Profisportler, eine Komponistin oder ein Künstler wird, hängt von vielen weiteren Faktoren ab. Die Umwelt spielt eine entscheidende Rolle: Erfährt das Kind im Laufe von Kita- und Schulzeit die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die es braucht? Bei den meisten Kindern schauen Eltern und Pädagogen mittlerweile sehr genau hin. „Und viele Eltern machen ohnehin intuitiv vieles richtig“, sagt von der Linden. Sie gehen auf ihre Kinder ein, beantworten geduldig deren Fragen, üben keinen Druck aus, sondern passen sich an die Interessen und das Tempo der Kinder an.
Trotzdem gibt es Kinder, die sowohl in den Bildungsinstitutionen als auch zu Hause durchs Raster fallen. Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund werden statistisch häufiger übersehen, ihre Talente seltener entdeckt und gefördert. „Dasselbe gilt auch für Mädchen“, sagt von der Linden. Und für Kinder, die mit ihren Begabungen lieber hinterm Berg halten, die sich innerhalb einer Gruppe still und schüchtern verhalten.

Auch die Persönlichkeit zählt

Doch selbst bei idealen äußeren Bedingungen wird nicht aus jedem talentierten Kind ein intellektueller, sportlicher oder musischer Überflieger. Neben den Umwelteinflüssen spielen die Charaktereigenschaften eine zentrale Rolle. Je älter die Kinder werden, desto wichtiger sind Persönlichkeitsmerkmale wie Beharrlichkeit und Ausdauer. Denn auch das ist wissenschaftlich erwiesen: Man muss sehr viel üben, um in einem bestimmten Bereich herausragende Leistungen vollbringen zu können. Das schafft man nur mit starkem Willen.
Ob und wie aus ihrem talentierten Kind mal ein „Genie“ wird, ist für die meisten Eltern ohnehin nicht die drängendste Frage, wenn sie in die Würzburger Beratungsstelle kommen. Eher sorgen sie sich um das Glück und die Zufriedenheit der Kleinen. „Viele haben irgendwo gelesen, dass Begabungen oft mit Problemen oder sozialer Isolation einhergehen“, sagt Nicole von der Linden. Die Eltern fürchten, dass spätestens mit der Einschulung das Leben ihres Kindes schwierig werden könnte. Da kann die Psychologin beruhigen. Die Forschung bestätige diese weitverbreitete Annahme nämlich nicht. „Die allermeisten begabten Kinder kommen sehr gut in der Schule zurecht.“ Sie rät daher, sich zu entspannen – und sich über das Talent des Nachwuchses einfach zu freuen.

kizz Buchtipp

„Jedes Kind ist hochbegabt“

Ein tolles Buch zum Thema haben der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther und der Journalist Uli Hauser geschrieben: Jedes Kind ist hoch begabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen (Knaus 2012). Welche Fähigkeiten eine Gesellschaft für besonders wertvoll erachte, hänge immer vom Zeitgeist ab, schreiben die Autoren. Derzeit starren alle auf mathematische, musische und sportliche Fähigkeiten. „Dass es Kinder gibt, die die besondere Begabung mitbringen, auf die höchsten Bäume zu klettern […], finden nur wenige Eltern und Erzieher bemerkenswert.“ Hüther und Hauser plädieren dafür, bei allen Kinder Vertrauen, Zuversicht, Entdeckerfreude und Kreativität zu fördern, dann könne jedes Kind sich individuell und optimal entfalten.  

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