Ein Porträt der Waldenser in ItalienKleine Kirche, große Wirkung

Während die Waldensergemeinden in den großen italienischen Städten weitgehend stabil sind, schrumpft sie in den Tälern des Piemont recht deutlich. Die Diakonie ist mittlerweile der wichtigste Arbeitszweig der kleinen Kirche. Vor allem in der Sozialarbeit entfaltet sie ungeahnte Potenziale.

Piemont
© Pixabay

Der Eingang zur Höhle liegt an einem steilen Abhang. Hoch über Angrogna im Piemont gelegen, trafen sich in der „Gheiza d’la Tana“ im hohen Mittelalter die Waldenser: Anhänger des Petrus Valdes und der „Armen von Lyon“, die in der Höhle gemeinsam die Bibel lasen, predigten und Gottesdienst feierten, ohne Teil der römischen Kirche zu sein. Was dazu führte, dass die kleine Glaubensgemeinschaft über Jahrhunderte hinweg unbarmherzig verfolgt wurde.

Große soziologische Teilung

Seit 1184 exkommuniziert, schlossen sich die in den ärmlichen Hochtälern des Piemont lebenden Waldenser 1532 auf der Synode von Chanforan der Reformation calvinistischer Prägung an. Doch es folgten weitere, blutige Verfolgungen: 1665 beispielsweise kosteten die als „Piemontesische Ostern“ bekannten Massaker tausende Menschen das Leben. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Waldenser vom Herzog von Savoyen vertrieben, siedelten sich in der Schweiz an und kehrten mit der „glorreichen Rückkehr“ 1689 ins Piemont zurück. Doch erst 1848, mit der Einigung Italiens, sollte ihnen ein freies Leben möglich sein: Bis dahin waren sie auf das „Waldenserghetto“, unwirtliche Höhenlagen jenseits der 600 Meter in den Tälern des Piemont, beschränkt.

Heute erinnert ein Museum in Torre Pelice, dem wichtigsten Ort der 20.000 Gemeindeglieder zählenden, evangelischen Waldenserkirche, an die Verfolgungen und die Geschichte der Kirche. An den Wänden finden sich Namen. „Das sind die Menschen, die damals hingerichtet wurden“, erklärt Museumsdirektor Davide Rosso. „Ihre Nachfahren leben noch heute in den Tälern: Sie kommen hierher, lesen die Namen und fühlen sich an die Vergangenheit erinnert.“ Dann zeigt er auf einen Namen an der Wand. „Der ist aus der Familie meines Nachbarn.“ Ganz ähnlich formuliert es Anna Carle, die Besucher aus Deutschland zur „Gheiza d’la Tana“ führt: „Für den Glauben der Waldenser hat die eigene Heimat immer schon eine wichtige Rolle gespielt.“

Auch heute noch lebt etwa die Hälfte der italienischen Waldenser in den Tälern des Piemont. „In unserer Kirche gibt es eine große soziologische Teilung“, sagt Michelle Charbonnier, der Pfarrer von Torre Pelice. In den Waldensertälern sei die Kirche bis heute eine Volkskirche. Noch vor wenigen Jahrzehnten gehörte ihr die Bevölkerungsmehrheit an. Im übrigen Italien dagegen sind die Waldenser eher eine Freikirche, die sich zudem 1975 mit den italienischen Methodisten zusammenschloss. Dort fänden sich in den kleinen Gemeinden viele Menschen, die bewusst zu den Waldensern übergetreten seien. „In Torre Pelice sind von 1200 Gemeindegliedern jeden Sonntag etwa 70 im Gottesdienst“, sagt Charbonnier. „In Bologna, wo ich zuvor Pfarrer war, sind es ebenfalls 70 – aber bei gerade einmal 120 Gemeindegliedern.“

Und während die Waldensergemeinden in den großen italienischen Städten weitgehend stabil seien, schrumpfe die Waldenserkirche in den Tälern des Piemont recht deutlich. Charbonnier berichtet von einer Erfahrung aus der Corona-Zeit: Seine Gemeinde habe sich entschieden, zu allen Gemeindemitgliedern telefonisch Kontakt aufzunehmen, um sich zu erkundigen, ob sie in der Zeit des Lockdowns Hilfe benötigten, oder ihnen etwas fehle. „Rund 60 Prozent der Telefonnummern, die wir von den Gemeindegliedern hatten, haben nicht gestimmt“, sagt Charbonnier. Seit der Telefonaktion habe man allerdings auch 700 Telefonnummern, die funktionierten. Doch im Grunde erinnert die Situationsbeschreibung des Pastors von Torre Pelice an vieles, was man auch aus volkskirchlichen Strukturen in Deutschland kennt. „Wir haben zu einer ganzen Generation Menschen den Kontakt verloren.“

Geleitet wird die Waldenserkirche heute von einer Synode, die sich einmal im Jahr im August in Torre Pelice trifft. Sie wählt eine sechsköpfige Kirchenleitung, die „Tavola Valdese“, an deren Spitze die Moderatorin der Synode, Allessandra Trotta, steht. Die methodistische Diakonin stammt aus Sizilien, war ursprünglich Rechtsanwältin und kam durch das Engagement in der Kirchensynode zum Theologiestudium. „Wir erkennen uns selbst in der Geschichte und dem Zeugnis der Anderen“, zitiert sie aus dem Dokument, mit dem sich die Waldenser und die Methodisten Italiens zusammenschlossen.

Ein Dokument, das bis heute Leitlinie der Kirche ist. Denn es beschreibt auch gut das Verhältnis zwischen der kleinen Minderheitenkirche in den großen Städten und den Gemeinden in den Tälern des Piemonts. Dabei stehen die kleinen Gemeinden in den Großstädten vor ganz anderen Herausforderungen. Immer mehr protestantische Gläubige aus Afrika schließen sich dort den Waldensergemeinden an. Menschen aus Nigeria, von der Elfenbeinküste oder aus Ghana finden bei den Waldensern eine neue geistliche Heimat. „Wir wollen bewusst keine ethnischen Gemeinden“, sagt Trotta.

„Wir haben die Herausforderung angenommen, gemeinsam Kirche zu sein.“ Was für die traditionellen italienischen Gemeinden bedeutet, dass sie ihr traditionelles Bild von Kirche ständig überarbeiten müssen: Freie Gebete und afrikanische Musik gehören mancherorts nun zum Alltag der Kirche. Afrikanische Pastoren indes gibt es nicht: „Wir haben versucht, unsere afrikanischen Partnerkirchen um die Entsendung von Pastoren zu bitten“, sagt Trotta. Das scheiterte aber an vielen Faktoren: Fehlende Sprachkenntnisse gehörten ebenso dazu wie ein fehlendes Verständnis dafür, was es bedeute, in Italien einer Minderheitenkirche anzugehören. Immerhin: Eine Einwanderin der zweiten Generation habe nun mit dem Theologiestudium begonnen.

Stark profitiert haben die Waldenser in den letzten Jahren von der italienischen Kultursteuer, dem „otto per mille“. Acht Promille der Lohn- und Einkommenssteuer gehen – anstatt einer Kirchensteuer – an Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber auch an Kulturorganisiationen und Wohlfahrtsverbände. Dabei können die Steuerzahler selbst festlegen, wer von ihrem Beitrag profitieren soll. Und auch die Waldenser bewerben sich darum. „570.000 Menschen haben im letzten Jahr für unsere Kirche unterschrieben“, sagt Moderatorin Trotta.

Insgesamt kamen fast 45 Millionen Euro auf diese Weise für die Waldenser zusammen. Doch das Geld wird von der kleinen Kirche nur für die Sozialarbeit sowie für Entwicklungshilfe ausgegeben. Damit unterscheide man sich bewusst von der in Italien starken römisch-katholischen Kirche, sagt Trotta.

Was freilich auch dazu führt, dass die Waldenser für ihre gemeindliche Arbeit bis heute auf eine Unterstützung durch ihre Partnerkirchen, etwa die Evangelische Kirche im Rheinland, angewiesen sind. Denn allein aus den neben der Kultursteuer aufgebrachten Mitgliedsbeiträgen lässt sich die kirchliche Arbeit kaum finanzieren. „Die Waldenser sind eine unserer wichtigsten Partnerkirchen“, sagt der rheinische Präses Thorsten Latzel, der zusammen mit der langjährigen Ökumenebeauftragten Barbara Rudolph vor Kurzem seinen Antrittsbesuch in Torre Pelice absolvierte. Umgekehrt unterstützen die Waldenser mit Mitteln aus „otto per mille“ auch Projekte, die der rheinischen Kirche am Herzen liegen – etwa den christlichen Kibbuz Nes Ammim im Heiligen Land.

Doch auch insgesamt gehen die Waldenser in diesen Tagen mit ihrem Glauben eher zurückhaltend um. Zur großen Überraschung Latzels verzichten die italienischen Protestanten etwa auf einen schulischen Religionsunterricht. Selbst Schulen in Trägerschaft der Waldenser bieten das Fach nicht an. „Wir sind der Überzeugung, dass Religion nicht in die Schulen gehört“, sagt Trotta. Hintergrund seien auch hier schlechte Erfahrungen, die man über die Jahre mit der dominanten katholischen Kirche gemacht habe. „Die religiöse Erziehung von Kindern und Jugendlichen hat ihren Platz in der Familie und in der Sonntagsschule der Gemeinden.“ Allerdings räumte Trotta auch ein, dass es immer schwerer werde, die junge Generation für genau diese Angebote zu begeistern.

Nur Leitungskräfte müssen der Kirche angehören

Etwas anders ist die Situation in den über die Kultursteuer finanzierten Diakonieeinrichtungen. Neben großen Alten- und Pflegeheimen betreibt die Kirche Wohnungen für Migranten und eine im Vergleich zu Deutschland sehr gemeindenah aufgestellte Diakonie- und Sozialarbeit. Zudem gehören Hotels und Gästehäuser sowie wenige Kindergärten und Schulen zur „Diaconia Valdese“. „Unsere Angebote sind für jedermann“, sagt Projektkoordinatorin Miriam Mourglia. „Wir helfen Menschen in Not, unabhängig von ihrer Religion.“ Ähnlich wie in manchen Regionen Ostdeutschlands müssen dabei nur Leitungskräfte der „Diakonia Valdese“ der Waldenserkirche angehören. Anders wäre es auch gar nicht zu bewerkstelligen, dass heute bis zu 700 hauptamtliche Mitarbeiter in der Diakonie beschäftigt sind.

„In den Tälern gehören vielleicht 40 oder 50 Prozent von ihnen unserer Kirche an“, sagt Diakonie-Direktor Francesco Sciotto. „Im übrigen Italien sind es Einzelne.“ Die Mitarbeiter der Diakonie würden deswegen in der Geschichte und den Werten der Waldenser unterwiesen. Und die theologische Fakultät der Waldenser in Rom hat dazu sogar einen eigenen Unterrichtskurs entwickelt. „Für uns ist das auch eine Gelegenheit, unseren Mitarbeitern das Wort Gottes zu verkünden“, sagt Sciotto. „Wir müssen es unseren Mitarbeitern predigen. Denn sie haben ein Recht darauf, dass es ihnen gepredigt wird.“ Schließlich ist die Diakonie der Waldenser nicht ein lästiges Beiwerk, sondern mittlerweile auch der wichtigste Arbeitszweig der kleinen Kirche aus den Tälern des Piemont.

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