Ein „Solidarisches Bürgergeld“ ist das Gebot der StundeTrampolin, kein Sofa

Alle scheinen sich einig: Wir brauchen den Umbau der sozialen Sicherung. Mit der viel versprechenden Idee eines „Solidarischen Bürgergelds“ steht ein kompletter Neubau zur Debatte. Die moralökonomische Bilanz dieses Reformprojekts fällt eindeutig positiv aus.

Seit Jahrzehnten laboriert Deutschland an den Problemen des Arbeitsmarkts, der sozialen Sicherung und des Steuersystems – ohne durchgreifenden Erfolg. Der Konsens über die Notwendigkeit eines Umbaus scheitert regelmäßig an den unterschiedlichen Ansichten, worin denn der notwendige Umbau konkret zu bestehen habe. Möglicherweise liegt das ja daran, dass wir zu sehr in den eingefahrenen Gleisen Bismarcks denken. Vielleicht wäre nicht nur der Umbau des Bestehenden, sondern ein kompletter „Neubau“ das Gebot der Stunde. In letzter Zeit geistern vor allem zwei Begriffe durch die Medienwelten: Götz Werner, Chef der Drogeriekette dm streitet seit 2005 für ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Im Sommer letzten Jahres brachte Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus sein Konzept eines „Solidarischen Bürgergelds“ in die Diskussion. Im technischen Ökonomenjargon heißt das Modell „negative Einkommensteuer“. Der Vorschlag ist nicht gerade neu: Bereits 1943 hatte die linksintellektuelle Ökonomin Juliet Rhys-Williams einen entsprechenden Vorstoß gewagt, der dann in den sechziger Jahren von dem erzliberalen Ökonomen Milton Friedman aufgegriffen wurde. Seit 1975 gibt es in den USA mit dem „Earned Income Tax Credit“ (EITC) ein abgespecktes Negativsteuersystem, genauer: an Erwerbsarbeit gebundene Steuergutschriften. In Deutschland wurde das Modell seit Mitte der achtziger Jahre von den Ökonomen Joachim Mitschke und Wolfram Engels propagiert. Obwohl die politische Diskussion des Konzepts regelmäßig aufgrund fragwürdiger Berechnungen des (angeblich exorbitanten) Finanzierungsvolumens scheiterte, wurde es doch immer wieder aufgegriffen, so zum Beispiel im „Liberalen Bürgergeld“ der FDP (2005) oder von Bundespräsident Horst Köhler (Ende 2005).

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Vermutung, dass wir mit einem bloßen Umbau des Bestehenden nicht wirklich vorankommen. Denn die klassische Beitragsfinanzierung der Sozialen Sicherungssysteme trägt aufgrund ihrer Koppelung an die Lohnarbeit, insbesondere aufgrund der Arbeitgeberbeiträge zur Erhöhung der Arbeitskosten und damit zur Arbeitslosigkeit bei. Mit jeder sozialen Wohltat, die wir uns gönnen, produzieren wir Arbeitslose. Im gegenwärtigen System (Hartz IV) lohnt sich arbeiten nicht wirklich, da AlG-II-Empfänger von 1000 Euro Arbeitslohn ganze 262 Euro behalten dürfen („Arbeitslosenfalle“). Zudem ist unser Sozialsystem ausgesprochen kompliziert und bürokratieintensiv: 155 unterschiedliche Sozialleistungen werden von 37 unterschiedlichen Stellen ausgegeben. Alle Versuche, diese Probleme durch Modifikationen der eingefahrenen Gleise zu beheben, haben sich als unzureichend erwiesen. Die Reformen vom Vormittag waren am Nachmittag schon wieder überholt, die Probleme waren immer schneller.

Worin besteht nun die Grundidee eines „Bürgergeldes“? Greifen wir das wirtschaftspolitisch aussichtsreichste Konzept von Althaus heraus: Jeder erwachsene Bürger hat zunächst einmal Anspruch auf ein „Großes Solidarisches Bürgergeld“ in Höhe von 800 Euro. Davon gehen 200 Euro Gesundheitsprämie für die Krankenkasse ab, bleiben also 600 Euro. Zusätzliches Eigeneinkommen wird zu 50 Prozent auf das Große Bürgergeld angerechnet. Jeder selbstverdiente Euro verringert den Bürgergeldanspruch nur um 50 Cent, so dass deutlich mehr in der eigenen Tasche verbleibt als im Status Quo (Hartz IV). Solange die Bezieher des „Großen Solidarischen Bürgergelds“ nicht mehr als 1600 Euro aus eigener Arbeit verdienen, zahlen sie keine (positiven) Steuern, sondern bekommen eine „negative Steuer“ ausgezahlt, eben das Bürgergeld. Es besteht zudem für jeden Bürger auch die Möglichkeit, das „Kleine Solidarische Bürgergeld“ zu wählen, das sich faktisch ab einem Einkommen von 1600 Euro rechnet. Beim „Kleinen Solidarischen Bürgergeld“ beläuft sich der Bürgergeld Grundsatz auf 400 Euro und der Steuersatz auf 25 Prozent („flat tax“). Kinder von 0 bis 18 Jahren haben einen Anspruch auf 500 Euro „Kinderbürgergeld“, von dem allerdings wiederum 200 Euro Gesundheitsprämie abgezogen werden. Bei der Alterssicherung gilt die „Bürgergeldrente“, die sich aus dem „Großen Solidarischen Bürgergeld“ (800 Euro) und einer leistungsorientierten, sich an der vorherigen Entlohnung orientierenden „Zusatzrente“ (bis zu 600 Euro) zusammensetzt. Bestehen weitere Rentenansprüche aus dem bisherigen System, werden diese durch eine „Rentenzulage“ gewährt. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit des „Bürgergeldzuschlags“, der bedarfsabhängig nur in besonderen Lebenslagen auf Antrag, also nicht bedingungslos ausgezahlt wird. Die Finanzierung des Bürgergeldsystems erfolgt über die Einkommensteuer (Steuerfinanzierung), weswegen die bisherigen Sozialversicherungsbeiträge (von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite) sämtlich entfallen. Allerdings werden die leistungsbezogenen „Zusatzrenten“ (sowie übergangsweise die „Rentenzulagen“) durch eine 10-prozentige „Lohnsummensteuer“ der Arbeitgeber finanziert.

Einwände beziehen sich vor allem auf die Finanzierbarkeit

Zweifelsohne wäre die Umsetzung dieses Konzepts kein einfacher Umbau des bisherigen Systems der sozialen Sicherung mehr, sondern ein kompletter Neubau: Alle bisherigen steuerund beitragsfinanzierten Sozialleistungen würden durch das Bürgergeldsystem ersetzt. Natürlich löst die Tatsache, dass es sich um einen echten Neubau handelt, ebenso Beifall wie Skepsis aus. Einwände beziehen sich vor allem auf die Finanzierbarkeit sowie auf die dahinterstehenden Werte. Das ökonomische Problem der Finanzierbarkeit der unterschiedlichen Bürgergeldmodelle wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert, wobei auffällt, dass die Beantwortung dieser an sich eher technischen Frage von ideologischen Prämissen nicht ganz unabhängig zu sein scheint. So wiesen etwa die Gutachten des „Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)“, die dem Bürgergeldmodell von Mitschke exorbitante Kosten bescheinigten, gravierende Fehler auf. Zum „Solidarischen Bürgergeld“ liegt mittlerweile ein im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung erstelltes Gutachten von Michael Opielka und Wolfgang Strengmann-Kuhn vor, das dem Modell bei einigen Modifikationen Finanzierbarkeit bescheinigt. Auch der Ökonom Thomas Straubhaar, Direktor des „Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut“ (HWWI), bestätigt die Finanzierbarkeit eines Bürgergeldgrundeinkommens.

Aber abgesehen von dieser technischen Frage der Finanzierbarkeit wirft der Vorschlag auch die sozialethische Frage auf, ob das Konzept programmatisch den Wertgrundlagen der modernen Gesellschaft sowie den Sozialprinzipien der christlichen Sozialethik entspricht oder nicht. Grundsätzlich orientiert sich das „Solidarische Bürgergeld“, so Althaus, an drei prinzipiellen Zielprämissen: Es soll erstens der Würde und Solidarität aller Menschen entsprechen, zweitens soll es marktwirtschaftlich sein und drittens (soziale) Gerechtigkeit umsetzen (vgl. Stimmen der Zeit Nr. 11/2006, 724; und: www.d-althaus.de). Die erste Prämisse scheint im Hinblick auf ein Konzept, das die Solidarität im Logo führt, selbstverständlich zu sein. Dennoch werfen sich bereits hier Fragen auf. Althaus schreibt: „Die Würde des Menschen muss unter allen Umständen garantiert sein; das schließt den bedingungslosen Anspruch auf ein soziokulturelles Existenzminimum ein“ (www.d-althaus.de). Hier gilt es folgende Punkte zu unterscheiden: Erstens schließt die Anerkennung der Personwürde und die Solidarität aller Personen faktisch tatsächlich die Sicherstellung eines Existenzminimums ein (falls eine Gesellschaft über die materiellen Ressourcen verfügt, dieses Existenzminimum gewähren zu können). Keine moralisch halbwegs integre Gesellschaft wird sehenden Auges Mitmenschen verhungern lassen, und zwar unabhängig davon, ob diese Mitmenschen unverschuldet in Not geraten sind oder ob sie sich aus eigener Schuld in ihre missliche Lage manövriert haben. Insofern ist dem Ökonomen Straubhaar völlig Recht zu geben: „Eine aufgeklärte christliche Gesellschaft wird niemals zulassen, dass Menschen ohne Nahrung und Kleidung obdach- und würdelos dahinvegetieren“ (Wirtschaftsdienst Nr. 12/2006, 751). Zwar muss man bei Menschen, die an ihrer Not selber schuld sind, moralisch eben eine „Schuld“ diagnostizieren; das ändert aber nichts daran, dass die Gesellschaft trotzdem verpflichtet ist, diese Menschen vor einem würdelosen Dahinvegetieren zu bewahren und dies faktisch auch tun wird. Sozialethisch gefordert ist zum zweiten in der Tat ein soziokulturell angemessenes Existenzminimum. Kein anderer als der Erfinder der modernen Marktwirtschaft, Adam Smith, schreibt hierzu: „Unter lebenswichtigen Gütern verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst aus der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd ist beispielsweise (…) nicht unbedingt zum Leben notwendig. (…) Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste“ (Der Wohlstand der Nationen, 747). Ohne Einkommensrelationen kommt man nicht aus, die Höhe des Existenzminimums wird immer die soziokulturelle Relationalität berücksichtigen. Sozialethische Probleme ergeben sich nun allerdings beim dritten Punkt, der Bedingungslosigkeit des Bürgergeldes.Denn sowohl die christliche Sozialethik als auch Althaus selber gehen bei arbeitsfähigen Personen von einer individualethischen „Pflicht zu arbeiten“ (Stimmen der Zeit Nr. 11/2006, 727) aus. Das Modell des Solidarischen Bürgergelds kann den einschlägigen Satz des Paulus, wer nicht arbeiten wolle, solle auch nicht essen (2 Thess 3,10), im Sinn einer individualethisch berechtigten (Selbst-)Verpflichtung durchaus anerkennen und lehnt ihn nicht programmatisch ab (wie dies etwa Götz Werner tut: Handelsblatt, 5.10.2005).

Auch ein richtig verstandener Solidaritätsbegriff stützt ein moralisches Recht auf ein bedingungslos gewährtes Bürgergeld eigentlich nicht. Denn „Solidarität“ (lat. solidare fest zusammenfügen) meint schon in der traditionellen katholischen Soziallehre neben der – empirisch mehr oder minder zutreffenden – Tatsache der Interdependenz („Wir sitzen alle in einem Boot“) vor allem eine moralische Verpflichtung im Sinn einer gegenseitigen Verantwortung („Einer für alle, alle für einen“). Wenn die grundlegende Solidaritätsfrage geklärt ist, wer fest zusammenstehen soll, wer mein „Nächster“ ist und zum „Wir“ der Solidargemeinschaft gehört, dann besteht zwischen den Solidarmitgliedern ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“ (Warnfried Dettling), sie lässt sich nicht auf eine mildtätige Barmherzigkeit der Starken mit den Schwachen reduzieren: Einerseits hat jeder Anspruch auf die Hilfe der Solidargemeinschaft, andererseits aber besteht auch die ethische Pflicht, nach Kräften etwas zurückzugeben. Das Solidaritätsprinzip ist ein Gegenseitigkeitsprinzip, das Rechte und Pflichten vorsieht, und dazu gehört bei arbeitsfähigen Personen auch die (individual-)moralische Pflicht zur Arbeit, sei es nun Erwerbsarbeit, Familienarbeit, ehrenamtliche Arbeit oder auch spirituelle „Arbeit“. Wenn in der pragmatischen Umsetzung eines Bürgergelds trotzdem eine Bedingungslosigkeit vorgesehen wird, so hat dies vornehmlich den technischen Grund der Funktionstüchtigkeit des Bürgergeldsystems. Gleichwohl lassen sich aber zwei moralisch erwünschte Effekte des Solidarischen Bürgergeldes ausmachen: Der erste Punkt war schon für die Erfinderin der „negativen Einkommensteuer“, Juliet Rhys-Williams, von entscheidender Bedeutung. In einem bedingungslosen Bürgergeldsystem entfällt die vielfach als entwürdigend empfundene Bittstellerei bei dem geforderten Nachweis der Bedürftigkeit, es entfällt auch die Notwendigkeit für die staatlichen Behörden, die Bürgerinnen und Bürger mit fortwährendem Misstrauen kontrollieren zu müssen. Niemand wird stigmatisiert. Hinzu kommt, dass eine wirksame Konditionierung tatsächlich durchgesetzt werden muss, was mit bürokratischem Aufwand und nennenswerten Kosten verbunden ist. Der zweite moralisch erwünschte Effekt ist der, dass das Bürgergeld eine finanzielle und damit auch moralische Anerkennung der vielen unterschiedlichen Formen von Nicht-Erwerbsarbeit darstellt (Familienarbeit usw.).

Ohne die Bedingungslosigkeit ist ein funktionstüchtiges Bürgergeldsystem nicht zu haben

Das entscheidende pragmatische Argument dafür, das Bürgergeld ohne Bedingungen (unkonditioniert) auszuzahlen, ist aber, so Thomas Straubhaar, technischer Natur: „Das Grundeinkommen (…) vernachlässigt (…) das Prinzip der Gegenleistung. Alle sollen soziale Hilfe erhalten und nicht nur, wer auch bereit ist, etwas dafür zu tun. Der Grund für diese Großzügigkeit liegt in der Transparenz und der Einfachheit des Verfahrens“ (HWWI Update Nr. 5/2006, 3). Ein konditioniertes Bürgergeld, ein „Bürgergeld light“ funktioniert schlichtweg nicht. Wir brauchen ein transparentes System aus einem Guss. In allen bisher vorgeschlagenen Modellen, eine „negative Einkommensteuer“ zu konditionieren oder auf bestimmte Problemgruppen zu beschränken, mussten komplizierte Hilfskonstruktionen vorgenommen werden, und trotzdem verbleiben immer strukturelle Gerechtigkeitsbrüche im System (Ungleichbehandlung von Bürgergeldempfängern und -nichtempfängern), die keine Stammtischdiskussion überstehen würden. Ohne die Bedingungslosigkeit ist ein funktionstüchtiges Bürgergeldsystem nicht zu haben.

Althaus benennt als zweite grundsätzliche Zielprämisse: „Das System muss marktwirtschaftlich sein“ (www.d-althaus.de), Leistung müsse sich auszahlen. Das Solidarische Bürgergeld versteht sich also als eine Sozialpolitik für den (Arbeits-) Markt. Angesichts der „Solidaritätsfunktion des Wettbewerbs“ (Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 127) kann es nicht darum gehen, das Instrument des (Arbeits-)Markts auszuhebeln. Denn durch ihn werden auch für diejenigen Konsumenten, die über keinen großen Geldbeutel verfügen, Produkte erschwinglich, die ohne Wettbewerb entweder gar nicht vorhanden oder aber wesentlich teurer wären, und durch ihn wird die Nachhaltigkeit der Arbeitsplätze eher gesichert als in alternativen (planwirtschaftlichen) Systemen, die die Rentabilität der Arbeitsplätze ignorieren. Pointiert formuliert der Wirtschaftsethiker Karl Homann: „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“ (Wirtschaftswoche Nr. 38/1996, 38). Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit besteht in der Tatsache, dass es auch ruinöse Marktprozesse gibt und dass der Marktwettbewerb auch menschliche Härten mit sich bringt. Im ersten Fall (zum Beispiel in ökologischer Hinsicht) besteht Ordnungsbedarf: die „Spielregeln“ müssen verändert werden. Im zweiten Fall müssen die menschlichen Härten durch eine flankierende Sozialpolitik abgefedert werden – allerdings auf eine solche Weise, dass dadurch die Funktionstüchtigkeit der Arbeitsmärkte nicht behindert, sondern befördert wird. Genau dies ist der beabsichtigte Zweck des Solidarischen Bürgergeldes: Da sich eine Arbeitsaufnahme in jedem Fall lohnt – von jedem selbstverdienten Euro behalte ich die Hälfte in der Tasche –, kann das Solidarische Bürgergeld als aktivierendes „Sprungbrett“ fungieren: „Das Solidarische Bürgergeld ist ein Trampolin zum Mitmachen, kein bequemes Sofa zum Faulenzen“ (Stimmen der Zeit Nr. 11/2006, 728).

Die dritte Zielprämisse schließlich besteht in dem Anspruch, dass das Solidarische Bürgergeld in der Lage ist, eine größere soziale Gerechtigkeit umzusetzen (www.d-althaus.de). Gerechtigkeit ist ein Unparteilichkeitsprinzip, es geht um eine faire Berücksichtigung der Interessen aller. An dieser Stelle kommt das „Subsidiaritätsprinzip“ ins Spiel: Nach dem Subsidiaritätsprinzip, so Oswald von Nell-Breuning, soll die Gesellschaft, soll das Ganze „seinen Gliedern hilfreich (…) sein; (…) ihnen nur wirkliche Hilfe erweisen, nicht sich an ihre Stelle setzen“ (Wie sozial ist die Kirche?, 26). Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe, um „Befähigung“ zur Eigenverantwortung, kurz: Befähigungsgerechtigkeit. So heißt es auch in dem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort der beiden christlichen Kirchen aus dem Jahr 1997: „Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt nicht: den Einzelnen (…) allein lassen“ (Nr. 27).

Meines Erachtens fällt nun die Befähigungsbilanz des Solidarischen Bürgergelds per saldo durchaus positiv aus: Aufgrund der nur 50-prozentigen Anrechnung der Sozialtransfers auf das Arbeitseinkommen lohnt sich eine reguläre Arbeitsaufnahme deutlich mehr als im gegenwärtigen System (Hartz IV), das faktisch eher als Trampolin in die Schwarzarbeit fungiert. Befähigend wirkt das Solidarische Bürgergeld aber auch im oberen Bereich der Einkommensskala, da bei den Leistungsstarken zwar nur das halbe Bürgergeld verrechnet wird (tatsächlich zahlen sie positive Steuern), dafür aber auch einen leistungsfreundlichen Einkommensteuersatz (25 Prozent „flat tax“) bekommen. Schließlich befähigt das Solidarische Bürgergeld im Effekt auch bislang nicht oder nur gering honorierte Formen von Arbeit: Familienarbeit, bürgerschaftliches Engagement, auch spirituelle „Arbeit“. Auch die Gerechtigkeitsbilanz des Solidarischen Bürgergelds fällt per saldo positiv aus: Das System entspricht Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit eher als der Status quo, da es nunmehr auch diejenigen Bedürftigen erreicht, die bisher aus Scham keine Ansprüche erhoben haben („verdeckte Armut“). Es verbessert Chancen- und Beteiligungsgerechtigkeit, indem es zu einer größeren Beteiligung auf dem Arbeitsmarkt (inklusive Niedriglohnsektor) befähigt. Es entspricht der Leistungsgerechtigkeit, da sich Leistung durchgehend lohnt. Zieht man Bilanz, kann dem Solidarischen Bürgergeld bescheinigt werden, das Gesamtziel einer subsidiären Befähigungsgerechtigkeit zu befördern. Bleibt der „wunde“ Punkt des Konzepts eines Solidarischen Bürgergeldes: das Problem des „Missbrauchs“ (in Anführungszeichen, da es sich ja um keinen rechtlichen, sondern nur um einen moralischen Missbrauch handelt). Sowohl Althaus als auch die christliche Sozialethik gehen von einer moralischen Pflicht zur Arbeit aus. So schreibt auch das jüngst von evangelischen und katholischen Sozialethikern gemeinsam verfasste Papier „Im Zentrum: Menschenwürde“, es gehe „einerseits um das Recht, andererseits um eine Pflicht, durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen“ (30).

Da ein konditioniertes „Bürgergeld light“ nicht umsetzbar ist, man also aus dem pragmatischen Grund der Funktionsfähigkeit des Verfahrens um die Bedingungslosigkeit nicht herumkommt – entweder Bürgergeld ganz oder gar nicht –, muss man den möglichen „Missbrauch“ derer, die ihrer moralischen Pflicht zur Arbeit nicht nachkommen, schlichtweg in Kauf nehmen. Zudem legen einige empirische Studien die Vermutung nahe, dass der „Missbrauch“ durch Sanktionsmaßnahmen à la Hartz IV auch nicht effektiv verhindert wird. „Anreize wirken stärker und nachhaltiger als Zwang“ (Michael Opielka). Schließlich ist es nicht zweckmäßig, ein System vom „Ausnahmetatbestand“ eines möglichen Missbrauchs („Faulenzerprämie“) her zu beurteilen. Ohnehin ermöglicht das „Sofa“ des Solidarischen Bürgergeldes mit 600 Euro nicht gerade ein sonderlich luxuriöses Faulenzen.

Eine Gefahr, die bei der Einführung eines Bürgergeldsystems zweifelsohne als real bezeichnet werden muss, besteht darin, dass die Parteien vor jeder Wahl um den höchsten Bürgergeldsatz wetteifern würden. Man sollte daher überlegen, ob man die Festlegung der Höhe des Bürgergelds nicht an einen Mechanismus koppelt, der sie der Tendenz zu Wahlkampfgeschenken entzieht. Alles auf Erden hat zwei Seiten, weist Vor- und Nachteile auf. Auch das Solidarische Bürgergeld macht da keine Ausnahme. Entscheidend ist schlussendlich der Saldo von Vor- und Nachteilen. Nicht das Gerechte, sondern nur das weniger Ungerechte liegt in unserer Hand. Da die moralökonomische Bilanz des „Solidarischen Bürgergeldes“ per saldo aber eindeutig positiv ausfällt, verdient das Reformprojekt Unterstützung. Natürlich muss man über einen solchen kompletten Neubau gründlich nachdenken, aber da wir mit bloßem Möbelrücken und vermutlich auch mit einem Umbau des Bestehenden nicht weit genug kommen, ist dieses Nachdenken über einen Neubau das Gebot der Stunde.

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