Gelassen unperfekte MutterOhne mich!

Hübsch, sportlich und stets gelassen sollen Mütter heute sein. Ein Plädoyer gegen den Optimierungswahn

Ohne mich
Muttersein und Mutterschein: Zwischen Perfektionismus und Erschöpfung © Sabina Hodovic, EyeEm - Getty Images

Mir scheint, die Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts heißt Optimierungswahn. Sie grassiert wie die Spanische Grippe und befällt Menschen aller sozialen Schichten. Typische Symptome sind der stündliche Kontrollblick auf die Fitnessuhr, tägliches Hören verschiedener Podcasts zwecks Perfektionierung des eigenen Ichs, die Lektüre mehrerer Ratgeber pro Monat zu Themen wie „Erziehen ohne Strafen“, „Die totale Gesundheit durch vegane Ernährung”, „Achtsamkeit im Beruf“ oder „Sleek Chic – Minimalistische Einrichtung mit Eleganz“. Instagram und Konsorten bestärken uns im persönlichen Verbesserungsstreben, denn sie erwecken die Illusion perfekter Leben und erzählen uns mit Filter bearbeitete Storys über idyllische Strandferien, gesunde Paleo- Abendessen sowie berufl iche und private Höhenfl üge.
Das ständige Streben nach Perfektion und Optimierung hat auch einen Einfluss auf uns Eltern. Wir wollen ideale Väter und Mütter sein, die sowohl Karriere als auch Privatleben mühelos unter einen Hut bringen und in allen Bereichen ihres Lebens erfolgreich sind – und das bitte mit unsäglicher Leichtigkeit. Doch die Fülle an Optionen und Informationen verunsichert, und hinter unserem Verbesserungswahn steht oft die Angst, als Eltern falsche Entscheidungen zu treffen und nicht zu genügen. Ich wage zu behaupten, dass gerade wir Mütter uns permanent hinterfragen, uns selbst die schärfsten Kritikerinnen sind, und zwar in vielen unterschiedlichen Bereichen.
Das beginnt bei Äußerlichkeiten wie unserer Kleidung oder Figur: Eine Mutter hat heute wenige Wochen nach der Geburt auszusehen wie vor der Schwangerschaft. Sie ist stets makellos gekleidet und hat perfekte Fingernägel – das jedenfalls glauben wir manchmal insgeheim und orientieren uns an den Bildern reicher Promi- Mütter. Dabei vergessen wir, dass diese mit ihrem Aussehen auch Geld verdienen und deshalb einiges an Zeit und Schotter in ihre Erscheinung investieren. Die Ansprüche gehen aber noch viel weiter: Nicht nur schlank zu sein ist wichtig, auch die Klamotten sind entscheidend. Praktisch war gestern, heute sind unsere Kleider Ausdruck unserer wahnsinnig einzigartigen personality. Doch ich bin überzeugt, dass die wenigsten von uns morgens genug Zeit haben, um vor dem Kleiderschrank zu stehen und innig und gründlich die Frage zu bewegen, ob heute eher der „Boho Chic“ oder die „Sophisticated Elegance“ ihre Gemütslage modisch umsetzen.

Nicht immer aufgeräumt

Aber das ist noch lange nicht alles. Nicht nur unser Aussehen sollte vollkommen sein, nein, auch unser Zuhause. Aufgeräumt und sauber ist nur noch das halbe Ziel – obwohl das zu realisieren schon ein Ding der Unmöglichkeit ist, wenn man kleine Kinder hat. Die andere Hälfte heißt: stilvolle, individuelle Einrichtung mit Fundstücken vom Flohmarkt, ergänzt um ein paar Designklassiker, dazu die instagramwürdige Sofaecke. Es gibt Fernsehserien und unzählige Bücher zum Thema Wohnen und ich habe gelesen, „Aufräum- Expertin“ sei nun also auch ein Beruf!
Schließlich gehört zum perfekten Muttersein natürlich auch der perfekte Erziehungsstil. Und jetzt wird es so richtig anstrengend: Wir sollen freundliche, aber dennoch entschiedene Leitwölfe sein, weder drohen noch strafen noch belohnen, Wege aus der Schreifalle finden, konsequent (aber bitte nicht autoritär) erziehen, stets genügend Wahlmöglichkeiten anbieten und möglichst früh zur Selbstständigkeit anleiten, natürlich ohne dabei zu überfordern. Der Anspruch „idealer“ Erziehung umfasst freilich auch die Ernährung, die gesund, abwechslungsreich, ausgewogen und mit Liebe zubereitet sein soll. Ein stimulierendes Freizeitprogramm, bei dem die Kinder optimal und spielerisch gefördert werden, darf nicht fehlen, beispielsweise Sportstunden wie „Indischer Tanz für Kleinkinder“ und „Fechten im Vorschulalter“.
Perfektionsstreben gehört heute zum guten Ton und unsere Kinder sollen bitte schön auch diesem gesellschaftlichen Trend folgen. Am liebsten mögen wir sie intelligent, anständig, kreativ, sozial, aber durchsetzungsfähig, schön und gesund. Mit ein bisschen Anstrengung geht das schon, denn wir Mütter setzen ja auch alles daran, stets die bestmögliche Version unserer selbst zu sein (oder es zumindest mal zu werden), und diese bedingt nicht nur private Erfolge, sondern auch berufliche. Je mehr Verantwortung, desto besser, aber die Stelle darf nicht nur ein Job sein, sondern eine Berufung, die schlussendlich zur Verwirklichung unserer Lebensziele und Träume dient und zu einer besseren Welt beiträgt.
Wir Mütter kennen alle diese Ansprüche und Erwartungen sehr gut und sind häufig frustriert, weil wir glauben, ihnen in vielen Bereichen nicht zu genügen. Und das glauben wir nicht nur, das ist auch so! Wir genügen nie, solange Perfektion das Ziel ist. Folglich ist es sinnvoll, Ziele neu zu definieren. Voraussetzung ist jedoch, dass wir wissen, was wir eigentlich wollen. Das klingt einfach, ist aber manchmal im Dschungel der Möglichkeiten eine ziemliche Herausforderung. Doch gerade als Familie ist es hilfreich, wenn man bespricht, was einem wirklich wichtig ist: was zu einem passt, in welche Bereiche man Energie und Zeit investieren will, auf welche Regeln man Wert legt – und wo man ganz bewusst fünfe gerade sein lassen will und sagt: Farbkonzept in der Wohnung, manikürte Fingernägel, Frühförderung der Kinder, hochbezahlte Vollzeitstelle (die Liste kann individuell angepasst werden) stehen bei uns auf der Prioritätenliste ziemlich weit unten. Dazu stehen wir. Voilà.

Hohe Ansprüche verabschieden

Eine zweite Frage, die mir persönlich in turbulenten Zeiten hilft, ist folgende: Was muss ich wirklich? Wir werden mit Erstaunen feststellen, dass man nur wenige Dinge wirklich muss. Vieles, von dem wir meinen, dass wir es tun müssen, kann warten oder sogar wegfallen. Auch hier gilt: Mut zur Lücke! Muss das Abendessen stets warm sein und aus zwei Dritteln Gemüse und einem Protein bestehen? Müssen die Kinder täglich um Punkt 20 Uhr geduscht, mit geputzten Zähnen und einem frischen Pyjama im Bett liegen? Hört die Welt auf sich zu drehen, wenn die Wohnung schon morgens um neun aussieht wie nach einer Geburtstagsparty? Sollte Ihre Aufgabeliste – auch nachdem Sie sich gefragt haben, was nun wirklich wichtig ist – genauso lang sein wie vorher, dürfen Sie gerne eine zweite Frage nachschieben: Was kann im schlimmsten Fall passieren, wenn wir uns bewusst entscheiden, bestimmte Ansprüche nicht zu erfüllen, bestimmte Dinge nicht zu erledigen? Meist nicht sehr viel, außer dass wir wahrscheinlich eine Zeitlang mit uns selbst ringen müssen. Wenn Sie sich unsicher sind, ob etwas Priorität haben soll oder nicht, hilft folgende Aussage einer alternden, offenbar weisen Pop-Diva, die in einem Interview gesagt hat: „If it is not important in five years, it is not important.“ Entspannend, oder?

Zu den Mängeln stehen

Mein dritter Gedanke betrifft unsere häufig unbewusste und unreflektierte Überzeugung, Perfektion sei erstrebenswert. Ist sie das wirklich? Wie würde sich wohl ein Kind fühlen, das eine perfekte Mutter und einen vollkommenen Vater hat? Wahrscheinlich wie ein Versager, und zu lachen gäbe es in so einer Familie auch nicht viel. Und wie um Himmels Willen sollte ein Kind perfekter Eltern lernen, wie man sich entschuldigt, Konflikte austrägt, wie man mit eigenen Schwächen umgeht und wie man zu sich selbst steht, trotz der eigenen Unvollkommenheit? Unsere Schwächen sind stets auch Übungsfelder, die uns wachsen und reifen lassen und außerdem Demut und Verständnis für die Unzulänglichkeiten anderer lehren. In diesem Sinne lade ich Sie dazu ein, mit sich und den eigenen Mängeln Frieden zu schließen, ab und zu das Chaos zu feiern, Ansprüche zu senken und die dadurch gewonnene neue Freiheit zu genießen – und das in vollen Zügen!  

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