Liturgische Bewegungen in den NiederlandenVergebliche Erneuerung

Die Niederlande waren ein Experimentierfeld für die liturgische Erneuerung durch das Zweite Vatikanische Konzil. Dabei wurde aber durchweg übersehen, dass sich das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld radikal geändert hatte. Will die Liturgie nicht zu einem innerkirchlichen Randphänomen werden, muss sie den Anschluss an die vielfältige Landschaft von Ritualen finden, die sich derzeit entwickelt.

Beim Blick auf die Situation von Liturgie und Ritualen in den Niederlanden im Jahr 2013, genau fünfzig Jahre nach der Verabschiedung des ersten Dokuments des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“, stoßen wir auf ein bemerkenswertes Paradox. Einerseits ist festzustellen, dass Ritual und Religion verschwinden und in der Krise stecken. Der deutlichste Beleg dafür ist der regelmäßige Abbruch von Kirchengebäuden. Dass Kirchen überflüssig werden, sorgt bei Gemeinden vor Ort immer wieder für Unruhe. Schätzungen zufolge müssen in den nächsten Jahren in den Niederlanden mehr als 1200 Kirchen aufgegeben werden. Obwohl sich das Tempo dieses Prozesses etwas abgeschwächt hat (früher gingen Schätzungen von 100 Schließungen im Jahr aus), ist er doch enorm einschneidend.

Gleichzeitig ist das Entstehen und Aufblühen von Ritualen zu beobachten. In den Niederlanden suchen alle möglichen Gruppen von Christen, durchweg Migranten, passende Räume für ihre Zusammenkünfte. In Amsterdam treffen sich beispielsweise afrikanische Christen in Garagen. Es werden auch immer noch neue Kirchen gebaut, manchmal sehr große: So die so genannten „Refodome“ mit mehr als 2000 Sitzplätzen für reformatorische Gemeinden vom Typ „Praise and Worship“, die im so genannten niederländischen „Bible belt“ enorm zunehmen.

Ein anderes Signal für das Aufblühen ist die bemerkenswerte Vitalität von ritualisierter Frömmigkeit wie Wallfahrten, Pilgerreisen und Prozessionen. Lourdes ist weiterhin ein ungeheuer populärer Wallfahrtsort, und ein sehr auffälliges internationales Beispiel stellt natürlich der „Camino“ nach Santiago de Compostela dar. Dieses Ritual ist wirklich eine Erfolgsgeschichte. Jedes Jahr nehmen mehr Pilger in den Büros der Kathedrale von Santiago ihr Zertifikat in Empfang. Hinter dieser offiziellen kirchlichen Registrierung verbirgt sich eine enorme Anzahl von nicht registrierten Wanderern und Fahrradfahrern, die auf eigene Rechnung den Weg ganz oder in Teilstücken zurücklegen. Die offiziellen Statistiken nennen als die sieben Spitzenreiter bei den Herkunftsländern der Pilger: Spanien, Deutschland, Italien, USA, Kanada, Österreich und die Niederlande.

Ein tragisches Missverständnis

Ein letztes Signal für das genannte Paradox sind Klöster und Abteien. Die Niederlande sind vor allem in dem Landesteil südlich der großen Flüsse ein ausgedehntes Netzwerk von geschlossenen, umgebauten oder verfallenen Klöstern von so genannten „aktiven“ Ordensgemeinschaften, aber gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit für Abteien sehr groß. Eigene Fernsehserien über das klösterliche Leben haben enormen Erfolg beim Publikum, man kann sich online am Chorgebet in einer Trappistinnenabtei beteiligen und die Gästezimmer sind oft ein Jahr im Voraus ausgebucht.

Das eben geschilderte paradoxe Bild, demzufolge das innerkirchliche liturgische Repertoire an den Rand gedrängt scheint, ist besonders deswegen frappierend, weil der Prozess der Marginalisierung genau in den langen sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begonnen hat, der Zeit, als die Niederlande als führendes Land auf dem Gebiet der liturgischen Kreativität und Erneuerung eingeschätzt wurden. Hier stimmt etwas nicht.

Während Liturgiewissenschaftler die sechziger und siebziger Jahre gern als eine Zeit der Experimente, von Bewegung und Erneuerung mit Pionieren wie Huub Oosterhuis und Bernard Huijbers betrachten, geschah im Blick auf die Rituale das genaue Gegenteil: Ganze Komplexe von rituellen Repertoires verschwanden wie der Schnee in der Sonne. Und das nicht durch eine raffinierte Bewegung, wie etwa das kommunistische Regime in der DDR christliche Rituale planmäßig durch Marginalisierung oder Ersetzung angriff. Vielmehr schien das Repertoire im veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Kontext seine Plausibilität eingebüßt zu haben. Die Kluft zu den Erfahrungen der Menschen schien zu groß zu sein, die Repertoires waren zu sehr mit plötzlich veralteten, ideologisch besetzten gesellschaftlichen Zusammenhängen und Strategien amalgamiert.

Übrig blieb ein Rest an erneuerter binnenkirchlicher Liturgie für eine immer kleiner werdende Gruppe, ein auf einige sakramentale Höhepunkte zugespitztes Repertoire, während nahezu alle Rituale verschwanden, die diesen Kern umgeben hatten. Es bleibt ein Restbestand von frömmigkeitlichem Repertoire, zusammen mit einigen tief verwurzelten „Rites de passage“, der Taufe als Ritual zur Geburt, der Ersten Kommunion als letzter Kommunion, der Eheschließung und vor allem der Feier des Begräbnisses (obwohl man sich in kirchlichen Kreisen lange nicht mit der Feuerbestattung anfreunden konnte).

Um die gegenwärtige Situation gut zu verstehen, lohnt sich eine genauere Betrachtung dieser betrüblichen Diagnose des historischen Befunds. Inzwischen hat sich in der modernen Liturgiewissenschaft, die inzwischen immer stärker mit dem breiteren Feld der „Ritual Studies“ verbunden ist, eine bessere Sicht auf die Entwicklungen und ihre Hintergründe eingebürgert.

Zuallererst geht es um die Perspektive. Bis heute dominiert in kirchlichen Kreisen eine exklusiv binnenkirchliche Darstellung der liturgischen Erneuerung. Dabei werden die Liturgische Bewegung, das Zweite Vatikanum und die liturgischen Reformen der sechziger Jahre in einem vorgefertigten Szenario fließend miteinander verbunden. Das Drehbuch für diese Erzählung scheint schon jahrzehntelang klar: Entstehen und Aufstieg, die Pioniere (Lambert Beauduin und Gerardus van der Leeuw), der Höhepunkt auf katholischer Seite im Zweiten Vatikanischen Konzil und seine Umsetzung in den dynamischen sechziger und siebziger Jahren (Oosterhuis). Aber es stellen sich grundlegende Fragen gegenüber diesem Drehbuch, sobald man andere Perspektiven verwendet und die ganze Breite der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen einbezieht.

Die Liturgische Bewegung, die wir als innerkirchliche Erneuerungsbewegung in der Zeit von 1850 bis 1950 ansiedeln müssen, hatte ihren ganz eigenen Charakter und Kontext. Ursprünglich war sie eine Bildungsoffensive. Man möchte breite Schichten der Bevölkerung („das Volk“) mit dem fortschreitenden Wissen auf verschiedenen Gebieten bekannt machen. Es geht dabei um heilendes und heilsames Wissen, um Verbesserungen im Blick auf Gesundheit, Wohnen, Natur, Geschichte, Kunst, Literatur usw.. Personen und vorhandene Institutionen wie die Kirche sowie bestimmte Obrigkeiten ergreifen hier die Initiative, aber auch neue Gremien und Institutionen widmen sich speziell dieser Aufgabe. Hier ist an bestimmte Genossenschaften und Zeitschriften zu denken.

Mit ideologischen Subkulturen verbunden

Im Blick auf den allgemeinen Geist und das Umfeld dieser Bildungsoffensiven erweisen sie sich als paternalistisch: Ein Vater wendet sich an seine Kinder. So war es auch in der Liturgischen Bewegung: Es geht um Einweihung, Enthüllung und Übersetzung, und das in einem spezifischen Kontext. Außer der Wissenschaft sind hier die Industrialisierung, Urbanisierung und Arbeitsmigration zu nennen. Die Anerkennung durch zentrale kirchliche Autoritäten erfolgte relativ spät; tatsächlich kann man das Zweite Vatikanische Konzil als Endpunkt in diesem Anerkennungsprozess betrachten, als den Beginn einer jetzt offiziell unterstützten Umsetzung. Aber es ist ungemein wichtig festzuhalten, dass man mit dem Konzil sofort in eine völlig neue Zeit eingetreten war. Aus einer stark binnenkirchlichen Perspektive heraus nahm man zu wenig oder überhaupt nicht wahr, dass die liturgische Erneuerung im Wesentlichen auf einem veralteten, zeitgebundenen Projekt beruhte. Man dachte gern in Begriffen einer fortschreitenden Entwicklung, während doch im Grunde genommen durch die stark veränderten Kontexte von einem Bruch gesprochen werden konnte.

Inzwischen gibt es gute sozialgeschichtliche Untersuchungen über die langen sechziger Jahre und das „merkwürdige Absterben des Christentums“. Man kann feststellen, dass die rituellen Komplexe zwischen 1850 und 1950 sich mit ideologischen Subkulturen verbunden hatten, die man mit Fug und Recht als Ghettos bezeichnen kann. Rituale waren damals Versatzstücke, mit deren Hilfe man wusste, wie man sich zu verhalten hatte, über das Leben nachdenken konnte, in den verschiedensten Situationen in allen Bereichen (Haus, Schule, Krankenhaus usw.) rituell reagieren musste. In den sechziger Jahren verschwanden die Plausibilitäten dieser Subkultur, zerbröckelten die Ghettos in schnellem Tempo, fanden die Menschen auf unterschiedliche Arten durch die verschiedensten gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen zum Selberdenken und zum Selbstausdruck. Vorgegebene, feststehende, primär kollektive rituelle Repertoires und Instrumente büßten ihre Stellung, ihren Sinn ein. Anstelle eines deduktiven Repertoires bemühte man sich um individuelle Rituale.

Diese Außenperspektive erlaubt auch einen kritischen Blick auf die liturgische Erneuerung: Die liturgische Innovation durch die Einführung erneuerter oder neuer ritueller Praktiken missglückte aus verschiedenen Gründen.

Zuallererst wurde die Erneuerung stark von einer Bewegung bestimmt, die vollständig in die alte Konstellation von ghettoartigen Subkulturen eingebettet war. Außerdem war die ­Bewegung stark binnenkirchlich auf die sakramentale Kern­liturgie mit einer großen Faszination durch die Eucharistie ausgerichtet. Man trug dem Bedürfnis nach einem ­pluriformen Ritual zu wenig Rechnung. Die jahrelange programmatische Opposition gegen frömmigkeitlich und paraliturgische Repertoires ist bekannt.

Als weitere Faktoren sind das Elitedenken und der schon genannte Intellektualismus zu nennen, beziehungsweise die verbreitete Arroganz im Blick auf Rituale. Für Viele war und ist es immer noch schwer anzuerkennen, dass sie nicht mehr der Hauptanbieter von Ritualen sind, dass es inzwischen außerhalb von Kirche und Christentum ein qualitativ hochwertiges Angebot gibt.

Dazu kommt, dass man die grundlegende Bedeutung des rituellen Handelns, der Performance, nicht zur Kenntnis nimmt. Letztendlich betrachtet man für Ritual und Liturgie die dahinter oder darunter angesiedelte Spiritualität oder den Glauben als Kern und Basis. Das Ritual wird damit sehr schnell stark relativiert, als Macht der Gewohnheit betrachtet. Vielleicht spielt hier auch die stark reformatorische Prägung der Niederlande mit einem gewissen Misstrauen gegenüber äußerlichen Gebräuchen und mit ihrem starken Hang zu Wort und Katechese eine Rolle. Aber damit negiert man das ganz eigene Wesen von Ritualität: „In einem funktionierenden Ritual ist Katechese überflüssig, für ein unverständliches Ritual kommt Katechese zu spät“ (Van Beek).

Aus allen diesen Gründen klappte die liturgische Erneuerung also nicht, mehr noch: In den Niederlanden, wo sie in den sechziger und siebziger Jahren auf katholischer Seite am konsequentesten durchgeführt wurde, wirkte sie geradezu kontraproduktiv. Im Grunde genommen lässt sich von einem großen und sicher auch tragischen Missverständnis sprechen: Man arbeitete mit einem auf die Zeit von 1850 bis 1950 geeichten Programm in einem Kontext, der fundamental anders aussah.

Vier große rituelle Felder

Natürlich gab es auch Menschen, die schon damals das tragische Missverständnis erkannten. Gerardus van der Leeuw forderte immer wieder Aufmerksamkeit für die aktuellen gesellschaftlichen, kulturellen und anthropologischen Grundstrukturen von Liturgie. Intuitiv legte Romano Guardini unmittelbar nach der Liturgiekonstitution mit seinem berühmten Mainzer Brief den Finger in die schwärende Wunde. Er dämpfte die Euphorie über die Liturgiereform und wies auf ein wesentlich wichtigeres Thema und einen wesentlich wichtigeren Auftrag hin: Die „Kultfähigkeit“. Wir stehen, so formuliert er, in einer Zeit, in der das rituell-symbolische Handeln als solches wieder seinen Platz finden müsse.

Nach der Krise der sechziger und siebziger Jahre und einer Zeit des Vakuums und des Suchens nach neuen Formen herrscht schon seit einiger Zeit eine große rituelle Dynamik. Durch einige Teilprojekte versuchen wir in Tilburg und in der Forschungsgruppe „Religion & Ritual“ diese Dynamik zu beschreiben und zu typologisieren. Wir unterscheiden dabei sogenannte sakral-rituelle Felder, Zonen in unserer Kultur, in denen sich diese Dynamik zeigt.

In der heutigen europäischen Kultur sehe ich vier große Felder oder Zonen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Identität im rituellen Repertoire.

Zunächst das religiöse Feld: Religion ist in Gesellschaft und Kultur noch immer präsent in institutionellen Erscheinungsformen: Kirchengebäude, Moscheen, Synagogen, Tempel, Gottesdienste, Amtsträger und Experten für Ritual und Religion. Neben einer traditionellen, nach innen orientierten Ritualität (vgl. die tridentinische Messe) gibt es auch mehr außenorientierte und postmoderne Formen, beispielsweise in den und durch die Neuen Medien.

Dann das Feld des Markierens und Erinnerns: Ganz allgemein geht es dabei um Formen, mit denen etwas rituell markiert oder hervorgehoben wird, wie „Rites de passage“ oder die Festkultur. Sie ist zu einem großen Teil mit diesem rituellen Feld verbunden, wobei anscheinend für immer mehr Platz ist. Bis vor kurzem war man in den Niederlanden der Meinung, es komme zu einem Konkurrenzkampf zwischen „Sinterklaas“ und dem Weihnachtsmann, weil es für beide zusammen keinen Raum in unserer Festkultur geben könnte. Inzwischen ist das Gegenteil zu beobachten: Neben Sinterklaas und Weihnachten hat sich im gleichen Zeitabschnitt Halloween etabliert; Sankt Martin und Allerseelen erleben eine auffällige Blüte. Vor allem geht es in diesem Feld um unterschiedliche Formen des Umgangs mit der Vergangenheit, um die Erinnerungs- und Gedenkkultur, die in unserer Kultur als dominierend vertreten ist und sich weiter ausbreitet. Ihr Repertoire ist breit und fließend.

Dann das „kulturelle“ Feld: Darunter subsumiere ich die bildende Kunst, Architektur, Theater, Filme, Kunstfestivals, musikalische Events, Konzerte mit klassischer oder populärer Musik. Hier ist außerdem das große Interesse an Museumskultur, an Museen aller Spielarten zu nennen. Es besteht natürlich ein fließender Übergang zum zweiten genannten Feld wie auch zum nächsten.

Bleibt das Feld der Freizeitkultur: Dieses breite und diffuse Feld reicht von den bürgerlichen Sonntagnachmittagsbeschäftigungen wie dem Spaziergang in der Natur bis zu Sport, Urlaub, Reisen, Festivals und der bunten Welt der Freizeitparks und der Attraktionen. Die Teilfelder Sport und Tourismus haben besonderes Gewicht.

Diese vier Felder und die mit ihnen verbundenen Qualitäten und Kontexte bieten eine Reihe von Perspektiven, mit denen sich die gegenwärtige rituelle Dynamik auf den Begriff bringen lässt. Sie machen vor allem die Dynamik von Sakralität und von sakralen Zonen sichtbar, ebenso auch Transferprozesse: Das Sakrale und der Umgang damit in Riten und Symbolen verschiebt sich von der einen zu der anderen Zone, wobei sich die Formen nicht verändern (als Beispiel sei die Verschiebung vom religiösen zum kulturellen Feld, aber auch zu Tourismus und Freizeit genannt, die sich im Entstehen von spirituellem Reisen manifestiert). Außerdem helfen sie dabei, ein Bild der Spannungen in unserer modernen Kultur zu gewinnen, die sehr oft mit dem Verhältnis der Felder zueinander zusammenhängen. Mit ihrer Hilfe lässt sich auch etwas über den Erfolg beziehungsweise das Scheitern von Ritualen aussagen, ein beliebtes Thema in den modernen „Ritual Studies“. Der enorme Erfolg des „Camino“ nach Santiago findet dadurch eine Erklärung, dass dieses Ritual mit jedem der Felder verbunden und damit in außergewöhnlichem Maß tief und breit in der gegenwärtigen Kultur verankert ist.

Außerdem wird institutionelle Religion zunehmend zu einem immer kleineren und isolierteren Feld, das den Bezug zu den anderen Feldern mehr und mehr einbüßt. Moderne missionarische und um Inkulturation bemühte religiöse Bewegung, etwa evangelikale Gruppen, bemühen sich deshalb nicht zufällig um den Anschluss an die anderen Felder. So möchte Huub Oosterhuis mit seinem Projekt „bezield verband huizen“ und der „Nieuwe Liefde“ in Amsterdam ganz bewusst alle Felder einbeziehen. Das Kirchengebäude lassen wir in diesem Fall hinter uns: Die „Nieuwe Liefde“ ist ein Podium für Weltanschauung, Religion und Spiritualität, Besinnung und Diskussion, Poesie, Musik und Theater.

Damit gerät ein wichtiges aktuelles Kennzeichen von Ritualität in den Blick, das einen besonders prägnanten Trend in diesem Zusammenhang darstellt und gleichzeitig eine der größten Herausforderungen für die christliche Liturgie ist. Es geht immer weniger um eine Spielart von Sakralität und Ritualität, die mit einem in erster Linie kohärenten und dominierenden Feld verbunden ist. Sakralität verbindet sich nicht mehr exklusiv mit dem religiösen Feld; vielmehr sind die anderen Felder in derselben Weise mit Sakralität verbunden. Und es geht nicht nur um ein a-zentrisches Verhältnis im Sinn von Verschiebungen, sondern auch im Sinn von weiter reichender Vielfalt und Dynamik.

Die hier angezielte a-zentrische Perspektive kann auf dem Hintergrund dessen verständlich gemacht werden, was Manual Castells „Netzwerkgesellschaft“ genannt hat. Klassische Unterscheidungen werden obsolet, in einem „Flow“ kommt alles zusammen, Perspektiven springen und wechseln den Kontext. In diesem Sinn ist unsere Gesellschaft „fließend“ geworden. Identität kommt dadurch in den Blick, dass innerhalb dieser Diversität und Komplexität „Akzente“ gesetzt werden.

Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich – ich wähle nochmals den „Camino“ als Beispiel – wie moderne Pilger in ihren Berichten genau diesen „Flow“, Komplexität und Ambiguität beschreiben. Dabei gibt es nicht das eine Profil oder Zentrum. Der Wanderer auf dem „Camino“ ist religiös und spirituell, ist auf der Suche nach Kunst und Kultur, schätzt die Erfahrung von Natur, stellt sich einer sportlichen Herausforderung und sucht Heil und Genesung. Identität ist eine Frage von Akzenten in einem komplexen und unterschiedlich geprägten Ganzen. Im Strom der Fernwanderer unterscheiden sich die „Camino“-Wanderer durch eine Muschel, die an ihrer Kleidung oder ihrem Rucksack befestigt ist.

Durch die sakral-rituellen Felder lässt sich ein Bild der aktuellen Dynamik bei den Ritualen gewinnen. Dieser Kontext bestimmt die Stellung von Liturgie immer mit. Es hat sich gezeigt, wie verhängnisvoll es ist, ihn zu übersehen oder zu leugnen. Liturgie, christliche Ritualität muss Verbindungen mit diesen Feldern herstellen, die sich mehr und mehr im Überfluss bemerkbar machen. Die Liturgie findet so den notwendigen Humus für das rituelle Spielen mit Symbolen. Denn soviel ist fünfzig Jahre nach Guardinis „Mainzer Brief“ klar: Die genannten Felder belegen schon zur Genüge, dass es Signale der „Kultfähigkeit“ gibt. Kritische Fragen richten sich damit wieder auf die Liturgie, auf die „Liturgiefähigkeit“. In einem offenen und breiten sakral-rituellen Milieu steht die christliche Liturgie vor der Herausforderung, ihren eigenen Akzent einzubringen.

Es stimmt mich traurig, dass sich auf katholischer Seite genau das Gegenteil feststellen lässt: Man zieht sich zurück, geht aus einer stark kulturpessimistischen Haltung heraus auf Abstand zu anderen, angrenzenden Feldern. Bei der Umwidmung von Kirchengebäuden stellt man strenge Anforderungen an die künftige Nutzung; regelmäßig ist davon die Rede, dass keine liturgischen Handlungen mehr stattfinden dürften (Eucharistie, Taufe, Eheschließung, Begräbnis im Zusammenhang mit Homosexualität, Ehescheidung und Euthanasie). Damit wird jeder liturgischen Kreativität ein Riegel vorgeschoben. Die liturgischen Bücher, die einstmals aus der Liturgischen Bewegung entstanden sind, werden von der zentralen kirchlichen Autorität streng überwacht, Lieder von Huub Oosterhuis sind aus den Liedheften und Kirchen verschwunden, Konzerte und moderne Kunst werden aus Kirchen verbannt.

Von neuem scheint ein tragisches Unverhältnis zwischen Liturgie und Kultur zu drohen. Es bleibt schwierig, mit Kontextualität und Veränderung zu leben. In den Worten Wouter van Beeks „Ein Ritual, das sich nicht verändert, riskiert, die Nabelschnur zur gelebten Wirklichkeit zu verlieren und damit unwiderruflich an Bedeutung einzubüßen.“ 

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