Zweiter WeltkriegGesellschaft mit den Kriegstoten

Vergangen, vergessen, vorbei – so funktioniert das Leben nicht. Die Opfer des Zweiten Weltkriegs haben uns heute etwas zu sagen.

Das Vergangene droht ins Vergessen abzusinken, wenn die letzten Zeugen, die aus erster Hand erzählen können, von der Bühne des Lebens abtreten. Die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat daher in dem bemerkenswerten Film „Anfang aus dem Ende“ Stimmen aus der Generation der Flakhelfer zusammengetragen. Sie berichten im Gespräch, oft nach jahrzehntelangem Schweigen, aus ihrer Jugendzeit während der NS-Diktatur, erzählen aber auch von ihren erschütternden Erlebnissen im Krieg. Die offizielle Geschichtsschreibung wird durch solche Zeugnisse aus der Mikroperspektive der Betroffenen facettenreicher und existenziell eindringlicher.

Unter den Befragten ist auch der Tübinger evangelische Theologe Jürgen Moltmann (Jahrgang 1927), der sich im Film daran erinnert, wie seine Flakbatterie von englischen Kampfflugzeugen bombardiert wird. Er wirft sich offensichtlich gerade noch rechtzeitig zu Boden, während sein Nachbar, ein befreundeter Mathematiker, tödlich getroffen wird. Wie durch ein Wunder ist er selbst davongekommen – und schreit, wie er sagt, traumatisiert zum ersten Mal stumm und schlaflos nach Gott. Ohne Theologie auf Biografie reduzieren zu wollen, lässt sich durchaus vermuten, dass diese Erfahrung des jungen Flakhelfers in die Entstehung des Buches „Der gekreuzigte Gott“ (1972) eingeflossen ist, in dem Moltmann die Wucht der Theodizeefrage auf den Verlassenheitsschrei des Gekreuzigten auf Golgota bezieht.

Der Klagechor der Ermordeten

Der Tübinger Theologe erzählt im Gespräch mit Aleida Assmann auch, dass er bereits 1961 nach Polen gereist sei und das Konzentrationslager Majdanek besucht habe. Konfrontiert mit dieser Stätte des Grauens, hatte er eine Art Vision: Wie im Nebel sah er die ermordeten Juden auf sich zukommen. Was wäre, wenn sich alle Opfer, die hier umgebracht wurden, aus dem Staub erhöben, aufstünden und in einem riesigen Chor Klage führten? In der Dichte des Totengedenkens hat Moltmann wohl die Erfahrung gemacht, dass die Vergangenheit noch eine Zukunft vor sich hat und den für immer Verstummten ihre Stimme noch einmal wiedergegeben werden muss, wenn die Geschichte nicht im Abgrund der Sinnlosigkeit enden soll. Der KZ-Besuch war für ihn der biografische Anstoß zur Ausarbeitung seiner „Theologie der Hoffnung“ (1968), in der der Tod nicht das letzte Wort hat und die Täter, Mitläufer und Helfershelfer nicht auf Dauer über die Opfer triumphieren.

Auch der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz (geboren 1928), Begründer der neuen politischen Theologie, gehört der Flakhelfergeneration an. Er hat wiederholt berichtet, dass er am Ende des Krieges eine einschneidende Erfahrung gemacht habe, die seine Theologie je länger je mehr geprägt hat. Eines Abends wurde er von seinem Kompaniechef beauftragt, dem Bataillonsgefechtsstand eine Meldung zu überbringen. Er irrte des Nachts durch zerschossene Dörfer und Gehöfte und überbrachte auftragsgemäß die Nachricht. Als er in den frühen Morgenstunden zu seiner Kompanie zurückkehrte, sah er nur Tote. Ein kombinierter Jagdbomber- und Panzerangriff der Alliierten war über seine Kameraden hinweggefegt und hatte das Lager in einen Ort der Zerstörung verwandelt. Die, mit denen er gerade noch sein Leben geteilt hatte, lagen regungslos da, erloschene Antlitze. Der stille Schrei „Warum?“, das Vermissen des rettenden Eingreifens Gottes haben Metz’ späteres Denken geprägt. Seine eindringliche Forderung nach mehr Theodizee-Empfindlichkeit in der Theologie, seine Frage nach der Rettung des anderen in seinem Tod dürften hier ihr biografisches Fundament haben.

Das Opferkreuz des Lebens

Die Nachgeborenen sind von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges allenfalls indirekt betroffen. Allerdings können sie durch den Besuch von Gedenkstätten – gewissermaßen aus zweiter Hand – Erfahrungen machen, die in eine ähnliche Richtung gehen. Gedenkstätten sind Erinnerungsorte, die Fragen aufwerfen, die in einer materialistischen Philosophie unbeantwortet bleiben und ins Theologische ausgreifen: Was ist mit den Toten? Haben sie noch eine Zukunft vor sich?

Im Spätsommer habe ich den britischen Ehrenfriedhof am Niederrhein besucht, der zwischen Kleve und dem niederländischen Städtchen Gennep liegt. Der „Reichswald Forest War Cemetery“ ist die größte Kriegsgräberstätte des Commonwealth in Deutschland. Mehr als 7500 gefallene Soldaten liegen hier bestattet, darunter viele aus der Flakhelfergeneration. Vor allem Engländer und Kanadier, aber auch Australier, Neuseeländer, Polen und andere. In der Mitte der Anlage, die von dem englischen Architekten Philip Dalton Hepworth gestaltet wurde, steht ein schlichtes „Opferkreuz“ – das cross of sacrifice. Das Kreuz ist das öffentlich sichtbare Symbol, das das furchtbare Leiden, aber auch die Opferbereitschaft der Soldaten zum Ausdruck bringen soll. Zugleich kann es in christlicher Lesart als Erlösungszeichen auch die Hoffnung anstoßen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. In der Zeit nach dem Krieg hat man noch selbstverständlich auf das Kreuz als Gedenksymbol zurückgegriffen, ohne es für problematisch zu halten, dass man damit vielleicht über das Selbstverständnis andersgläubiger oder nichtgläubiger Soldaten hinweggeht. In der Tat finden sich unter den Gedenkstelen des Ehrenfriedhofs auch ein paar mit hebräischen Schriftzeichen, die auf die jüdische Identität der Gefallenen hinweisen. In größerem Abstand vom „Opferkreuz“ entfernt befindet sich der rechteckige Altarstein, der stone of remembrance, auf dem in großen Lettern zu lesen ist: „THEIR NAME LIVETH FOR EVERMORE – ihr Name lebt für immer.“

Wenn man als Besucher durch das Tor die Kriegsgräberstätte betritt, die mehrere Fußballfelder groß ist, geht man zunächst zwischen zwei Türmen hindurch, die im maurischen Stil erbaut sind und jeweils Bücher mit den Namen der Toten enthalten. Hier kann man sich in ein Gedenkbuch eintragen. Geht man dann weiter auf das Gräberfeld zu und betrachtet einige Gedenksteine, stellt man schnell fest, dass die meisten, die hier liegen, im Alter zwischen 18 und 25 Jahren gefallen sind. Sie haben ihr Leben gelassen, um der Schreckensherrschaft des Dritten Reiches ein Ende zu setzen. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass die deutsche Geschichte einen anderen Lauf nehmen und wenige Jahre nach dem Krieg die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik errichtet werden konnte. Ist uns das noch bewusst?

Auf der rechten Seite des Friedhofs liegen Angehörige der Royal Air Force, die im Luftkrieg ihr Leben gelassen haben, auf der linken Seite sind weitere Soldaten bestattet, die in den Jahren 1939–1945 gefallen sind. Darunter befinden sich viele Opfer, die bei der Rheinüberquerung der Alliierten zu Tode kamen, aber auch solche, die bei den Gefechten im Reichswald vom Februar und März 1945 gefallen sind. Man sieht sich mit einem stummen Heer von Gedenkstelen konfrontiert: wohlgeordnet, aus hellgrauem Stein, alle gleich groß, die meisten mit Namen, Geburts- und Sterbedatum gekennzeichnet, einige auch mit Grabsprüchen, die Angehörige anbringen ließen.

„Zu dir, o Herr, …“

„Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte a-theologisch (also ohne Gott) zu denken“, hat der jüdische Denker Walter Benjamin, der selbst vor den Schergen der Nazis fliehen musste, geschrieben. Die Hellsichtigkeit dieser Aufzeichnung ging mir beim Besuch der Kriegsgräberstätte schlagartig auf. So viele Tote, so viele verfrüht aus dem Leben Gerissene! Welche Pläne hatten sie? Von welchen Hoffnungen waren sie umgetrieben? Was hätte aus ihnen werden können? Wem haben sie sich verbunden gefühlt? Soll, kann, ja darf so viel Vergeblichkeit, so viel Leid ohne Antwort bleiben?

Viele Grabinschriften bringen den Aufstand der Hinterbliebenen gegen das Vergessen zum Ausdruck: „Wenn die Erinnerung verblasst und das Leben endet: Er wird für immer in unseren Herzen weiterleben.“ Auf einem anderen Stein steht: „Gegangen, aber nicht vergessen. In Liebe: Frau und Kinder“. Auf einem dritten heißt es: „Tief in unsere Herzen ist die Erinnerung eingegraben. Mom and Dad“. Oder: „Im Garten der Erinnerung treffen wir uns jeden Tag. Vater, Mutter, Schwester“. Welche lebensgeschichtliche Dramatik wird hier in wenige Worte zusammengezogen. Die Trauer über den Verlust spricht sich in den Inschriften, aber vielleicht noch deutlicher in den Leerstellen zwischen den Buchstaben aus. Wenn man sich darüber hinaus klar macht, dass nur noch ganz wenige Angehörige und Freunde leben, die hier ihre Erinnerung beschwören, fährt es einem durch Mark und Bein.

Andere Grabsprüche greifen ins Religiöse aus: „HE GAVE HIS LIFE FOR A NOBLE CAUSE AND PASSED UNAFRAID TO GOD – er gab sein Leben für eine edle Sache und ging ohne Furcht zu Gott“. Oder aus der letzten Strophe des Hymnus „Abide with me“: „HOLD THOU THY CROSS BEFORE MY CLOSING EYES – halte du dein Kreuz vor meine sich schließenden Augen“. Oder: „UNTO THEE, O LORD, DO I LIFT, MY SOUL – Zu dir, o Herr, erhebe ich meine Seele“.

Das „kommunikative Gedächtnis“ der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, das auf mündlicher Weitergabe des Erlebten beruht und von Zeugen an ihre Kinder und vielleicht noch Kindeskinder weitergegeben wird, ist bereits dabei, nach und nach zu verebben. Es ist daher wichtig, dass das, was im kommunikativen Gedächtnis im Medium der Erzählung erinnert wird, überführt wird in das „kollektive Gedächtnis“, das auf externe Speichermedien wie die Schrift zurückgreift. Archive, Museen, Gedenkstätten, auch Dokumente und Filme können verhindern, dass die Vergangenheit vergeht und ins Vergessen absinkt.

Allerdings braucht es auch lebendige Träger, die ein Interesse an der Geschichte aufbringen, Personen, die nachfragen, nachlesen und forschen, die bereit sind, sich auch von den Geschichten betreffen zu lassen, um das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft vor dem Absturz in Vergessenheit und Gleichgültigkeit zu bewahren. Auch kann die Erinnerung eine Mahnung sein, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen – ganz im Sinne des spanischen Autors George Santayana: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Die stummen Grabstelen, die einem auf dem englischen Ehrenfriedhof gegenüberstehen, rufen dazu auf, die Abgründe der Geschichte nicht zu vergessen und das schwache Band zwischen Lebenden und Toten, das die Erinnerung stiftet, nicht abreißen zu lassen. In seinen Aufzeichnungen „Gestern unterwegs“ hat Peter Handke dafür eine treffende Wendung gefunden und von der Gesellschaft mit den Toten als dem „achten Sakrament“ gesprochen.

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