Widerstand gegen den NationalsozialismusFünfhundert gute Taten

Der Autor Thomas Seiterich erinnert an Pfadfinderinnen, die während der Nazi-Zeit hunderten Menschen zur Flucht verhalfen.

An einem Abend im Jahr 1940 betritt ein Mann die Straßburger Kirche Saint Jean, blickt sich um, kniet vor einer Marienfigur nieder und flüstert einer neben ihm knienden Pfadfinderin etwas zu: „Pierre“. Dieses Codewort wird sein Billett in die Freiheit sein, denn die junge Frau gehört zu einer Gruppe von insgesamt sechs Resistance-Kämpferinnen, die ihre pfadfinderischen Fähigkeiten nutzen, um Flüchtende auf geheimen Wegen über die Berge in den unbesetzten Teil Frankreichs zu führen. Es klingt wie der Plot eines spannenden Hollywood-Thrillers, aber diese sechs mutigen Frauen hat es wirklich gegeben. Von 1940 bis 1942 haben sie mit ihren riskanten Touren insgesamt etwa 500 Menschen das Leben gerettet. Ihnen hat der Historiker Thomas Seiterich mit seinem Reportage-Buch Letzte Wege in die Freiheit ein beeindruckendes Denkmal errichtet.

Im Frühsommer 1940 besetzt die Wehrmacht das Elsass. Die Nazis beginnen eine brutale Germanisierungspolitik, deportieren Tausende und zwangsrekrutieren 130000 „Volksdeutsche“. Schnell regt sich Widerstand in der Bevölkerung – gerade unter den Katholiken, die äußerst strenge Restriktionen ausgesetzt sind. Auch sechs Pfadfinderinnen der Gemeinde Saint Jean – Lucienne Welschinger, Lucie Welker, Emmy Weisheimer, die Schwestern Alice und Marie-Louise Daul sowie Marcelle Engelen – wollen sich aus Glaubensüberzeugung und Patriotismus den Nazis entgegenstellen.

Als der Pfarrer von Saint Jean, dessen Kirche schnell zum Anlaufpunkt für Flüchtende wird, die Frauen um Mithilfe bittet, sind sie deshalb sofort Feuer und Flamme. Die jungen Frauen schließen sich zu einer verschworenen Resistance-Gruppe zusammen und geben sich den Namen Pur-Sang – „Vollblut“ (ein ironischer Seitenhieb auf die Blut-und-Boden-Ideologie der Hitlerjugend). Dank ihrer pfadfinderischen Ausbildung können sie morsen, Karten lesen, mit dem Kompass hantieren, sich in der Natur orientieren und stellen somit die perfekten Fluchthelferinnen dar. Bis 1942 werden sie über speziell ausgekundschaftete Routen mehrre hundert Regimegegner, Jüdinnen und Juden, Kommunisten und Kriegsgefangene über die Grenze in die Freiheit führen. Dann werden sie von der Gestapo verhaftet und landen schließlich in der Hölle des „Erziehungslagers Schirmeck“, nur die Jüngste kann noch in den rettenden Süden fliehen. Ihre Leiterin Lucienne Welschinger wird sogar direkt vom „Blutrichter“ Roland Freisler zum Tode verurteilt, jedoch durch eine Intervention des Papstes vor der Vollstreckung gerettet. Allerdings wurde sie darüber nicht informiert, sondern musste bis zu ihrer Befreiung im Todestrakt bleiben. Auch in der Haft helfen den Gefangenen ihre pfadfinderischen Kenntnisse (wenn sie zum Beispiel von Zelle zu Zelle morsen) sowie ihr Glaube durch diese harte Zeit.

Sie alle überleben das Nazi-Regime und werden in der Nachkriegszeit mit diversen Orden geehrt, dann aber geraten ihre Heldinnentaten bald aus dem Blick – ein Schicksal, das sie mit zahlreichen Resistance-Frauen teilen. Um die couragierten Taten der Pur-Sang dem Vergessen zu entreißen, hat Thomas Seiterich zahlreiche Interviews mit zwei der Frauen geführt, bergeweise Dokumente sowie die Fluchtrouten gesichtet und all das zu einem äußerst informativen und packenden Buch verflochten. Letzte Wege in die Freiheit stellt jedoch nicht nur eine bewegende Erinnerung an die beeindruckenden Resistance-Pfadfinderinnen dar, sondern es ist auch ein Aufruf an alle Christinnen und Christen der Gegenwart, sich aus Glaubensüberzeugung Unrecht und Menschenfeindlichkeit jeglicher Couleur aktiv entgegenzustellen.

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