Der Sinn des LebensMein Leben – in Antworten

Seit Jahrtausenden grübeln die Menschen darüber nach: Was ist der Sinn des Lebens? Neben Theologen versuchen Philosophen und Schriftstellerinnen Antworten zu finden – mit und ohne Gott.

Eigene Kinder haben, arbeiten, lieben – das sind typische spontane Antworten, wenn eine Straßenumfrage zum „Sinn des Lebens“ gemacht wird. Das aktuelle „Philosophie-Magazin“ hat zwölf Personen, zumeist Professoren der Philosophie, aber auch Künstlerinnen und Schriftsteller dazu befragt, „wozu es sich zu leben lohnt“. Religion wird dabei erstaunlicherweise nur von zwei Personen genannt. Einmal – nicht ganz so erstaunlich – von Petra Bahr, Landessuperintendentin der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers, und vom Dramaturgen und Autor Bernd Stegemann. Der bedauert zunächst, dass die Antwort auf die Frage heute nicht mehr mit dem „Großen und Ganzen zu tun hat, das man Religion nennt“. Stegemann vermisst die Religion vor allem in einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion – dass sie im Sterben Trost spendet: „Der einsame Tod ist wohl das traurigste Symbol für die religiöse Unmusikalität unserer Zeit, in der die nietzscheanischen Gottesmörder ihre Bindungslosigkeit als gelungenes Leben feiern.“

Hauptsache Angst?

Es fehlt also etwas, das die Menschen wieder miteinander verbindet. Für Stegemann ist das aber nicht unbedingt Gott, sondern das Bewusstsein eines gemeinsamen Schicksals aller Menschen, einer „kollektiven Katastrophe“, hier des Klimawandels. Egoistische, luxuriöse Lebensweisen, etwa zur puren Selbstverwirklichung, haben im Zusammenspiel mit exzessivem Fleischkonsum oder häufigen Flugreisen zu einem Problem geführt, das die Menschheit als Ganzes bedroht. „Im Zeitalter des Menschen kann niemand wissen, ob die Weltmenschen es schaffen, dass die Erde nicht zu einem toten Stern wird. Wenn diese Offenheit, einst auch Transzendenz genannt, kein Lebensgrund mehr ist, ist der Tod ganz nah.“ Für Stegemann brauchen Menschen etwas, wovor sie Angst haben können, um ihrem Leben Sinn zu geben. Früher war das Gott oder das Jüngste Gericht, heute ist es ganz weltlich die Angst vor den Folgen des Klimawandels. Aber kann der Sinn wirklich ein Leben in Furcht sein – egal wovor?

Einen ganz anderen Zugang zur Sinnfrage findet der slowenische Philosoph Slavoj Žižek. Für ihn muss es unbedingt ein „dringendes Anliegen“ geben, sei es wissenschaftlicher, politischer oder künstlerischer Natur. Daneben brauche es eine „intensive erotische Liebe“, die mit diesem Anliegen konkurriert, dabei aber immer unterliegen müsse. „Deshalb gibt es keine größere Liebe als die eines revolutionären Paares, bei dem beide bereit sind, den anderen sofort zu verlassen, sobald die Revolution es verlangt.“ Der Sinn des Lebens ist für Žižek in der Lücke zwischen sexueller Leidenschaft und sozialrevolutionärem Engagement zu finden, also eigentlich darin, seine Berufung für das Wohl der Gemeinschaft über alles zu stellen, auch über Menschen, die man liebt. Wahrscheinlich würden jedoch die wenigsten Menschen Žižek in Zeiten der Entmythologisierung des sozialrevolutionären Pathos von einst zustimmen.

Der Schriftsteller David Wagner gibt eine sehr individuelle Antwort. Ihm wurde dank einer Organspende das Leben gerettet. Seitdem sieht er sich „in der Verlängerung“. Eigentlich wäre sein Leben schon vorbei. Diese „Nachspielzeit“ gelte aber nicht nur für ihn, sondern auch für seine Organspenderin. Ein Teil von ihr lebe in ihm weiter, und daraus zieht er seine Motivation: „Ich höre sie rufen: ‚Mach dies! Mach das! Steh endlich auf! Los, an den Schreibtisch, schreib was!‘.“ Interessant wäre gewesen zu erfahren, wie Wagner die Sinnfrage vor der Transplantation beantwortet hätte.

Wer glaubt, hat mehr

Auch Bernhard Waldenfels, Philosophieprofessor in Bochum, macht den Sinn des Lebens an anderen Menschen fest. Es lohnt sich zu leben, wenn man mit anderen in Kontakt tritt, nicht gleichgültig seiner Umgebung gegenüber ist. Zur Illustration nennt er Dostojewskijs Erzählung „Der Traum eines lächerlichen Menschen“. Dort ist das Ende des Protagonisten absehbar, weil ihm alles gleichgültig geworden ist. So gleichgültig, dass er sich eine Waffe besorgt und sich das Leben nehmen möchte. Doch gerade rechtzeitig hört er die Rufe eines kleinen Mädchens „in nassen zerrissenen Schuhen“ nach seiner Mutter. Dieser Hilferuf durchbricht seine Gleichgültigkeit, sein Leben bekommt wieder einen Sinn. Ähnlich sieht es auch der Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit Markus Gabriel: „Das Leben lohnt sich, weil wir es angesichts ethischer Standards, das heißt im Hinblick auf das Gute verbessern und lebenswerter machen können.“

Mehr Fragen als Antworten liefert die Autorin und Künstlerin Bini Adamczak. Sie gibt zu bedenken, dass man gar nicht wissen könne, ob es sich überhaupt lohnt zu leben. Vielleicht sei der Tod sogar die bessere Alternative, dafür müsse man allerdings einmal tot gewesen sein. Deswegen ist die Frage, wofür es sich zu leben lohne, für Adamczak eine „für Zombies, Vampire, Wiedergeborene“. Trotzdem macht sie sich nach dieser Feststellung weitere Gedanken, indem sie überlegt, wie man das Leben aus sich selbst heraus bewerten könne. „Es wäre dann eine ökonomische Frage der Zählung, der Bilanz. Lohnt der Rausch den Kater? Lohnt der Liebeswahn den Liebeskummer?“ Doch auch damit scheint sie nicht wirklich zu einem hoffnungsvollen Ergebnis zu kommen: „Muss sich Leben wirklich lohnen – rentieren gar?“

Die Literaturwissenschaftlerin und Romanistin Barbara Vinken stellt gleich zu Beginn ihres Beitrags fest: Es lohnt sich überhaupt nicht. „Unser Leben entzieht sich dem Kosten-Nutzen-Kalkül und dem ‚Es lohnt sich‘-Prinzip.“ Für sie ist Leben ein Geschenk, dabei allerdings ein zufälliges, der „allerglücklichste Zufall“. Einen Grund für unser Dasein sieht sie nicht, dennoch ist es „anzunehmen, zu loben und zu preisen“. Wir sollten „dankbar“ sein, „erfüllt für jeden Moment, der geschenkt ist“. Wie man dahin kommt, wenn wir doch nur sinn- und grundlos zusammengewürfelte DNA sind, erklärt sie nicht.

Hat man sich durch die mehr oder weniger deprimierenden Antworten durchgearbeitet, kommt Petra Bahr zu Wort. Die Antwort der Landessuperintendentin ähnelt der von Barbara Vinken. Mit einem – entscheidenden – Unterschied: Unser Leben ist nicht zufällig entstanden, es hat einen Sinn, und es lohnt sich, „weil es Gott die Ehre gibt“. Damit geht es nicht mehr darum, ob es sich im weltlichen Sinn „lohnt“, ob bestimmte Ziele und Meilensteine erreicht oder genug gute Momente erlebt wurden. Der Lohn ist nicht von Erfolg, Schönheit oder Gesundheit abhängig. Denn „das Leben ist kein Arbeitsprojekt“, es geht nicht darum, sich ständig zu verbessern, „und sei es durch das sogenannte Genieße-den-Augenblick-Coaching, nach dem nur die Momente der intellektuellen oder spirituellen Selbststeigerung oder der ästhetischen Verzückung lohnen“. Obwohl sich dieser Ansatz „nur“ durch Gott von anderen Verständnisweisen unterscheidet, löst er doch, zumindest in religiösen Menschen, ganz andere Gefühle aus. Petra Bahr stellt nicht den Menschen in den Mittelpunkt, sondern Gott. „Es ist das Unkalkulierbare, seine Fülle, seine Leere – beides der Messbarkeit entzogen –, die das Leben großartig und manchmal auch furchtbar machen. Es ist als Gabe, Schöpfung, was es ist.“ Also das Leben einfach annehmen, wie es ist, so wie auch Gott uns und unser Leben annimmt, wie es ist. Dafür lohnt es sich zu leben. Wer glaubt, hat mehr vom Leben? Vielleicht tatsächlich – und mehr Sinn.

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