Gesellschaft und Kirche in Chile nach dem Tod PinochetsSteiniger Weg der Versöhnung

Die gespaltenen Reaktionen auf den Tod von Augusto Pinochet schienen zu zeigen, dass die „beiden Chiles“ immer noch unversöhnt sind. Umgekehrt besteht nun die Chance, die eigene Geschichte gewissenhaft aufzuarbeiten und so das Fundament für ein neues Chile zu legen. Mit ihrem nach wie vor großen Einfluss kann die Kirche in diesem Prozess eine wichtige Rolle übernehmen.

Selbst im Tod spaltete Augusto Pinochet die Chilenen. Zwei Handlungen waren dabei exemplarisch für die Reaktion eines ganzen Landes auf den Tod seines ehemaligen Diktators. Beide wurden von Nachkommen historischer Persönlichkeiten vollzogen und ließen die Vergangenheit unmittelbar in die Gegenwart einbrechen: Da war zum einen Hauptmann Augusto Pinochet Molina, der Enkel des Militärmachthabers. Bei der Messfeier zum Begräbnis des Verstorbenen ergriff der 33-Jährige gegen das Protokoll das Mikrofon. Er rechtfertigte den Putsch, bei dem Pinochet 1973 den demokratisch gewählten Marxisten Salvador Allende gestürzt hatte. Inmitten des Kalten Krieges habe General Pinochet mit Waffengewalt eine marxistische Regierung zu Fall gebracht, die versucht habe, ihr „totalitäres Modell“ im Lande durchzusetzen. Auch die Richter und Anwälte, die sich seit 1990 um Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverbrechen und Korruptionsskandale des Pinochet-Regimes bemüht hatten, kritisierte er scharf. Er warf ihnen vor, von Profilierungsstreben geleitet zu sein. Den anderen symbolträchtigen Akt vollzog Francisco Cuadrado Prats, Enkel von General Carlos Prats, unter Präsident Salvador Allende Vorgänger Augusto Pinochets als Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte. Unter der sengenden Sonne der Hauptstadt Santiago wartete Cuadrado mehrere Stunden inmitten der Pinochet-Anhänger, die dem aufgebahrten Ex-Diktator die letzte Ehre erweisen wollten. Anstatt jedoch respektvoll ein letztes Mal an Pinochet vorbeizudefilieren, spuckte Cuadrado auf das den Toten bedeckende Glas. Später erklärte der 39-Jährige, es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, so sein Unbehagen gegenüber dem Mörder seiner Großeltern zum Ausdruck zu bringen. General Carlos Prats war ein Jahr nach dem Militärputsch, am 30. September 1974, gemeinsam mit seiner Frau im argentinischen Exil durch eine von Pinochets Geheimpolizei DINA verantwortete Autobombe getötet worden. Auch die persönlichen Konsequenzen, die die beiden Enkel zu tragen haben, ähnelten sich auf frappierende Art und Weise. Pinochet Molina wurde wegen unangemessenen Verhaltens aus der Armee ausgeschlossen. Präsidentin Michelle Bachelet, selbst ein Opfer der Diktatur, sprach von einem „schweren disziplinarischen Vergehen“. Aber auch Francisco Cuadrado verlor seinen Job als politischer Berater in der wohlhabenden Hauptstadtgemeinde Las Condes. Der dortige Bürgermeister, Francisco de la Maza, erklärte, ein solches Verhalten sei unangemessen für einen öffentlichen Funktionsträger. Viele politische und gesellschaftliche Vertreter reagierten jedoch mit Sympathie für die Spuck-Aktion Cuadrados. So schlug Senator Nelson Avila gar vor, einen „nationalen Spucknapf“ für alle Chilenen zu errichten und ihm den Namen „Augusto Pinochet“ zu geben.

Für europäische Augen und Ohren wirkten die Streitigkeiten und Nickeligkeiten rund um die öffentliche Beschäftigung mit dem Tod Pinochets manchmal etwas absurd. Auf Bestreben von Bürgermeister De la Maza beschloss der Stadtrat von Las Condes, eine Straße nach dem Ex-Diktator zu benennen. Ursprünglich war sogar die Straße für die Umbenennung vorgesehen gewesen, in der Präsidentin Michelle Bachelet wohnt. Der Stadtrat wies dies schließlich jedoch als Provokation zurück. Seitenweise debattierte die chilenische Presse darüber, welche Ehren der Verstorbene bei seiner Beerdigung bekomoft dies im Verlaufe der Rede geschah. Zum wiederholten Mal markierten die beiden Seiten der chilenischen Gesellschaft ihre Positionen, die sich schon am 5. Oktober 1989 unversöhnlich gegenübergestanden hatten. An diesem Datum war Pinochet als einziger lateinamerikanischer Diktator in einem Plebiszit mit den Mitteln der Demokratie aus dem Amt entfernt worden. Die gespaltenen Reaktionen auf Pinochets Tod schienen zu zeigen, dass der Prozess der Versöhnung zwischen den „beiden Chiles“ noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie das vielleicht manch einer geglaubt hat. Die Schatten der Diktatur wirken auch über 17 Jahre nach ihrem Ende fort – allen Beteuerungen zum Trotz, die Chilenen wären es satt, immer auf die Vergangenheit zu blicken.

Die katholische Kirche stand unter besonderer Beobachtung

Unter besonderer Beobachtung stand in den Tagen nach dem Tod Pinochets die katholische Kirche, welche über die Jahre der Diktatur hinweg eine der lautesten Stimmen der Opposition gewesen war. Aus diesem Grund handelte sich Alejandro Goic Karmelic, Vorsitzender der chilenischen Bischofskonferenz und Bischof von Rancagua, einige Kritik ein, als er die spontanen Freudenfeste vieler Pinochet-Gegner in den Straßen von Santiago kritisierte und zu Respekt und Ernsthaftigkeit aufrief. Gottes Barmherzigkeit, so der Bischof, mache auch vor den „größten Sündern“ nicht halt. Militärbischof Juan Barros Madrid kam die heikle Aufgabe der Predigt bei der Beisetzung Pinochets zu. Er betonte, es sei Aufgabe der Mutter Kirche, jeden Christen am Ende seines irdischen Weges zu begleiten. Zentrales Thema der Predigt war weniger die konkrete chilenische Situation als das christliche Verständnis des Todes. Obwohl er den Angehörigen sein Mitgefühl ausdrückte, tat der Bischof den versammelten Freunden Pinochets nicht den Gefallen, ihn als „Präsidenten“ zu bezeichnen. In Anlehnung an die Worte von Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Chile 1987 rief er dazu auf, daran mitzuarbeiten, aus Chile auf dem Weg des Dialogs, der Versöhnung und der Gerechtigkeit eine geeinte „Nation von Brüdern“ zu machen.

Die Entzweiung der Chilenen war am 11. September 1973 für die ganze Welt sichtbar geworden. Am Morgen dieses Tages hatte Armeechef Pinochet Präsident Salvador Allende über das Radio aufgefordert, sein Amt wegen der „schwerwiegenden wirtschaftlichen, politischen und moralischen Krise des Landes“ an das Militär abzutreten, welches Chile vom „marxistischen Joch“ befreien würde. Als Allende sich weigerte, ließen die Militärs den Präsidentenpalast „La Moneda“ bombardieren. Während dieses Angriffs wurde auch der Präsident getötet. Was folgte, war eine in der chilenischen Geschichte beispiellose Repressionswelle. Selbst zunächst ohne klare politische Vision, suchten die neuen Machthaber, die früheren Machtmen dürfe. Trauer- und Gedächtnisreden wurden daraufhin untersucht, ob Pinochet als „Präsident der Republik“ oder lediglich als „Oberkommandierender der Streitkräfte“ bezeichnet wurde und wenn er als „Präsident“ bezeichnet worden war, wie zirkel und ihrer Meinung nach subversiven Elemente auf brutale Art und Weise zum Schweigen zu bringen. Ein Großteil der insgesamt über 3000 politischen Morde geschah in den ersten Jahren nach dem Putsch. Opfer waren linke und christdemokratische Politiker, zahlreiche Intellektuelle und Künstler oder einfach Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Weitere rund 30 000 Chilenen wurden gefoltert und 300 000 ins Exil gezwungen. Ein 1978 vom Militärregime erlassenes Amnestiegesetz bewahrte viele Täter vor den rechtlichen Konsequenzen ihres Handelns. Aufgrund dieser Tatsachen erscheint es als bittere Ironie der Geschichte, dass Pinochet ausgerechnet am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, verstarb. Der vom Militär bestimmte Staat drang in alle Bereiche des öffentlichen Lebens ein. Er überwachte auch die privaten Aktivitäten der Bürger und erließ Sperrstunden sowie Versammlungsverbote. Gleichzeitig unterzog die Militärführung die von den Sozialisten weitgehend verstaatlichte Wirtschaft einem durch die Ideen der Chicago Boys und Milton Friedmans inspirierten liberalen Schockprogramm, in dessen Folge zwar die Wirtschaft wuchs, die Armut sich jedoch ausweitete. Die Militärs feierten den 11. September 1973 als zweiten Unabhängigkeitstag Chiles. Sie proklamierten den „Wiederaufbau der Nation“ und sahen sich dabei als Speerspitze der Verteidigung der christlich-westlichen Zivilisation gegen den internationalen Kommunismus. Die große Mehrheit des chilenischen Klerus weigerte sich jedoch, die Militärjunta als Instrument Gottes anzuerkennen. Schon früh geißelte sie, angeführt von Kardinal Raúl Silva Henríquez, die Menschenrechtsverbrechen.

Die Kirche spielte die Rolle der Ersatzopposition

Sinnbildlich für den Einsatz der katholischen Kirche wurde zunächst das ökumenische, nach Protesten des Regimes aufgelöste „Comité Pro Paz“ und ab 1976 das „Vikariat der Solidarität“, welches zum institutionellen Ausdruck des kirchlichen Protestes gegen die Diktatur wurde. Es bot Verschleppten und Verfolgten Schutz, half dabei, Verschwundene zu finden und leistete konkrete soziale Dienste, wie etwa Essensausgabe an Bedürftige. Pro Jahr konnte durchschnittlich etwa 90 000 Menschen geholfen werden. Das vom Ausland unterstützte Vikariat hatte durch seine öffentlichen Dokumentationen vieler Verbrechen des Regimes maßgeblichen Anteil daran, dass nach 1977 keine Personen mehr verschwanden und die Folterungen deutlich abnahmen. Wenn es auch zu Repressionsmaßnahmen gegen prominente Kirchenmitglieder kam, konnten die sich auf das Christentum berufenden Militärs deren Hauptvertreterin im Land, die katholische Kirche, nur schwerlich ähnlich systematisch verfolgen wie andere oppositionelle Organisationen. Die Kirche bot so lange als einzige Institution ein Schutzdach, unter dem Oppositionelle einen begrenzten Handlungsspielraum hatten. Ihr ist deshalb auch schon die Rolle einer „Ersatzopposition“ zugeschrieben worden. Die direkteste politische Einmischung der Kirche während der Diktatur war der Aufruf, beim Plebiszit 1980 gegen die von der Junta ausgearbeitete Verfassung zu stimmen. Ab 1983 betonte die katholische Kirche unter Leitung des neuen Erzbischof von Santiago, Kardinal Juan Francisco Fresno, stärker den Dialog. Sie koordinierte Treffen zwischen den politischen Kräften der demokratischen Opposition und trug so wesentlich zur Redemokratisierung des Landes bei. Die maßgeblich von der katholischen Soziallehre beeinflusste christdemokratische Partei Chiles (PDC) wurde zur führenden Kraft der Demokratiebewegung. Aufgrund ihrer Gegnerschaft sowohl zu Salvador Allende als auch zu Augusto Pinochet war sie für viele Chilenen die vertrauenswürdigste politische Kraft. Der Christdemokrat Patricio Aylwin konnte im Jahr 1989 mit großer Mehrheit die ersten freien Präsidentschaftswahlen nach dem Ende der Diktatur für sich entscheiden. Unterstützt wurde er dabei von seinen historischen Gegnern, den Sozialisten und Sozialdemokraten, die mit den Christdemokraten seitdem in einer Koalition, der Concertacion, verbunden sind.

Das Wort der Kirche wird in der chilenischen Gesellschaft nach wie vor gehört

Seit 1990 hat Chile ein pluralistisches und freiheitlich-demokratisches politisches System. Auch die politischen Kräfte, die ehemals die Militärdiktatur Pinochets unterstützt haben, nehmen mittlerweile in politischen Parteien organisiert am demokratischen Geschehen teil. Viele antidemokratische Regelungen, die das Militärregime im institutionellen Gefüge zurückgelassen hatte, wurden inzwischen beseitigt. Die 16,3 Millionen Chilenen leben weitgehend in Freiheit. Diese erstreckt sich sowohl auf die politische Partizipation und Aktion als auch auf das wirtschaftliche Unternehmertum und die Meinungsfreiheit. Chile ist seit 1989 ein bemerkenswertes Beispiel politischer und wirtschaftlicher Stabilität, welches auf dem lateinamerikanischen Kontinent viele bewundernde Blicke auf sich zieht. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg haben sich allerdings auch ein immer stärkerer Materialismus und eine Individualisierung der Lebensstile in der chilenischen Gesellschaft breit gemacht. Konsum und der eigene wirtschaftliche Erfolg sind für die Menschen mitunter wichtiger geworden als politische Auseinandersetzungen oder soziale Kohäsion. Armut und Ungleichheit bleiben ein schwerwiegendes Problem des Landes. Zwar ist es den Regierungen der Concertación gelungen, die Armut seit 1990 von 38,6 auf 18,8 Prozent und damit auf weniger als die Hälfte zu reduzieren, an der auch im lateinamerikanischen Vergleich sehr ungleichen Einkommensverteilung hat sich jedoch trotz des enormen Wirtschaftswachstums kaum etwas geändert.

Diese Entwicklungen verfolgt die Kirche mit einiger Sorge. Immer wieder üben kirchliche Würdenträger deutliche Kritik an der sozialen Schieflage der Nation. Im andauernden Einsatz für soziale Gerechtigkeit führt sich die stark sozial ausgerichtete Tradition der katholischen Kirche Chiles fort. Berühmtester Vertreter des chilenischen Sozialkatholizismus war der 2005 von Benedikt XVI. heilig gesprochene Jesuitenpater Alberto Hurtado (1901–1952). Das von ihm gegründete Hilfswerk „Hogar de Cristo“ leistet auch heute noch Armen, Kindern, Behinderten oder Obdachlosen im Land vielfältige Hilfe. Die Forderung nach einer „gerechteren Gesellschaft“ ist auch im modernen Chile eine zentrale Achse der kirchlichen Verkündigung. Am 18. September 2006, dem chilenischen Nationalfeiertag, forderte Bischof Goic etwa, die Anstrengungen für eine echte Verbesserung der Lebensbedingungen der etwa drei Millionen Armen in Chile zu verdoppeln. Auch in ihrem Rundschreiben zum Advent 2006 verlangte die Bischofskonferenz eine Erneuerung der sozialen Verpflichtung zugunsten der Ärmsten. In derartigen kirchlichen Verlautbarungen wird auch immer wieder Kritik an einem exzessiven wirtschaftlichen Liberalismus ohne sozialen Ausgleich geübt.

Das Wort der katholischen Kirche wird in der chilenischen Gesellschaft nach wie vor gehört und die Bischöfe erreichen eine große Aufmerksamkeit in den Medien. Auch wenn die Kirche seit 1925 vom Staat getrennt ist und gerade in den Jahren seit 1990 eine deutliche Säkularisierung der Gesellschaft zu beobachten ist, spielen Kirche und Religion weiter eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben des Landes. In der repräsentativen Umfrage „Encuesta Bicentenario“ aus dem Jahr 2006 gaben 93,9 Prozent der Befragten an, an Gott zu glauben. Die Angaben über den Anteil der Katholiken an der Bevölkerung schwanken. Bei der Volkszählung im Jahr 2002 identifizierten sich 70 Prozent der Erfassten als „katholisch“. Legt man die formelle Kirchenzugehörigkeit zugrunde, liegt der Prozentsatz deutlich höher. Allerdings fällt dabei auf, dass selbst im lateinamerikanischen Vergleich nur ein relativ geringer Prozentsatz der katholischen Chilenen aktiv am Leben der Kirche teilnimmt. Dies machen sich vielfach andere religiöse Gruppierungen zunutze. Protestantischen und evangelikalen Freikirchen gelang es genauso wie Mormonen oder Zeugen Jehovas, ihre Missionstätigkeit besonders in den Armenvierteln massiv auszuweiten.

Ein erbitterter Streit über Wertefragen

Der andauernde Einfluss von Kirche und Religion auf die Gesellschaft drückt sich nicht zuletzt in den moralischen Einstellungen der Bevölkerung aus. Mit 52 Prozent sprach sich eine absolute Mehrheit der in der „Encuesta Bicentenario“ befragten Chilenen in jedem Fall gegen die Abtreibung aus. Nach einer Umfrage des International Social Survey Programme in 31 Ländern nahm Chile 1998 in punkto Einstellung der Bevölkerung zu moralischen Fragen den zweitkonservativsten Rang hinter den Philippinen ein und stand damit vor den USA, Irland oder Polen. Nichtsdestotrotz sind unter dem sozialistischen Präsidenten Lagos (2000–2006) und besonders seit dem Amtsantritt der Sozialistin Bachelet im März 2006 erbitterte Auseinandersetzungen in Politik und Gesellschaft über die so genannten „Wertfragen“ entbrannt. Die christdemokratische Partei PDC, welche durch ihre traditionelle Nähe zur Kirche mehrheitlich konservative Positionen vertritt, gerät immer mehr unter Druck ihrer linksliberalen Koalitionspartner. So kam es in den letzten Monaten erstmals zu am parlamentarischen Widerstand des PDC gescheiterten Gesetzesinitiativen, zu einer Teillegalisierung von Abtreibung und Euthanasie. In den letzten Monaten vor dem Tod Pinochets sah es gar so aus, als ob die Wertfragen zu einem potenziellen Spaltpilz für die durch die Opposition zur Diktatur über 16 Jahre zusammengehaltene Regierungskoalition werden könnten.

Die traditionelle Nähe der Kirche zum PDC geriet in den vergangenen Jahren immer mehr ins Wanken. So sprachen sich führende PDC-Vertreter für die mittlerweile legale Ausgabe der „Pille danach“ an Minderjährige aus oder unterstützten eine kontroverse Kampagne für Kondome. Durch ihre Opposition gegen derartige Regierungsvorhaben konnten konservative, früher Pinochet nahe stehende Parteien in einzelnen Themenfeldern für die Kirche zu strategischen Partnern werden. Diese haben seit 1990 darüber hinaus ihrerseits in vielen Bereichen, wie in Fragen der Aufarbeitung der Diktatur, der Demokratie, der Menschenrechte oder der Betonung einer sozialen Marktwirtschaft, wichtige Schritte in Richtung der politischen Mitte unternommen. Die katholische Kirche mischt sich bei Auseinandersetzungen um Wertfragen sehr häufig in die politischen Debatten ein und handelt sich dafür viel Kritik vor allem von Seiten der politischen Linken ein. So werfen Kritiker etwa die Frage auf, wie glaubwürdig der Einsatz der Kirche für die Demokratie gewesen sei, wenn diese Demokratie innerkirchlich vernachlässigt würde. Interessanterweise kommen die Forderungen, die Kirche solle sich nicht in die Politik einmischen, oft aus denselben Kreisen, die die Kirche in den Zeiten der Diktatur noch für ihre politische Rolle gelobt hatten. Weniger kontrovers in der chilenischen Politik und Gesellschaft ist der ungebrochene Einsatz der Kirche für die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen. Bischof Sergio Valech, ehemals verantwortlich für das „Vikariat der Solidarität“ übernahm von 2003 bis 2004 den Vorsitz einer Kommission, die die Identität der Menschen aufklären sollte, die „Freiheitsberaubungen und Folter aus politischen Gründen durch Agenten des Staates“ zur Zeit des Militärregimes erlitten hatten. Im November 2004 legte die Kommission das im Volksmund als „Valech-Bericht“ bekannte Ergebnis seiner Arbeit vor. Minutiös dokumentiert der auf 35 000 Zeugenaussagen basierende Bericht die Grausamkeiten der Diktatur. Auf der Basis des Valech-Berichtes bekamen zahlreiche Folteropfer schließlich per Gesetz Entschädigungsleistungen durch die Regierung zugesprochen. Trotz des andauernden Einsatzes der Kirche für die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen muss konstatiert werden, dass sie im heutigen Chile im Vergleich zu früher beileibe nicht mehr die eindeutig führende Institution ist, die sich in diesem Themenfeld engagiert. Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen haben hier mittlerweile eine große Aktivität entfaltet. Daher wird der politische Einsatz der Kirche von der Bevölkerung oft primär bei anderen Themen wahrgenommen.

Die Geschichte gewissenhafter aufarbeiten

Trotz allem Bemühen, nicht zuletzt der Kirchen, ist der Hauptverantwortliche für die Menschenrechtsverbrechen ohne ein rechtskräftiges Urteil verstorben. Allerdings glichen die letzten Lebensjahre Pinochets einem Versteckspiel. Der greise Ex-Diktator trat kaum noch in der Öffentlichkeit auf und entzog sich wegen angeblicher Altersdemenz letztlich erfolgreich der Justiz. In Verhören gab er immer wieder an, sich nicht genau an Einzelheiten zu erinnern und blieb bis zu seinem Tod eine Entschuldigung schuldig. Stattdessen sah er sich zeitlebens als Opfer ungerechter Anschuldigungen und als missverstandener Retter des Vaterlandes. Seinen politischen Einfluss hatte Pinochet spätestens seit seiner Verhaftung in London im Jahr 1999 verloren. Eine chilenische Zeitung kommentierte, mit Pinochet sei eine „politische Leiche“ verstorben. Der auch biologische Tod dieser „politischen Leiche“ hat alte Wunden der chilenischen Gesellschaft noch einmal aufgerissen und vielleicht ein letztes Mal in dieser Schärfe einer an den Kalten Krieg erinnernden Rhetorik sowie alten Freund-Feind-Schemata Bahn gebrochen. Nicht zuletzt die zunehmende Dominanz anderer Themen wie etwa der Wertfragen in der politischen Debatte in den letzten Jahren und die damit verbundenen Verwischungen ehemaliger politischer Allianzen deuten jedoch darauf hin, dass diese Spaltung des Landes in zwei Teile nicht mehr lange ein dominantes Muster der chilenischen Gesellschaft sein wird. Auch jüngere Generationen, die das Pinochet-Regime und den Kalten Krieg nicht mehr bewusst erlebt haben, werfen oft einen deutlich differenzierteren Blick auf die Vergangenheit als ihre Eltern. Das Ableben des Ex-Diktators bietet in diesem Zusammenhang eine große Chance für die chilenische Gesellschaft, die eigene Geschichte gewissenhafter aufzuarbeiten und so das Fundament für ein Chile zu legen, das endgültig nicht mehr aus Gegnern und Anhängern Pinochets besteht, sondern aus Menschen, die gemeinsam an einer besseren und gerechteren Zukunft bauen. Ihr großer gesellschaftlicher Einfluss und ihre historische Glaubwürdigkeit bieten der katholischen Kirche die Chance, in diesem Prozess eine wichtige Rolle zu übernehmen.

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