Gelassen mit der Familie essenAlle am Tisch ...

… aber nicht alle entspannt. Ein Familienessen ist nicht immer gemütlich, doch wichtig und oft unterhaltsam

Alle am Tisch
Ein wichtiges Ritual, das Familie am liebsten entspannt genießt © Westend61 - Alamy Stock

Das mit dem Salat haben wir Eltern inzwischen kapiert: Salat geht gerade nicht. Also, gar nicht. Tomaten sind okay, Gurken auch (warum eigentlich ausgerechnet diese wässrigen Dinger?). Aber gut, dann gibt’s eben heute Abend nur für die Erwachsenen Salat. Und Nudeln mit Tomatensoße für alle. Frisch gekocht, aus schönen, reifen Bio-Tomaten, die der Vater am Morgen noch schnell auf dem Markt besorgt hat. Jetzt ist es Abend – Freitagabend. Wochenende! Alles ist bereit für ein schönes Familienessen, mit mehr Zeit als sonst und mit einer Tomatensoße, auf die der Vater fast ein bisschen stolz ist.
Nur irgendwie nervt es, dass die Kinder nicht zum Essen kommen, obwohl er schon dreimal gerufen hat. Und dass die Partnerin immer noch ständig irgendwas wegräumt. Als er seine Familie mit einem nur noch mäßig entspannten „Da seid ihr ja endlich!“ am Esstisch begrüßt, antwortet die Tochter: „Hier riecht’s komisch!“, und der Sohn verkündet, dass er auf keinen Fall etwas von seinem inzwischen fast kalten Teller essen werde, weil in der Soße – wie konnte das passieren! – Zwiebeln sind. In Stücken!

Essen als Qualitätszeit

Das gemeinsame Essen hat in den meisten Familien einen hohen Stellenwert. Und es kann immer wieder Anlass sein für Konfl ikte und Streit. Das hat viele Gründe. Denn am Esstisch kommt nicht nur die Familie zusammen, hier sammelt sich auch viel von dem, was eine Familie ausmacht: Gemeinschaft und Kommunikation, Erwartungen und Enttäuschungen, verschiedene Rollen, Launen, Interessen und Geschmäcker, Spaß und Stress.
Beim Familienessen geht es nicht nur um die bloße Nahrungsaufnahme, sondern auch um Zeit und Zuwendung. „Die gemeinsame Mahlzeit hat eine ganz wichtige sozial-kommunikative Funktion“, sagt Uta Meier-Gräwe. Die Professorin für Familienforschung hat an der Universität Gießen untersucht, wie Familien in ihrem Alltag essen. Ein Ergebnis: „Dass sich gemeinsame Mahlzeiten auflösen, wie manchmal behauptet wird, konnten wir nicht feststellen: Für keine andere Familienarbeit wird so viel Zeit aufgebracht wie für das Familienessen.“ Häufig findet es am Abend statt, wenn alle oder zumindest die meisten zurück sind von Arbeit, Schule oder Kita. Dass einmal am Tag möglichst die ganze Familie am Esstisch zusammenkommt, sei oft „ein Ritual, um trotz aller Fliehkräfte des Alltags Familie herzustellen“, sagt Meier-Gräwe.
Außerdem sollen die Familienmahlzeiten natürlich der gesunden Ernährung der Kinder dienen, ihr Interesse an gutem Essen wecken und ihnen nebenbei noch die wichtigsten Tischsitten vermitteln. Laut Meier-Gräwe zeigten Befragungen, dass für das Einkaufen und Kochen noch immer überwiegend die Frauen zuständig sind – auch in Doppelverdiener-Familien. Diese täglich zu erbringende Leistung bedeute oft eine hohe Belastung für berufstätige Mütter. Diese schraubten dann zum Beispiel ihre eigenen Ansprüche an gute Ernährung herunter und äßen mittags am Bildschirm aus der Tupperdose, um Zeit zu sparen. „PC-Picknick“, nennt Meier-Gräwe das.
Wenn in Kita, Hort oder Schule ein gutes Mittagessen für die Kinder angeboten werde, könne das zumindest für etwas Entlastung in den Familien sorgen. „Eine ordentliche Mahlzeit ist dann bereits gesichert“, sagt Meier- Gräwe. Außerdem könnten Kita und Schule gute Lernorte für das Thema Ernährung sein: Kinder entdeckten gemeinsam mit anderen oft leichter, dass es tatsächlich möglich ist, sich einem Karottensalat ohne Ekel anfall zu nähern. Oder dass die Spinatfüllung in den Kindergarten-Cannelloni plötzlich ganz lecker ist. Und wenn Kinder sowohl in der Kita als auch zu Hause Verhaltensweisen am Esstisch einüben, macht es das für alle leichter.
Denn es nimmt Druck aus dem Familienessen. Einige Regeln zu vereinbaren sei sinnvoll, meint Meier-Gräwe, sie warnt aber davor, die gemeinsame Familienmahlzeit mit Erwartungen und Vorschriften zu überfrachten: „Am Esstisch ständig schlechte Laune zu verbreiten, weil etwas nicht klappt, ist nicht sehr hilfreich.“ Möglichst für eine gute Atmosphäre zu sorgen, empfiehlt auch der dänische Familientherapeut und kürzlich verstorbene Autor Jesper Juul: Das sei „besonders dort wichtig, wo sich das ‚Herz des Hauses‘ befindet – in der Küche und am Esstisch“, schreibt er in seinem Buch Essen kommen (Beltz). Was das genau bedeutet, kann sich von Familie zu Familie unterscheiden – und auch von Tag zu Tag, je nach Laune und Müdigkeit der Familienmitglieder, der zur Verfügung stehenden Zeit und den angebotenen Speisen. Es bedeute jedenfalls nicht, Harmonie vorzutäuschen: Familienmahlzeiten seien auch „ Austragungsort für eine Reihe von Konflikten“, findet Juul, eben weil die ganze Familie am Esstisch zusammenkommt. Und dieser auch ein Ort sein kann, um mit Konfl ikten umzu gehen.
Was auch immer Eltern mit einem guten, entspannten Familienessen verbinden: Der gute Grundsatz „vorleben statt vorschreiben“ hilft auch hier. Eltern können beim Essen zum Beispiel das Smartphone weglegen, am Tisch sitzen bleiben, die Nahrung mit Respekt behandeln, sie nicht als Strafe oder Belohnung einsetzen. Außerdem können sie die Interessen ihrer Kinder wahr nehmen. Was nicht heißt, alle ihre Wünsche zu erfüllen und täglich Ofenpommes zu servieren.

Gemeinsame Zeit bei der Vorbereitung

„Erziehung kann jede Mahlzeit ruinieren!“, schreibt Juul: „Alle Arten von freundlicher Führung sind okay, aber Korrekturen, Kritik und Anweisungen zerstören die Stimmung und lähmen die Geschmacksnerven.“ Das Kind werde dann alle Kräfte mobilisieren, um nicht länger mit den Erwachsenen am Tisch sitzen zu müssen. Schon tobt der nächste Streit ums Familienessen.
Erfolg versprechender könnte es sein, die Kräfte des Kindes schon für die Vorbereitung der Mahlzeit zu mobilisieren, also mit ihm einkaufen zu gehen oder zu kochen. Auch Drei- oder Vierjährige können schon Kartoffeln schälen oder eine Salatschleuder bedienen (auch wenn es, zugegeben, danach manchmal etwas dauert, bis die Küche wieder halbwegs trockengelegt ist).
Beim Essen selbst lässt sich oft die Neugier der Kinder nutzen, wenn sie zum Beispiel vom Spargel probieren dürfen, ohne ihn dann aufessen zu müssen. Ein Klassiker ist folgende Regel: Die Eltern bestimmen, was auf den Tisch kommt, die Kinder probieren und entscheiden selbst, was und wie viel sie davon essen. Dürfen Kinder sich selbst nehmen – in kleinen Portionen –, bekommen sie ein Gefühl für Mengen und auch dafür, dass die Eltern kein Essen wegwerfen wollen.

Wichtig bleibt der Genuss

Wenn Zeit und Nerven reichen, können Eltern sich zusammen mit ihren Kindern auch einmal auf andere Weise dem Thema Nahrungsmittel und Manieren nähern, indem sie zum Beispiel eine Mahlzeit nur mit den Händen essen. Oder, für Eltern, die es extremer mögen, nur mit dem Mund, während die Hände unter der Tischplatte bleiben müssen. Die Spuren lassen sich danach hoffentlich beseitigen; das sinnliche Erlebnis dürfte bleiben. Und die Erfahrung, dass Besteck manchmal ganz nützlich sein kann, wohl auch.
Nicht jedes Familienessen muss etwas Besonderes sein. Vielleicht gibt es Abende, an denen eine Tiefkühlpizza auf dem Sofa genau das Richtige für die Familie ist – gerade weil sich alle sonst immer so viel Mühe geben mit der selbst gebackenen Pizza. „Jede gemeinsame Mahlzeit der Familie wird eine ganz besondere Mischung aus Essen, Kontakt und Fürsorge sein“, behauptet Jesper Juul.
Er empfiehlt genau deshalb, aus dem Familienessen kein „Gesundheitsprojekt“ zu machen, auch kein „Gemütlichkeitsprojekt“. Sondern offen zu sein für die Stimmungen und Bedürfnisse aller in der Familie. „Bleiben Sie gelassen, auch und gerade bei den Mahl zeiten! Genießen Sie das Essen, genießen Sie einander und die Kinder! Eine bessere Erziehung gibt es nicht.“

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