Geistlicher Missbrauch: „Totus Tuus“ aufgelöst

Der Bischof von Münster hat die Gemeinschaft „Totus Tuus“ aufgelöst. Über Beschwerden von ehemaligen Mitgliedern hatte die „Herder Korrespondenz“ erstmals im Juni 2019 berichtet. Die Gruppe sei nicht bereit, Missstände abzustellen, so das Bistum. Intern weist „Totus Tuus“ dem Bischof die Verantwortung für die Eskalation zu. Nun will man in Rom die Aufhebung des Auflösungsdekrets beantragen.

Leistungsdruck und Unfreiheit im geistlichen Leben und beim Einsatz für die Evangelisation“, „Redeverbote“, „Kontrolle und autoritäre Züge (…), bis hin zu dem Eindruck, dass ‚blinder Gehorsam‘ verlangt wird“, „teils fehlerhafte geistliche Begleitung“ sowie die Beeinträchtigung einer freien Entwicklung „insbesondere im Bereich der Sexualität, Ehe und Berufung“. Solche Beschwerden von Mitgliedern der Gruppe erreichten das Bistum Münster im Mai 2017, daraufhin wurde ein „moderierter Gesprächsprozess“ eingeleitet. Im September 2017 wurde aus dem Gesprächsprozess dann eine kanonische Visitation der Gemeinschaft im Auftrag des Bischofs von Münster (vgl. HK, Juni 2019, 13–17). In Münster hatte die kleine geistliche Gemeinschaft in den Zweitausenderjahren die kirchenrechtliche Anerkennung erhalten.

Vier Jahre nach Beginn der Visitation hat die Gemeinschaft diese Anerkennung nun wieder verloren. Mit Dekret vom 4. November 2021 löste Bischof Felix Genn „Totus Tuus“ als kirchlich anerkannte Vereinigung auf und untersagte der Gruppe, sich zukünftig noch „katholisch“ zu nennen. Die Verantwortlichen der Gemeinschaft, so begründet das Dekret die Entscheidung, seien „nicht willens, bereit und in der Lage“, die im Bericht der Visitatoren genannten „schwerwiegenden Mängel im geistlichen Umgang mit Mitgliedern dieser Gemeinschaft zum einen einzusehen und zum anderen die gravierenden Mängel auch abzustellen.“

Die Gruppe fühlte sich dem Wallfahrtsort Medjugorje in Bosnien-Herzegowina besonders verbunden, organisierte mehrmals im Jahr Buswallfahrten mit Jugendlichen dorthin. Man pflegte einen charismatisch geprägten Frömmigkeitsstil. Bei den Treffen spielte der musikalische „Lobpreis“ eine große Rolle, auch die sogenannte „Zungenrede“ wurde praktiziert: ein gemeinsames ekstatisches Sprechen in Fantasiesprachen. „Totus Tuus“ verstand sich als missionarische Gemeinschaft. An den Wochenenden fuhren die Mitglieder zu „Einsätzen“ im gesamten Bundesgebiet. So wirkte man in Pfarrgemeinden an der Vorbereitung von Erstkommunionen und Erstbeichten oder an der Firmkatechese mit. Auch Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche wurden angeboten. „Totus Tuus“ gehörte 2018 zu den Unterzeichnern des „Mission Manifest“.

Der Leiter als Seelenführer

In einem Schreiben an die Mitglieder von „Totus Tuus“, das ebenfalls auf den 4. November 2021 datiert ist, schreibt Genn: „Schwerwiegende Mängel zeigten sich insbesondere im Verständnis und der Ausübung von Leitung und in der fehlenden Trennung von forum internum und forum externum“. Beichte und geistliche Begleitung, die „Seelenführung“ also, soll in der katholischen Kirche von der äußeren Leitung getrennt sein. Schon 1624 verbot es Papst Clemens VIII. Ordensoberen, die Beichte ihrer Untergebenen zu hören. Ansonsten besteht Experten zufolge die Gefahr, dass Leitungspersonen Wissen aus vertraulichen seelsorgerlichen Gesprächen in missbräuchlicher und manipulativer Weise ausnutzen. Gegenüber der „Herder Korrespondenz“ hatten ehemalige Mitglieder im Juni 2019 berichtet, dass Angehörige der Gruppe beim Leiter von „Totus Tuus“ in geistlicher Begleitung gewesen seien.

Genn kritisiert in seinem Brief an die Mitglieder außerdem: „Durch einen personenfixierten und unreflektierten Leitungsstil wurde ein Klima begünstigt, das Spiritualität quantifiziert, Kritik zum Ausweis mangelnder geistlicher Reife erklärt und ein geschlossenes Elitedenken befördert hat.“ Hinweise auf „Straftaten oder Vergehen nach zivilrechtlichen Maßstäben“ seien allerdings nicht gefunden worden. Aufgrund der Visitationsergebnisse sei er indes zu der Einschätzung gekommen, dass es bei „Totus Tuus“ zu „Handlungen und Kommunikationsverhalten“ gekommen sei, „die wir heute unter den Begriff geistlicher Missbrauch“ fassen. „Die Gemeinschaft hat Strukturen und Verhaltensweisen entwickelt, die ein solches Handeln ermöglicht und gefördert haben“, so Genn weiter.

Die Gemeinschaft mit ihren damals rund hundert Mitgliedern und einem mehrere hundert Personen umfassenden Freundeskreis sei stark auf ihren Leiter ausgerichtet gewesen, so die ehemaligen Mitglieder damals in der „Herder Korrespondenz“. Dieser habe eine leistungsorientierte Frömmigkeit gepredigt und die Mitglieder zu immer neuen geistlichen Höchstleistungen animiert, erzählten die Aussteiger. Die Ansprachen des Leiters wurden aufgenommen und kursierten als CDs unter den Mitgliedern. Bei einer Veranstaltung im Jahr 2010 sprach der Leiter über „Empfindlichkeit“. Man müsse eine Widerstandsfähigkeit gegen das Leiden entwickeln und lernen, „aus Liebe zu Gott Verletzungen zu ertragen“, heißt es in der Ansprache. Wenn man Probleme mit der Gemeinschaft habe, müsse man sich sagen: „Es liegt an mir, ich bin empfindlich“.

Im Kampf gegen die „Lauheit“

In einer E-Mail an die Mitglieder aus dem Jahr 2014 beklagt ein führendes Mitglied, das seit 2010 im Erzbistum Köln als Priester wirkt, die mangelnde Beteiligung von Mitgliedern an „Einsätzen“. „Evangelisation ist nicht etwas, was ich mal mache, wenn ich Zeit oder Lust habe, sondern es ist meine Berufung. Was passiert, wenn ich meine Berufung nicht oder nur sehr unzureichend lebe?“, so das Schreiben, das der „Herder Korrespondenz“ vorliegt. Weiter heißt es dort: „Wenn ich meine Berufung nicht lebe, werde ich im Letzten nicht wirklich glücklich und zufrieden. Ich suche mir Ersatzbefriedigungen, aber irgendwo spüre ich (ganz tief im Inneren, wenn ich ganz ehrlich bin), dass sie mich nicht wirklich ausfüllen (…). Der Teufel hasst Gemeinschaften, die Maria geweiht sind und versuchen, Seelen zu retten, und er setzt gerne ein altbewährtes Gift ein, das die Namen trägt: Bequemlichkeit, Lauheit, Gleichgültigkeit (…).

Dieses Gift wirkt schleichend, zunächst merkt man äußerlich nicht viel, aber innerlich lässt der Eifer für die Evangelisation und für TT nach und man fragt sich: Ist das nicht alles zu viel? Übertreiben die nicht? Bin ich nicht aus dem Alter raus? Ich brauche mehr Zeit für mich! Und je länger es wirkt, desto weiter entferne ich mich (…).“

Laut dem Bistum Münster erfolgte bis Herbst 2018 die eigentliche Visitation durch Pfarrer Dr. Jochen Reidegeld und Schwester Birgitte Hermann. Im Anschluss hätten die Visitatoren einen „Gesprächs- und Aufarbeitungsprozess“ mit der Gemeinschaft begonnen. Im Dezember 2019 erhielt die Gemeinschaft dann eine neue Übergangsleitung, die von einem Münsteraner Pfarrer begleitet werden sollte, wie das Bistum damals mitteilte. Im November 2020 lag dann offenbar ein Abschlussbericht vor. Eine Anfang 2021 eingesetzte Beratergruppe erhielt schließlich den Auftrag, die weiteren Schritte zu erörtern.

Zu diesem Zeitpunkt ging das Bistum also anscheinend immer noch davon aus, dass ein Fortbestehen der Vereinigung möglich sei und die Missstände abgestellt werden könnten. Dem Bistum zufolge führt jedoch die Weigerung der Verantwortlichen, auf die gestellten Bedingungen einzugehen, zur Auflösung von „Totus Tuus“. In seinem Schreiben an die Mitglieder beklagt Bischof Genn: „Die Leitung der Gemeinschaft hat sich trotz mehrerer Bitten des Bistums einem weiteren, klärenden Gespräch entzogen und stattdessen nur noch über einen Rechtsanwalt kommuniziert. Bis heute konnte kein weiteres Gespräch mit der Leitung der Gemeinschaft stattfinden.“

Der Veröffentlichung des Dekrets ging in den letzten Wochen die Aufnahme von Zeugenaussagen mehrerer ehemaliger Mitglieder voraus, wie die „Herder Korrespondenz“ erfuhr. Laut dem Dekret hat die Gruppe die Möglichkeit, eine Rücknahme zu beantragen und Widerspruch beim römischen Dikasterium für Laien, Familie und Leben einzulegen. Per E-Mail teilte „Totus Tuus“ gegenüber der „Herder Korrespondenz“ knapp mit: „Die Gemeinschaft wird die im Dekret genannten Rechtsmittel ergreifen.“

In einem Schreiben an die Mitglieder des Freundeskreises, das der Redaktion vorliegt, gibt man sich allerdings uneinsichtig und weist die Schuld für die Eskalation dem Bischof zu. Bei dem von Genn erwähnten Rechtsanwalt handle es sich „um einen Priester, der kein Rechtsanwalt mehr ist“, er sei „vielmehr vor seiner Priesterweihe als Rechtsanwalt tätig“ gewesen. „Wir haben ihn im Februar als unseren Bevollmächtigten bestellt, um aktuelle Vorwürfe des Bischofs von Münster sachgerecht zu klären. Die Ernennung eines Bevollmächtigten lässt das Kirchenrecht ausdrücklich zu. Es ist daher der Bischof von Münster, der das weitere Gespräch mit uns gegenüber unserem Bevollmächtigten verweigert und die weitere Arbeit an den Statuten seit März dieses Jahres ausgesetzt hat.“

Der gescheiterte Klosterkauf

Im Auflösungsdekret legt Bischof Genn außerdem fest: „Mitarbeitern im pastoralen Dienst des Bistums untersage ich jegliche Mitgliedschaft und Mitwirkung in welcher Form auch immer in der Vereinigung Totus Tuus. Zudem untersage ich ausdrücklich jegliche Form von Veranstaltungen/Aktivitäten von der Vereinigung Totus Tuus auf dem Gebiet und in Einrichtungen des Bistums Münster“. Das Erzbistum Köln teilte auf Medienanfragen mit: „Es gibt im Erzbistum Köln zwei Diözesanpriester, die ihre spirituelle Heimat in der Gemeinschaft Totus Tuus Neuevangelisierung haben. Ihre spirituelle Heimat ist nicht von Belang für die Aufgaben in den Pfarreien, in denen sie eingesetzt sind, da sie schon seit längerem vom Erzbistum Köln die Auflage haben, ihr Wirken als Pfarrvikar im Erzbistum strikt von dem Engagement für Totus Tuus außerhalb des Erzbistums zu trennen.“ Im Übrigen gelte: „Sowohl die kirchenrechtliche Anerkennung der Gemeinschaft Totus Tuus als auch deren Entzug erfolgte durch den Bischof von Münster. Das Erzbistum Köln hält sich an diesen Beschluss.“

Im Jahr 2019, während der noch laufenden Visitation, hatte die Gemeinschaft versucht, ein Kloster auf dem Gebiet des Erzbistums Köln zu erwerben. Dazu teilt eine Sprecherin mit: „Es ist richtig, dass sich die Gemeinschaft Totus Tuus zwischenzeitlich für den Erwerb des Dominikanerinnen-Klosters in Düsseldorf-Angermund interessiert hat. Der Kauf ist aber damals nicht zustande gekommen.“ Für den Verkauf des Klosters wäre eine Zustimmung des Kölner Erzbischofs Kardinal Rainer Maria Woelki erforderlich gewesen.

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