Das BahaitumAbrahams jüngste Kinder

Die Bahai, eine nach-islamische Offenbarungsreligion, sind eine vergleichsweise kleine Gemeinschaft. Dabei leben sie in nahezu jedem Staat und entstammen 2100 Ethnien. Was sie glauben, wie sie beten, worauf sie hoffen ‒ eine Einführung.

Bahai-Tempel in Neu-Delhi
© Pixabay

In der Mitte des 19. Jahrhunderts stiftete der gebürtige Perser Husayn-Ali Nuri „Baha’ullah“ (1817–1892) im Osmanischen Exil eine Glaubensgemeinschaft, die heute als Bahai-Religion oder Bahai-Glaube in akademischen Publikationen auch als Bahaitum bekannt ist. Sie ist aus dem Babismus (benannt nach Ali-Muhammad Shirazi „Bab“, 1819–1850) hervorgegangen, einer religiösen und sozialen Bewegung, die ihrerseits zunächst aus dem schiitischen Islam entstanden war, sich von diesem jedoch losgelöst hatte.

Bahai glauben an einen transzendenten Gott, der sich seiner Schöpfung durch erwählte Boten mitteilt. Da die Menschheit in ihrer Entwicklung voranschreitet, spricht Gott – in großen zeitlichen Abständen und in Einklang mit den Umständen der jeweiligen Zeit – immer wieder aufs Neue zu ihr. Die Erwartung eines nahenden Weltuntergangs gibt es nicht. Vielmehr wird die eschatologische Verheißung eines Friedensreichs auf Erden als langwieriger innerweltlicher Prozess einer Vereinigung aller Völker verstanden, zu dem die Religion vermittelnd beitragen soll. Grundvoraussetzung für die angestrebte Verwirklichung einer solchen „Einheit in Vielfalt“ ist die Erkenntnis, dass, so Baha’ullah, alle Menschen „aus dem gleichen Staub erschaffen“ sind und weder Herkunft, Ethnie noch Geschlecht, geschweige denn Religionszugehörigkeit zum Anlass für Feindschaft und Zwietracht werden dürfen. Wie es nur einen Gott gebe, bei dem alle Religion ihren letzten Ursprung habe, gebe es, bei aller Verschiedenheit, auch nur eine Menschheit: „Die Erde ist ein Land und alle Menschen sind seine Bürger.“

Die Bahai sehen sich als Anhänger einer eigenständigen Universalreligion. Sie betrachten ihren Stifter als Gottesboten, der unter anderem mit Moses, Jesus und Mohammed in einer Linie steht. Seine umfangreichen Werke gelten ihnen als Heilige Schrift und lösten den Koran ab. Trotz zahlreicher Bezüge zur islamischen – und zu einem geringeren Teil auch zur jüdisch-christlichen und zoroastrischen – Literatur verfügt das Bahaitum über eine eigenständige Theologie, Prophetologie und Eschatologie sowie eigene Riten und eine Gemeindeordnung. In der Religionswissenschaft gilt es daher als nach-islamische Offenbarungsreligion. Auch ist es als jüngste und kleinste der sogenannten „abrahamischen“ Religionen eingeordnet worden.

Inkulturation ist gewünscht

Offizielle Statistiken sprechen von „mehr als fünf Millionen“ Gläubigen weltweit. Die zahlenmäßig größten Gemeinden befinden sich in Indien sowie den Vereinigten Staaten. Im Iran bildeten die Bahai bis vor der Revolution von 1979 die größte nicht-muslimische religiöse Minderheit. Verlässliche aktuelle Zahlen sind jedoch seit den Verfolgungen und Hinrichtungen der Achtzigerjahre und angesichts der bis heute anhaltenden Repressionen nicht zu erheben.

Der vergleichsweise geringen Zahl von Gläubigen steht deren große geografische Verbreitung gegenüber. Bahai leben in nahezu jedem Staat der Welt. Sie entstammen mehr als 2100 Ethnien. Zentrale Werke ihrer Heiligen Schrift sind in mehr als 800 Sprachen übersetzt. Inkulturation ist gewünscht und wird praktiziert. Interkulturelle und gemischt-religiöse Heiraten sind keine Seltenheit.

Der Anspruch, eine Universalreligion zu sein, zeigt sich in der Praxis beispielsweise darin, dass es keine Sakralsprache gibt. Gebet und Schriftlesung erfolgen in der jeweiligen Muttersprache. Auch die Art und Weise der Rezitation, die Vertonung durch Gesang und Instrumentalbegleitung steht den Gläubigen frei. So können sich Choräle neben orientalischem Gesang und polynesischen Klängen oder modernen Vertonungen bis hin zum Rap finden.

Der Ritus ist auf ein Minimum reduziert, sodass Raum für individuelle und kulturelle Elemente bleibt. Dies gilt für die neun jährlichen Feiertage, die keiner festen Liturgie folgen, wie auch beispielsweise für Trauungen, die weitgehend frei gestaltet werden können. Insofern ist die theologische Herauslösung aus dem islamischen/orientalischen Kontext in der Gemeinde auch soziologisch vollzogen. Dies wird ferner daran deutlich, dass Frauen eine große Rolle im Gemeindeleben spielen und es keine Geschlechtertrennung gibt.

Die lokalen und nationalen Gemeinden weltweit bestehen zu einem erheblichen Teil aus indigenen Mitgliedern. Das gilt auch für die deutsche Gemeinde, deren Entstehung in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Damals war ein deutschstämmiger Zahnarzt während eines Studienaufenthalts in den Vereinigten Staaten mit Bahai in Kontakt gekommen und konvertiert. Nach seiner Rückkehr in den Stuttgarter Raum im Jahre 1905 begann er damit, für die neue Religion zu werben, und legte so den Grundstein für die deutsche Gemeinde.

Deutschland, insbesondere der Stuttgarter Raum, wurde schnell zum europäischen Zentrum der jungen Gemeinde. 1913 kam Abdul-Baha (1844‒1921), der Sohn des Religionsstifters, zu einem Besuch. 1922 wurde hier der weltweit erste „Geistige Nationalrat“ gegründet. Und als der iranische Bahai Yunus Khan Anfang der 30er-Jahre Europa bereiste, hielt er in einem Reisebericht seine Begeisterung über die Gemeinden in Deutschland fest, beklagte sich aber darüber, dass es mancherorts mit der Verständigung nicht geklappt habe, denn kaum ein Bahai dort habe Englisch oder Französisch gesprochen.

Eine Zäsur bildete 1937 eine Verfügung der Gestapo, wonach die Gemeinde aufgelöst, ihr Vermögen beschlagnahmt und den Bahai jede weitere Betätigung verboten wurde. Einige Bahai starben in Konzentrationslagern, jedoch nicht wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit, sondern wegen ihrer jüdischen Abstammung.

In Ostdeutschland blieb die Bahai-Religion bis 1990 verboten, während sie in Westdeutschland bereits kurz nach Kriegsende ihre Tätigkeit wieder aufnehmen konnte. 1947 erfolgte die Eintragung des „Nationalen Geistigen Rates der Bahai“ ins Vereinsregister. Sein Sitz wurde 1964 nach Frankfurt am Main verlegt und 1993 nach Hofheim im Taunus. Dort wurde 1964 auch das erste europäische „Haus der Andacht“ („Bahai-Tempel“) eingeweiht, nachdem dessen ursprünglich in Frankfurt geplante Errichtung zunächst auf Widerstand, auch seitens der großen Kirchen, gestoßen war. Mittlerweile ist das Gotteshaus ein beliebtes Ausflugsziel im Rhein-Main-Gebiet und seit 1987 hessisches Kulturdenkmal.

Im Jahr 2012 verlieh das Land Hessen der Bahai-Gemeinde den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Zuvor hatte das Bundesverwaltungsgericht nach einem mehrjährigen Prozess geurteilt, dass zwar die Anzahl der Mitglieder die vorgeschriebene Promillegrenze hinsichtlich der Bevölkerung nicht erreiche, es jedoch anhand zahlreicher anderer Indizien rechtlich als gesichert anzusehen sei, dass die Gemeinde die verfassungsrechtlich verlangte „Gewähr der Dauer“ biete. Die Bahai haben den Körperschaftsstatus nicht deshalb angestrebt, weil er die Möglichkeit eröffnet, Steuern einzuziehen. Die Gemeinde finanziert sich ausschließlich von freiwilligen und geheimen Spenden der Mitglieder, über deren Höhe die Gläubigen nach eigenem Ermessen entscheiden.

Der Körperschaftsstatus gewährleistet, dass die eigene Gemeindeordnung dem religiösen Selbstverständnis entsprechend umgesetzt werden kann, ohne den Beschränkungen des Vereinsrechts unterworfen zu sein. Da die örtlichen Geistigen Räte dem Nationalen Geistigen Rat unterstehen, wurde dies in einzelnen Fällen als Verletzung der vereinsrechtlich verlangten Organisationsautonomie gewertet. So wurde mit dieser Begründung dem Geistigen Rat in Tübingen der Eintrag ins Vereinsregister zunächst verwehrt. 1991 gab das Bundesverfassungsgericht jedoch einer Beschwerde der Bahai statt – eine Entscheidung mit Implikationen für das Religionsverfassungsrecht, die seitdem als „Bahai-Beschluss“ bekannt ist. Mit dem Status der Körperschaft sind die aus dem Vereinsrecht erwachsenen Probleme nun endgültig gelöst.

Die Bahai-Gemeinde wird von gewählten Gremien verwaltet. Geistliche, Priester, Vorbeter oder Schriftgelehrte, die besondere Privilegien genießen, sind nicht vorgesehen. Einzelne Mitglieder, auch jene, die in eine Institution gewählt sind, haben keine Sonderstellung, sondern alle sind Laien unter Laien. „Geistiger Rat“ (engl. „Spiritual Assembly“) lautet die Bezeichnung für das gesamte neunköpfige Gremium, nicht für eine Einzelperson.

Ab einer Gemeindegröße von neun volljährigen Mitgliedern wird einmal im Jahr ein solcher Geistiger Rat gewählt. In Ländern mit ausreichend örtlichen Gremien wird jährlich ein Nationaler Geistiger Rat gewählt, der ebenfalls aus neun Mitgliedern besteht. Die Mitglieder dieser Nationalen Geistigen Räte wählen wiederum alle fünf Jahre das höchste Gremium, das „Universale Haus der Gerechtigkeit“. Dieses hat seinen Sitz im nordisraelischen Haifa.

Religionsstifter Baha’ullah hatte in seinem wichtigsten Werk, dem „Heiligsten Buch“, die Wahl von „Häusern der Gerechtigkeit“ in jeder Stadt vorgesehen. Diese sollten karitative Funktionen übernehmen und die Gemeinde verwalten. Ein Oberstes Haus der Gerechtigkeit solle über Fragen der religiösen Gesetzgebung entscheiden, zu denen die Heilige Schrift schweigt, damit auf künftige Entwicklungen flexibel reagiert werden könne. Nach Baha’ullahs Ableben im Jahre 1892 übernahm gemäß Testament dessen ältester Sohn Abdul-Baha (gest. 1921) die Führung der Weltgemeinde. Er rief die Gläubigen dazu auf, auszuwandern und als sogenannte „Pioniere“ den Glauben auf allen Kontinenten zu verkünden. Das vergrößerte die Gemeinde und ihre geografische Verbreitung erheblich. In der Folge wurden in einigen Ländern erste Gremien gewählt. Da diese aber den hohen Anspruch eines „Hauses der Gerechtigkeit“ noch nicht erfüllten, wurden sie bis auf weiteres „Geistige Räte“ genannt.

Keine Lehrautorität

Abdul-Baha entwarf eine Gemeindeordnung, in der einem künftig zu begründenden „Universalen Haus der Gerechtigkeit“ ein „Hüter“ zur Seite steht. Dieser solle über eine Lehrautorität, also das Recht zur autoritativen Schriftauslegung, verfügen und Beschlüsse des Universalen Hauses überwachen. Für diese Funktion bestimmte er seinen ältesten Enkel Shoghi Effendi, der wiederum seinen ältesten männlichen Nachkommen zum Hüter hätte erwählen sollen.

Dazu kam es aber nie, denn Shoghi Effendi verstarb 1957 unerwartet und hinterließ weder Nachkommen noch eine Regelung zu seiner Nachfolge. 1963 entschied man sich schließlich, erstmals das „Universale Haus der Gerechtigkeit“ zu wählen. Es steht seitdem an der Spitze der weltweiten Bahai-Gemeinde. Das Lehramt wurde nicht mehr besetzt. Es gibt keine Instanz, die die Schrift verbindlich auslegen darf. Das „Universale Haus“ kann daher keine Dogmen verkünden und sich in Fragen, die über die Schrift hinausgehen, nicht auf eine eigene Interpretationsgewalt berufen.

Das „Universale Haus der Gerechtigkeit“ nimmt derzeit eine Reihe wichtiger Funktionen wahr. Dazu gehören Verwaltung, Pflege und Ausbau der Heiligen Stätten der Bahai in Nordisrael. Um das Grabmal des dort in der Verbannung verstorbenen Baha’ullah in Akko sowie um den Schrein von Bab und Abdul-Baha auf dem Berg Karmel sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prächtige Gartenanlagen entstanden, die von einer Vielzahl von Freiwilligen aus aller Welt betreut werden. Sie dienen den Bahai mittlerweile als wichtigste Pilgerstätte. Die eigentlichen Wallfahrtstätten liegen im Irak und im Iran, diese sind jedoch für die Gläubigen nicht zugänglich. Zum größten Teil wurden sie in den letzten Jahrzehnten von staatlicher Seite beschlagnahmt und zerstört. Die Gläubigen hoffen, dass sie eines Tages wieder in ihren Besitz gelangen und ihr ursprünglicher Zustand wiederhergestellt werden kann.

In Israel unterliegen die Bahai in ihrer Religionsausübung keinen besonderen Beschränkungen. Sie selbst sind jedoch bestrebt, der besonderen Situation im Heiligen Land Rechnung zu tragen. So verzichten sie dort völlig auf Mission und enthalten sich jeder Stellungnahme zum aktuellen politischen Geschehen. Die erwähnten Gartenanlagen sind der Öffentlichkeit zugänglich.

Das „Universale Haus der Gerechtigkeit“ richtet regelmäßig „Botschaften“ an die Bahai-Weltgemeinde. Ferner gibt es auf jeweils mehrere Jahre angelegte „Pläne“, in denen Grundsätzliches zur Ausrichtung der Gemeindeaktivitäten weltweit verkündet wird. Über deren Umsetzung wird unter anderem bei alle 19 Tage stattfindenden Gemeindetreffen beraten. Zwischen den Gemeinden verschiedener Länder besteht insofern bei aller Vielfalt auch eine gewisse einheitliche Ausrichtung.

In den letzten zwei Jahrzehnten liegt der Schwerpunkt der Pläne auf einem Wirken in die Gesellschaft hinein. Es gelte, den von Baha’ullah verheißenen Weltfrieden nicht etwa nur durch Missionierung, sondern im gemeinsamen Handeln mit anderen Menschen zu verwirklichen. Die Bahai-Gemeinde solle sich dabei gegenüber ihren Mitmenschen als „dienende Gemeinschaft“ verstehen und triumphalistisches Erwähltheitsdenken vermeiden. Durch Förderung von Bildung sowie durch Vermittlung von Werten im unmittelbaren nachbarschaftlichen Umfeld werde eine „neue Kultur“ des Zusammenlebens entstehen. Auch solle man sich verstärkt in öffentliche Diskurse über konkrete Probleme und Herausforderungen der heutigen Gesellschaft einbringen.

Zu diesem Zweck wurde ein globales „Trainingsinstitut“ etabliert, das in der Praxis aus Arbeitsheften besteht, die in kleinen Gruppen unter Anleitung von „Tutoren“ behandelt werden. Diese Lernmaterialien basieren auf Erfahrungen mit Bildungsprojekten in Lateinamerika und sollen, so das erklärte Ziel, das „Nachdenken über Geistigkeit“ fördern sowie „zum Dienst an der Gesellschaft befähigen“. Eine darüber hinausgehende Vertiefung in den eigenen Glauben und eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dessen Inhalten gilt als religiöse Pflicht, bleibt aber weitgehend dem Einzelnen überlassen. Eine akademische Theologie mit entsprechenden Studiengängen gibt es in der Bahai-Gemeinde bislang nicht. Die „selbständige Suche nach Wahrheit“ ist eines der Kardinalprinzipien des Glaubens, weshalb die Zugehörigkeit zur Gemeinde auch nicht mit der Geburt erfolgt, sondern auf einer freien und bewussten Entscheidung frühestens im Alter von 15 Jahren gründen soll.

Zwischen Identitätswahrung und Öffnung

Die nachdrückliche Forderung, selbstlos der Menschheit zu dienen und dabei frei von Hintergedanken und dem Ziel der Missionierung zu bleiben, stellt die Gläubigen vor große Herausforderungen. Denn es besteht zugleich der Wunsch, den Glauben zu verkünden und neue Gläubige zu gewinnen. Und wenn bestehende sonntägliche Kinder- und Jugendklassen in offene Kurse der allgemeinen Wertevermittlung umgestaltet werden, gilt es, für die religiöse Unterweisung des eigenen Nachwuchses und die Entwicklung von dessen Identität und Glaubenszugehörigkeit einen anderen Rahmen zu finden. Die Herausforderung besteht also darin, eine gesunde Balance zu finden zwischen Identitätswahrung einerseits und Öffnung und Austausch andererseits. Kinder und Jugendliche sind sehr im Gemeindeleben engagiert, organisieren oft eigenständig Jugend-Camps, und manche leisten nach erfolgtem Schulabschluss ein „Jahr des Dienstes“. Doch nach offizieller Statistik entscheiden sich längst nicht alle Kinder aus Bahai-Familien später dafür, der Gemeinde beizutreten. Hier werden Probleme sichtbar, die auch andere Religionsgemeinschaften beschäftigen.

Zu den wichtigsten Aktivitäten des Gemeindelebens gehören seit jeher und derzeit verstärkt Andachten. Diese finden in der Regel in privaten Räumlichkeiten statt. Ferner wurden in den vergangenen Jahren regelmäßig neue „Häuser der Andacht“ errichtet, Gebetsstätten, die in der Regel einer schlichten und transparenten Architektur folgen und allen Menschen für Gebet und Meditation offen stehen. Dies hilft, den schwierigen Spagat zwischen dem systematischen Ausführen und Befolgen von Plänen einerseits und dem Erleben echter Spiritualität andererseits zu bewerkstelligen.

Ein Feld, auf dem die Bahai weltweit besonders aktiv sind, ist der interreligiöse Dialog. In Deutschland sind sie im Abrahamischen Forum, am Runden Tisch sowie in zahlreichen Räten der Religionen und anderen lokalen Initiativen und Gremien vertreten. Baha’ullah lehrte, dass Judentum, Christentum, Islam, aber auch Buddhismus und Zoroastrismus göttlich gestiftete Religionen seien, die – den jeweiligen zeitlichen und räumlichen Bedingungen angepasst – gleiche Grundwahrheiten verkündeten. Aufgrund dieser Lehre, die inklusivistische und pluralistische Elemente enthält, finden Bahai schnell tatsächliche – oder vermeintliche – Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen. Unabhängig davon hat Baha’ullah wiederholt dazu aufgefordert, mit allen Religionsgemeinschaften in Frieden und Freundschaft zu verkehren. Gemeinsame Gebete mit Andersgläubigen sind für Bahai daher selbstverständlich. Oft reagieren sie erstaunt, wenn Begriffe wie „interreligiöses Gebet“ auf Vorbehalte stoßen oder ihre positive Sicht auf die Einheit der Religionen als allzu gutgläubig abgetan wird. Der Dialog wird praktiziert, eine vertiefte Sicht auf die theologischen Unterschiede und eine Abgrenzung gegenüber anderen Religionen, etwa auch eine differenzierte Betrachtung des eigenen Verhältnisses zum Islam, tritt dahinter in der Bedeutung zurück.

Im Iran waren die Bahai von Beginn an Verfolgungen ausgesetzt. Einem verbreiteten Vorurteil zum Trotz genossen sie auch unter dem Schah keine Freiheit, wenngleich das Ausmaß der Repressionen und die Häufigkeit von Übergriffen weit geringer waren als in der Islamischen Republik. Der Islam gilt im Iran als herrschende Religion, und das klassische islamische Recht kennt keine Religionsfreiheit im modernen Sinne. Judentum, Christentum und auch Zoroastrismus erhalten als Minderheiten weniger Rechte, sind aber geduldet. Der Anspruch der Bahai auf nach-islamische Offenbarung gilt indessen als Bedrohung für die theologische Legitimation des „Gottesstaats“. Der Vorwurf der Häresie und Apostasie wurde bereits ab Mitte des 20. Jahrhunderts um den der „Kollaboration mit ausländischen Mächten“ erweitert. Bahai genießen daher in der Islamischen Republik keinen Minderheitenschutz und ihnen werden grundlegende Bürgerrechte verwehrt. Der Zugang zu Universitäten und zu einer ganzen Reihe von Berufen ist ihnen versperrt. Regelmäßig kommt es zu Verhaftungen, Übergriffen, Enteignungen und Friedhofsschändungen.

Auch in anderen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit sind die Bahai bestenfalls geduldet, oft aber Opfer von Repression. Aktuell sind jemenitische Bahai unter den vom Iran unterstützten Houthi-Milizen der Verfolgung ausgesetzt. Im Jahr 2018 sind dort Todesurteile gegen einige Bahai ergangen. Die internationale Öffentlichkeit ist bestrebt, deren Vollstreckung zu verhindern. Gemeinden in anderen Ländern zu benennen, deren Schicksal bislang nicht öffentlich gemacht wurde, könnte diese weiter gefährden.

In Ägypten sorgte in den letzten Jahren des Mubarak-Regimes die Diskussion um Personalausweise für Aufsehen. Diese standen nur Muslimen, Christen und Juden zu, die Spalte Religionszugehörigkeit freizulassen war verboten. Das führte die Bahai in ein Dilemma: Die schiitische Praxis der Verhehlung oder gar Verleugnung des eigenen Glaubens in Zeiten der Gefahr (taqiyya) ist ihnen untersagt. Zwar sollen sie bei der Glaubensverkündigung mit größter Klugheit und Zurückhaltung vorgehen und sich nicht mutwillig in Gefahr bringen. Sie sind jedoch gehalten, nötigenfalls Verfolgung, schlimmstenfalls sogar den Tod auf sich zu nehmen.

Verfolgungen ertragen

Im Iran wurden seit der Islamischen Revolution über 200 Bahai hingerichtet. Baha’ullah hat dazu ermahnt, sich stets an die geltende Gesetzgebung des Landes zu halten und keine umstürzlerischen Aktivitäten zu betreiben oder zu unterstützen. Den Gläubigen ist darüber hinaus jede Form der religiös motivierten Gewaltanwendung (Dschihad und Ähnliches) absolut verboten. Darum ertragen sie die Verfolgungen ohne Gegenwehr.

Auch wenn nicht alle iranischen Bahai unmittelbar Opfer von Repressionen werden, nagt doch der Zustand der Rechtlosigkeit und der Perspektivlosigkeit an ihnen. Viele stehen vor der Frage, ob sie das Land verlassen sollen, um so zumindest ihren Kindern Chancen auf höhere Bildung und eine freie Berufswahl zu ermöglichen.

Eine große Anzahl von iranischstämmigen Bahai kam bereits in den 50er- und 60er-Jahren überwiegend zum Studium nach Deutschland. Mit der Revolution im Iran 1979 und der wenig später einsetzenden Verfolgung kamen dann noch einmal zahlreiche iranische Gläubige hinzu, was die Zusammensetzung der heute aus etwa 5500 Mitgliedern bestehenden Gemeinde nachhaltig beeinflusst hat.

Zugleich ist festzustellen, dass die deutschen Bahai iranischer Abstammung sich in aller Regel in die hiesige Gesellschaft eingefügt haben und in der zweiten und dritten Generation kaum mehr Bezug zu Sprache und Kultur der Vorfahren empfinden. Neben der Tatsache, dass es vielen iranischen Bahai nicht möglich war, etwa in den Ferien mit den Kindern in die alte Heimat zu fahren, spielt auch das Bewusstsein eine Rolle, einer Weltgemeinde anzugehören und nicht nur eine partikulare nationale oder ethnische Identität zu besitzen, die es zu bewahren gelte. Das Wort Baha’ullahs, wonach „nicht Lob verdient, wer nur sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt“, gehört zu den meistzitierten seiner Verkündigung.

In den letzten Jahren stieg die Anzahl von Konversionen neu nach Deutschland geflüchteter Iraner. Heute bilden sie einen Großteil der jährlich etwa 150 bis 200 Bahai-Konvertiten in Deutschland – obgleich sie sich, im Gegensatz zu neuen Gläubigen anderer Herkunft, einer Art Prüfverfahren unterziehen müssen. Neben Sicherheitsbedenken möchte man verhindern, dass sich jemand der Gemeinde allein deshalb anschließt, um nachträglich einen Asylgrund zu schaffen. Denn Abfall vom Islam gilt nach iranischem Gesetz als Kapitalverbrechen, und Konvertiten könnte bei einer Rückkehr in ihre Heimat die Todesstrafe drohen.

Es wird erst mit einigem zeitlichen Abstand zu beurteilen sein, ob die so gewonnenen neuen Mitglieder sich auch dauerhaft in die Gemeinde integrieren und wie sich dieser Umstand insbesondere auf kleine örtliche Gemeinden auswirkt. Diesbezüglich sehen sich die Bahai derzeit ähnlichen Herausforderungen gegenüber wie christliche Kirchengemeinden.

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