ArmenienLand der Kirchen, Land der Steine

Nur wenige Länder sind ethnisch so einheitlich wie Armenien. Trotz vieler Jahrhunderte unter der Herrschaft von Fremden konnten sich die Armenier ihre Kultur bis heute bewahren. Was aber macht diese Kultur aus?

Der Sevansee mit dem alten Klosterkomplex soll einmal Touristen anlocken.
Der Sevansee mit dem alten Klosterkomplex soll einmal Touristen anlocken.© Foto: Amelie Tautor

Ob in der armenischen Brust nun ein europäisches, ein orientalisches oder doch ein „russisches“ Herz schlägt, ist unmöglich zu sagen. Politisch hat sich das Land für einen Mittelweg zwischen der Europäischen Union, dem Iran und Russland entschieden, der für die kleine Kaukasus-Republik bislang gut zu funktionieren scheint. Auch die Menschen können und wollen sich nicht eindeutig zuordnen. Sie sind Armenier. Das sei Identität genug, finden Junge wie Alte.

Der Ararat: Dort soll einst Noahs Arche nach der Sintflut gestrandet sein. Für viele Armenier ist der Berg heute ein Sehnsuchtsort.
Der Ararat: Dort soll einst Noahs Arche nach der Sintflut gestrandet sein. Für viele Armenier ist der Berg heute ein Sehnsuchtsort.© Foto: picture-alliance

Was die armenische Kultur ausmacht? Die meisten sind mit der Antwort spontan überfragt. „Na, die Gemeinschaft natürlich“, erklären sie und beginnen aufzuzählen: die Kirche, das typische Brot Lavasch, die traditionellen Instrumente, der Cognac, das Schachspiel, die Volkslieder usw. Die Frage nach dem „armenischen Geist“ schimmert durch fast alle Gespräche, die ausländische Besucher mit Einheimischen führen. Jedem Armenier ist seine Herkunft wichtig, jeder beruft sich auf die Traditionen, aber niemand kann die armenische Kultur genau in Worte fassen.

Armenien ist ein Land, das sowohl ethnisch als auch religiös sehr homogen ist. Von den rund drei Millionen Einwohnern gehören nur sehr kleine Teile einer Minderheit an. Es gibt einige Russen, Jesiden, Georgier, Griechen und Kurden, die auch ihre jeweilige Religion mitgebracht haben. Muslime gibt es nur wenige, ebenso eine kleine Gruppe von Protestanten. Außerdem leben in Armenien russisch-stämmige Molokanen. Die Molokanen sind Altgläubige, eine Abspaltung von der russisch-orthodoxen Kirche. Im Zarenreich wurden sie vertrieben. In Armenien existieren heute mehrere Dörfer, in denen nur Familien dieses Glaubens wohnen. Die Minderheiten haben eine offizielle Vertretung im Parlament. Da die allermeisten von ihnen aber nicht politisch aktiv sind, ist das Zusammenleben weitgehend konfliktfrei. Mit den Kriegen im Irak und in Syrien kamen auch Flüchtlinge. Sie alle haben armenische Vorfahren, lebten teilweise aber seit Generationen im Nahen Osten. Zudem gibt es eine große Diaspora. Die meisten Armenier haben Verwandte oder Bekannte, die im Ausland leben – dauerhaft, zum Arbeiten oder zur Ausbildung.

Viele unterschiedliche Traditionen formten und formen bis heute die armenische Kultur. Trotz der verschiedenen Hintergründe verstehen sich aber alle als Armenier. Besuchern gegenüber sind die Menschen sehr offen, obwohl oder vielleicht gerade weil sie eine so einheitliche Nation bilden. Wer eine Weile mit einem Stadtplan an der Straße steht, kann sich sicher sein, dass er bald angesprochen wird. Die Sprachbarriere – viele der Älteren sprechen nur Armenisch und Russisch, Englisch wird erst seit einigen Jahren als erste Fremdsprache in der Schule unterrichtet – wird mit Händen und Füßen und in einem babylonischen Sprachgewirr elegant umgangen. Zur Not führt man die Touristen auch persönlich bis zu ihrem Ziel. Kommt mit dem neuen Kurzzeit-Stadtführer ein Gespräch in Gang, antwortet er bereitwillig auf alle neugierigen Fragen und versucht, seine Heimat zu erklären. Auch das ist Ausdruck der armenischen Gastfreundschaft. Zusätzlich folgen Ratschläge, was man sich unbedingt noch anschauen müsse, sowie Einladungen zu Tee, Wodka oder Weinbrand.

Der Taxifahrer, der die Besucher zum Genozid-Mahnmal bringen soll, nickt bestätigend, als er das Ziel hört. „Wichtig“, erklärt er und legt sich die Hand aufs Herz. Danach folgt eine längere leidenschaftliche Rede auf Armenisch und Russisch. Dass ihn keiner seiner Passagiere verstehen kann, stört den Mann nicht. Der Völkermord, den die Osmanen während des Ersten Weltkriegs am armenischen Volk begingen, hat sich tief ins gemeinschaftliche Gedächtnis eingegraben. Wie viele Todesopfer es gab, lässt sich nicht feststellen. Auch die Deutung ist umkämpft. Die Türkei spricht noch immer von vereinzelten Übergriffen. Deutschland hat den Völkermord inzwischen als solchen anerkannt, auch wenn hochrangige Mitglieder der Bundesregierung an der Abstimmung aus diplomatischer Rücksicht auf die Türkei nicht teilnahmen. Für die Armenier war die deutsche Anerkennung ein wichtiges Zeichen. Deutschland war ein Verbündeter des Osmanischen Reichs und hat bei der Resolution des Bundestags auch seine eigene unrühmliche Rolle in den Ereignissen klar benannt. Auch wenn das Deutsche Reich durch Diplomaten und Missionare von den Verbrechen wusste, habe es nicht versucht, den Osmanen Einhalt zu gebieten. Deutschland ist für Armenien heute ein willkommener Partner und ein Vorbild bei vielen Reformen, die die junge Demokratie dringend nötig hat. Zwischen Armenien und der Türkei gibt es dagegen keine diplomatischen Kontakte.

Das Mahnmal für den Völkermord an den Armeniern
Das Mahnmal für den Völkermord an den Armeniern© Foto: Amelie Tautor

Obgleich Armenien ein kleiner Staat in einer unsicheren geopolitischen Lage ist, tritt das Land international sehr selbstbewusst auf. Wirtschaftlich und sicherheitspolitisch ist Armenien weitgehend von Russland abhängig. Für eine Demokratisierung und die Bildung einer politischen Gesellschaft braucht es Europa. Mit dem Iran verbindet Armenien eine lange Freundschaft. Vermittelnd zwischen all diesen gegensätzlichen Polen sucht die Kaukasus-Republik ihren eigenen Standpunkt.

Sinnbild dieses nationalen Selbstbewusstseins ist „Mutter Armenien“, die auf einem Hügel, hoch über der Hauptstadt Jerewan thront. Die mächtige Statue aus der Sowjetära ist nahezu von allen Plätzen Jerewans aus zu sehen. Auch dieser Nationalismus ist heute Teil der Identität. Armenien empfindet sich als eine bedrohte Nation. Dazu tragen der Konflikt mit der Türkei über den Völkermord und der Streit mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach wesentlich bei.

„Wir sind eine Nation im Krieg“, erklärt auch Nvard Margaryan, die sich unter anderem für die Rechte von Homosexuellen einsetzt. Die Menschen richten sich stark nach Traditionen, die zumindest in manchen jugendlichen Lebenswelten keine Orientierung mehr bieten. Nationalismus, Heroismus und Militarismus haben in der Gesellschaft eine große Bedeutung. Damit müssen auch die jungen Menschen umgehen. Mit ganz wenigen Ausnahmen leisten alle Männer einen zweijährigen Wehrdienst. Die echte Alternative, einen zivilen Dienst zu leisten, gibt es nicht. Es gibt auch keine organisierte Friedensbewegung. „Es ist gefährlich, im Krieg über Frieden zu sprechen“, sagt die politische Aktivistin. Die Jugend in Armenien befinde sich in einer Identitätskrise. Viele wandern aus, andere bleiben und wollen die Geschicke ihres Landes selbst in die Hand nehmen. Zunehmend entwickeln die jungen Menschen ein politisches Bewusstsein, kämpfen gegen Korruption, Umweltverschmutzung und setzen sich für mehr demokratische Rechte ein.

Auf dem Markt in Jerewan gibt es Souvenirs für die Touristen und religiöse Andenken.
Auf dem Markt in Jerewan gibt es Souvenirs für die Touristen und religiöse Andenken.© Foto: Amelie Tautor

Viele Armenier, gerade auf dem Land, sind arm. Die Arbeitslosenzahl ist hoch, Besserung ist nicht in Sicht. Der Wirtschaft geht es schlecht, da die meisten Industriezweige nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer brachliegen. Derzeit versucht Armenien, vermehrt Touristen anzulocken. Gerade in den strukturschwachen ländlichen Gegenden bietet sich das an. Auch zum Sevansee kommen immer mehr ausländische Besucher. Oberhalb des Sees liegen eine alte Klosteranlage und ein sogenanntes Schriftstellerhaus, in dem sowjetische Autoren für einige Zeit in Ruhe arbeiten konnten. Der Bau, der noch immer den „Charme“ des sowjetischen Brutalismus ausstrahlt, wird gerade renoviert. Künftig sollen dort wieder Menschen Ferien machen können und sich von der Landschaft inspirieren lassen. Der größte Süßwassersee des Kaukasus – rund doppelt so groß wie der Bodensee – hat schöne Badestrände. Weil er sehr hoch liegt, ist es dort aber meist empfindlich kalt, so dass sich die Touristen auf den Sommer beschränken. Zudem kämpft die Region mit Umweltproblemen. Weil für die Landwirtschaft jahrelang viel Wasser entnommen wurde, sank der Wasserspiegel. Das Schrumpfen des Sees scheint man jetzt mit einem komplizierten Zulaufsystem in den Griff bekommen zu haben.

Auch in Dilijan, einer Kleinstadt im Norden, setzt man auf Touristen. Die Stadt war schon zu Sowjetzeiten ein Luftkurort. An diese Tradition wollen die Einwohner wieder anknüpfen. In der Region mit ihren bewaldeten Berghängen lässt es sich schön wandern. Die unberührte und menschenleere Natur sowie der Kontakt mit der Bevölkerung sollen vor allem Ökotouristen anziehen. Dazu müsste die Stadt jedoch langfristig ihre Umweltverschmutzung in den Griff bekommen. Lange Zeit wurde der Müll, darunter viel Verpackungsplastik, einfach in den Wald oder die Flüsse geworfen. Aber an Abhilfe arbeiten findige Organisationen in Dilijan bereits.

Die siebzig Jahre gesellschaftlicher Stillstand in der Sowjetzeit machen sich bemerkbar. Viele Menschen müssen erst wieder lernen, dass sie ihr Leben selbst in der Hand haben und sich für ihre Wünsche einsetzen müssen. Die Jugend hat das schneller für sich entdeckt. Sie kostet ihre Freiheiten aus und lebt selbstverständlicher mit den neuen Möglichkeiten wie dem Internet oder sozialen Netzwerken. Sie wollen in ihrer Heimat etwas voranbringen.

Der Jugend sind viele der traditionellen Werte noch immer wichtig.
Der Jugend sind viele der traditionellen Werte noch immer wichtig.© Foto: Amelie Tautor

 

Gregor, der das Opfer verweigerte

Die Organisation „Cross of Armenien Unity“ kümmert sich um benachteiligte Kinder. In der kleinen Stadt Etschmiadsin nahe der Hauptstadt Jerewan hat sie einen bunten Rückzugsort aufgebaut. Die Kinder und Jugendlichen können nach der Schule dorthin kommen und an verschiedenen Kursen teilnehmen. „Sehr beliebt sind momentan die Computerkurse“, erklärt die stellvertretende Leiterin Arpine Babakhanyan einer Besuchergruppe der Bundeszentrale für politische Bildung. Kaum eine Familie hat einen Computer zuhause. Bei aller notwendigen Innovation, die nötig ist, damit die Jugendlichen einmal Arbeit finden, sollen sie die kulturellen Traditionen nicht verlernen. Daher gibt es auch Angebote, bei denen die Kinder die alten Lieder und Tänze lernen, Teppiche knüpfen, kochen oder Theater spielen.

Die Frauen im Zentrum zeigen Besuchern gerne die traditionelle Kunst des Brotbackens. Das Lavasch ist noch immer das in Armenien meistgegessene Brot. Den alten Rezepten nach besteht es nur aus Mehl, Wasser und Salz. Die Menschen auf dem Land backen das dünne Fladenbrot wie seit jeher in irdenen Backöfen. So gelingt es am besten.

Das Lavasch, das traditionelle Brot, besteht nur aus Mehl, Wasser und Salz.
Das Lavasch, das traditionelle Brot, besteht nur aus Mehl, Wasser und Salz.© Foto: Amelie Tautor
Der Teig wird sehr dünn ausgerollt und dann an die gemauerte Wand des tiefen Erdofens geworfen. Dort bleibt der Fladen kleben, und das Feuer, das am Boden brennt, bäckt den Teig innerhalb weniger Minuten durch. Das fertige Lavasch angeln die Frauen mit einem Eisenhaken heraus und legen es zum Auskühlen auf Tücher.
Das Brot wird in Erdöfen gebacken und lässt sich sehr lange lagern.
Das Brot wird in Erdöfen gebacken und lässt sich sehr lange lagern.© Fotor: Amelie Tautor
Meistens werden im Herbst ganze Stapel des Brotes gebacken, das dann den Winter über reichen muss. In vielen Regionen Armeniens, gerade im Bergland, fallen die Temperaturen in der kalten Jahreszeit weit unter den Gefrierpunkt. Dann will keiner mehr draußen sein, nicht einmal in der Nähe eines Feuers. Das Lavasch lässt sich ideal trocknen und lange lagern. Vor dem Essen wird es mit etwas Wasser wieder befeuchtet. Auch für die Hostien der Eucharistiefeiern wird das Lavasch verwendet.

 

Die armenische Kultur ist bis heute untrennbar mit dem Christentum verbunden. Die Gesellschaft ist tief religiös geprägt. Armenien gilt als das erste Land, das das Christentum als „Staatsreligion“ annahm. Der Schutzpatron des armenischen Volks ist Gregor der Erleuchter. Der Legende nach predigte er das Christentum und weigerte sich, der zoroastrischen Göttin Anahita zu opfern. Daraufhin wurde er beim späteren Kloster Khor Virap in eine Grube gesperrt. Als König Trdat III. krank wurde, befreiten die Armenier Gregor, so dass er den Herrscher heilen konnte. Der König trat daraufhin im Jahr 301 zum Christentum über. Dass die Forschung heute zu dem Ergebnis kommt, der Übertritt erfolgte erst 314, nimmt Armenien nicht seinen Status als ältestes christliches Land. Bereits im fünften Jahrhundert schuf der Mönch Mesrop Maschtoz ein Alphabet mit 36 Buchstaben für die armenische Sprache. Er übersetzte auch Teile der Bibel ins Armenische und trieb so die Ausbreitung des Christentums voran.

Die heutige armenisch-apostolische Kirche hat ihren Sitz in Etschmiadsin. Der Bau der dortigen Kirche wird auf Gregor zurückgeführt. Ihm soll in einer Vision Christus erschienen sein und auf eine Stelle im kargen Boden gedeutet haben. Dort errichtete Gregor zu Beginn des vierten Jahrhunderts – mittlerweile zum Katholikos ernannt – auf den Ruinen der alten heidnischen Tempel eine Kirche. Mehre Synoden festigten in den folgenden Jahren die eigenständige Stellung der armenischen Kirche. Die armenischen Bischöfe nahmen nicht am Konzil von Chalcedon (451) teil und setzten sich erst einige Jahrzehnte später mit den dortigen Beschlüssen auseinander. Im Streit über das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus entschieden sie sich gegen die Lehre der „Zwei Naturen“ und lehnten die Entscheidung des Konzils ab. Stattdessen wurde die göttliche Natur im Verhältnis zur menschlichen „übergewichtet“. Damit gehört die armenische Kirche zu den orientalischen Kirchen, die, von Byzanz und Rom getrennt, mit einem eigenen Christusverständnis ihren besonderen Glaubensweg gingen. Die politischen Wirren der folgenden Jahrhunderte, vor allem muslimische Eroberungen, Befreiungskriege und Reichsteilungen, verstreuten das armenische Volk über die ganze Welt und zogen auch die armenische Kirche in Mitleidenschaft.

Das zeigt sich an der Struktur der Kirche bis heute. Es gibt zwei Katholikate: das von Etschmiadsin und das von Kilikien. Der kilikische Katholikos hat seinen Sitz im Libanon und ist zwar formal Etschmiadsin untergeordnet, betreut seine Diözesen aber selbstständig. Zusätzlich gibt es noch zwei Patriarchate in Jerusalem und in Konstantinopel. Der Katholikos von Etschmiadsin trägt den Namen „Oberster Patriarch und Katholikos aller Armenier“. Dieses Amt hat seit 1999 Karekin II. inne.

Stabilitätsanker Kirche

Offiziell gehören mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung der armenischen Kirche an. In vielen Gesprächen wird deutlich, dass sich die Armenier noch immer mit dem christlichen Glauben identifizieren. Ob das aber bei allen ein echtes religiöses Interesse ist, scheint fraglich. Die Statistiken täuschen. Da es keine formale Kirchenmitgliedschaft gibt, gibt es auch keine Möglichkeit eines Austritts. Trotzdem hat die Kirche als Bewahrerin der althergebrachten Werte und insbesondere auch der traditionellen Rollenverteilung von Mann und Frau eine starke Stellung in der Gesellschaft. Aus der jungen Generation teilen viele allerdings nicht mehr alle Werte, die die Kirche vertritt. Gerade junge gebildete Frauen finden in ihren Gemeinden oft keine Heimat mehr. Sie kehren der Kirche nicht selten wegen der betont konservativen Priester den Rücken.

Ob jedoch – wie in Georgien – der Vorwurf einer zu engen Bindung zwischen Staat und Kirche zutrifft, sei dahingestellt. Zwar wird die armenische Kirche in den Gesetzen bevorzugt, politisch hält sie sich bei allem Selbstbewusstsein aber eher im Hintergrund. Im Vergleich zu ihren orthodoxen Nachbarn stellt sich die armenische Kirche als eher weltoffen und konstruktiv dar – ein Eindruck, den zumindest mancher Priester erweckt. Die Kirche befürwortet eindeutig die Ökumene. In der armenischen Gesellschaft, die seit der Wende vielen Umbrüchen unterworfen ist, ist die Kirche mit ihrem Bewusstsein für Traditionen ein wichtiger Stabilitätsanker, ohne eine Weiterentwicklung der Gesellschaft auszuschließen.

In Etschmiadsin ist das Zentrum der armenisch-apostolischen Kirche.
In Etschmiadsin ist das Zentrum der armenisch-apostolischen Kirche.© Foto: picture-alliance

 

Blühendes Kreuz

Eine der wichtigsten Traditionen ist die Familie. Aber es gibt auch viele Fälle von häuslicher Gewalt. Im Zweifel ist der Anschein einer intakten Familie wichtiger als der Schutz der Frauen und Kinder, beklagen manche Gesprächspartner. Die Politik hat lange um ein Gesetz gerungen, das die innerfamiliäre Gewalt eindämmen soll. In dieser Diskussion spielte die Kirche durchaus eine vermittelnde Rolle. Sie unterschied sehr genau zwischen der Familie als ideellem Wert und Gewalt als Straftat. Das Gesetz wurde schließlich mit kirchlicher Unterstützung verabschiedet. Der Politik gab sie jedoch die Mahnung mit auf den Weg, Kinder nicht voreilig aus ihren Familie zu nehmen.

In der Sowjetzeit hat die Einheit von Gesellschaft und Kirche sehr gelitten. Wie in den meisten postsowjetischen Staaten nahm die Religion in den Jahren nach der Wende wieder einen deutlichen Aufschwung. In Jerewan wurde die wiedererlangte Freiheit der Kirche in Stein gemeißelt. Die Kathedrale des Heiligen Gregor des Erleuchters in Jerewan wurde 2001 fertiggestellt und ist der größte Sakralbau der armenischen Kirche. Sie fasst rund 1700 Gottesdienstbesucher. Das meiste Geld für den Bau kam von amerikanischen Diaspora-Armeniern.

Betritt man die Kirche, fällt auf, dass sie sehr schlicht gehalten ist. Wie in den meisten armenischen Kirchen hängen dort weder ein großes Kruzifix noch Ikonen. Vereinzelt gibt es zwar Bilder – meist Heiligendarstellungen –, ihnen wohnt aber nicht die Kraft der Ikonen inne. Sie sind nur Deko. In der Fastenzeit sind die Altarräume mit großen Tüchern verhängt. Die Frauen, die in den Kirchen nach dem Rechten sehen, lassen sich aber gerne erweichen und gestatten dem Besucher einen Blick hinter den Vorhang. Nur den erhöhten Altar selbst darf man nicht betreten. Das ist den geweihten Priestern und Diakonen vorbehalten. Diese können verheiratet sein. Der Zölibat ist nur für die höheren Hierarchieebenen verpflichtend, nicht aber für einfache Geistliche. Selbst die Altarbibel darf der Gast einmal aufschlagen. Sie ist in der alt-armenischen Sprache geschrieben. Die armenische Liturgie lebt zu großen Teilen vom Chorgesang. Wie in den Kirchen des Ostens üblich, herrscht während der Gottesdienste ein Kommen und Gehen. Viele der Teilnehmer verharren beim Verlassen der Kirche noch andächtig vor einem der Kreuzsteine, die an vielen Stellen in den Städten oder auf dem Land stehen.

Das blühende Kreuz der Kreuzsteine erinnert daran, dass mit dem Tod nicht alles endet.
Das blühende Kreuz der Kreuzsteine erinnert daran, dass mit dem Tod nicht alles endet.© Foto: Amelie Tautor

Die meisten der steinernen Monumente zeigen ein blühendes Kreuz, wie es auch viele Altartücher tragen. Weil Kreuzsteine häufig auf und an Friedhöfen stehen, liegt der Gedanke nahe, es handele sich um Grabsteine. Einer der Priester im Kloster Haghartsin beschreibt sie jedoch als Freilichtaltäre. Die blühenden Ranken, die aus den Enden der Kreuze hervorbrechen, symbolisieren die Erlösung des Menschen. Das Kreuz wird zum Lebensbaum und bringt so die Hoffnung zum Ausdruck, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. In der „Muttergotteskirche“, die zum Sevan-Kloster gehört, findet sich ein besonderer Kreuzstein. Er unterscheidet sich von den anderen, da er einer der wenigen ist, der in Bildern biblische Geschichten erzählt.

Nahe der kleinen Stadt Dilijan, liegt das Kloster Haghartsin, das wohl im 10. bis 13. Jahrhundert gebaut wurde. Zu dem Komplex gehören mehrere Kirchen, Kapellen und Kreuzsteine. Bei dem Erdbeben 1988 wurden Teile zerstört, manches ist noch immer nicht wieder aufgebaut. Mönche gibt es dort schon lange nicht mehr. Seit der Sowjetzeit liegt das Klosterleben in Armenien fast vollständig brach. Erst seit einigen Jahren besiedeln Mönche wieder die alten Klöster. Auch entscheiden sich jetzt wieder mehr junge Menschen dafür, Priester zu werden. Rund fünfzehn bis zwanzig Männer werden in Armenien jedes Jahr zum Priester geweiht. Das sind aber immer noch zu wenige, seufzt einer der Geistlichen.

Die Kirchen in der Klosteranlage haben alle den charakteristischen kreuzförmigen Grundriss, den die allermeisten armenischen Sakralbauten aufweisen. An viele Kirchen sind Vorhallen, sogenannte Gawite, angebaut. Sie dienten ursprünglich für allgemeine Gemeindeversammlungen, Unterrichtszwecke oder Gerichtsverhandlungen. In Klosteranlagen schlossen sie die einzelnen Bauwerke zu einem einheitlichen Ensemble zusammen. Die Vierung, der quadratische Raum, an dem sich die vier Kirchenschiffe treffen, wird von einer Kuppel und einem steinernen Pyramidendach überspannt. Die Armenier erzählen gerne, dass die Dachform auf den Berg Ararat zurückgeht, auf dem Noah mit seiner Arche strandete.

Der – eigentlich türkische – Ararat ist für alle Armenier der Ort der Sehnsucht schlechthin. Angeblich hängt in jedem Wohnzimmer in der Diaspora ein Bild des schneebedeckten Berges mit dem Kloster Khor Virap im Vordergrund. Solange jedoch der Konflikt um Bergkarabach nicht gelöst ist, kann es auch mit der Türkei kein Abkommen geben. Daher gibt es für Armenier auch keinen freien Zugang zum Ararat. Der Berg findet sich auch im armenischen Staatswappen – sehr zum Ärger der Türkei.

Von Jerewan aus kann man den Ararat nur an Tagen mit guter Witterung sehen. Wo er zu finden wäre, läge er nicht im Dunst, können aber alle Armenier erklären. Weithin über die Stadt leuchtet jedoch der Schriftzug „Ararat“. Er gehört zur gleichnamigen Weinbrand-Fabrik, die inzwischen weltweit exportiert. Es heißt, der englische Staatsmann Winston Churchill habe den Schnaps dieser Marke bevorzugt. Er soll ihn 1945 auf Jalta kennengelernt haben und dann von Stalin mit dem Weinbrand versorgt worden sein. In der Brandy-Fabrik hängt auch die einzige aserbaidschanische Flagge auf armenischem Boden, so erzählt eine Angestellte. Als die Verhandlungen zwischen beiden Ländern über Bergkarabach im Jahr 2000 einer Lösung nahe schienen, füllte „Ararat“ ein „Friedensfass“. Man wollte den Weinbrand gemeinsam nach der Unterzeichnung eines Abkommens trinken. Dazu kam es dann aber nicht. Seitdem lagert der Weinbrand in seinem Eichenfass – in der Hoffnung, dass Armenien einmal Frieden findet.

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