Differenzierter Blick

Die „HK“ berichtete früh über Lateinamerika. Den Debatten um die Befreiungstheologie widmete sie dabei viel Raum.

Christusstatue Rio de Janeiro
© Pixabay

Mit dem Pontifikat von Franziskus sind die seit den Neunzigerjahren im europäischen Kontext eher in den Hintergrund getretenen Entwicklungen in Kirche und Theologie in Lateinamerika wieder in Erinnerung gerufen worden. Der Papst aus Lateinamerika, von der nachvatikanischen Kirche in Lateinamerika, der Neuorientierung des Ordenslebens und einer Pastoral an der Seite der Armen geprägt, hat in sein Pontifikat den Leitfaden dieser „Option für die Armen“ eingewebt – und den damit verbundenen notwendigen Umkehrprozess einer Kirche, die in den Spuren Jesu Christi das Evangelium glaubwürdig verkünden will. Damit erhält der Weg und Erneuerungsprozess einer Ortskirche, der gerade in Zeiten der Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. immer wieder auf Kritik und Maßregelung gestoßen ist, eine Anerkennung, in der knapp 60 Jahre nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils die neue Gestalt der katholischen Kirche als „Weltkirche“ und ihre Südverlagerung zum Ausdruck kommt. Das Christentum wächst in den Ländern des Südens, und das Profil einer Kirche an der Seite der Armen, das sich in der lateinamerikanischen Kirche auf eine besondere Weise ausgeprägt hat, erhält neue Relevanz für die Weltkirche.

Die „Herder Korrespondenz“ hat die Entwicklungen in Theologie und Kirche in Lateinamerika von Anfang an mit Interesse, Aufmerksamkeit und über theologische Beiträge verfolgt, die in die deutsche Ortskirche ein differenziertes Bild der Entwicklungen in Pastoral und Theologie vermittelt haben. Aus unterschiedlichen regionalen Perspektiven wurde über die seit Konzilszeiten entstehenden Basisgemeinden und eine Sozialpastoral an der Seite der Armen, der Arbeiterschaft, der Campesinos und Landlosen, über den Widerstand von Christen und Christinnen gegen die Militärregime der Siebziger- und Achtzigerjahre berichtet, vor allem auch über die diesen Weg der Kirche reflektierende Befreiungstheologie. Ein besonderes Augenmerk wurde in der „HK“ auf die Vorbereitung und Durchführung der verschiedenen Generalversammlungen des lateinamerikanischen Episkopats gelegt. Es wurden auch die Stimmen eingefangen, die das schwierige Ringen um den Weg einer Kirche an der Seite der Armen hörbar machten. Damit wurden auch die Spannungen zwischen den in den Jahren der Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. beharrenden kirchlichen Kräften und einer den Weg an der Seite der Armen weitergehenden Kirche benannt. Durch die Instruktionen der Glaubenskongregation und durch wiederholte Maßregelungen von Theologen und Theologinnen wie Leonardo Boff, Gustavo Gutiérrez, Ivone Gebara oder Jon Sobrino, durch die Schließung von befreiungstheologisch ausgerichteten pastoralen Zentren und vor allem auch durch Ernennung von Bischöfen aus konservativ bis fundamentalistisch geprägten religiösen Bewegungen wie dem Opus Dei oder dem Sodalicio de vida cristiana wurde die Befreiungstheologie Mitte der Achtzigerjahre erheblich geschwächt.

Die „HK“ hat sich differenziert mit der Befreiungstheologie und der römischen Kritik auseinandergesetzt und auch den befreiungstheologischen Entwicklungen über das Jahr 1989 hinaus – aus sozial- und politikwissenschaftlicher Seite war vom „Ende“ der Befreiungstheologie die Rede – Raum gegeben. Durch den Blick auf weitere Ausfaltungen befreiungstheologischen Denkens in den indigenen Theologien und feministisch-theologischen Ansätzen hat sie im deutschsprachigen Raum mit dazu beigetragen, dass die genannte weltkirchliche Tragweite des Pontifikats von Franziskus – anders wie etwa im US-amerikanischen Kontext – besonders herausgestellt worden ist und in sein Pontifikat große Hoffnung gesetzt wurde.

Sicher ist in der Gegenwart ein höchst nüchterner Blick auf die lateinamerikanische Kirche angesagt; in wenigen Regionen weltweit ist ein Prozess von Säkularisierung und religiöser Pluralisierung, vor allem verbunden mit einem massiven Wachsen der Pfingstkirchen, so rasch fortgeschritten. Ob der massive Einbruch des Volkskatholizismus und der Abbruch kirchlicher Bindungen in einem Land wie Chile, veranlasst durch die einschneidende Glaubwürdigkeitskrise angesichts von sexuellem Missbrauch an jungen Menschen durch Kleriker, überhaupt je aufgefangen werden kann, ist die Frage auch vieler weiterhin engagierter Katholiken und Katholikinnen. Die katholische Kirche wird sich hier und auch in anderen lateinamerikanischen Ländern neu „erfinden“ müssen – dafür hat sie aber mit Blick auf die nachkonziliare Erneuerung der „Kirche der Armen“ kein gering zu schätzendes Vorbild.

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