Die wechselvolle Geschichte von Sankt Clemens in BerlinAuferstehung einer Kirche

Im vermeintlich „gottlosen Berlin“ war die Sankt-Clemens-Pfarrei einmal ein Zeugnis gesellschaftlichen Aufbruchs. Zwischenzeitlich stand sie vor dem Aus. Doch heute, zwölf Jahre nach ihrer Wiedereröffnung, ist Sankt Clemens eine Gemeinde des Gebets im Zentrum der Hauptstadt, deren Kirchenraum rund um die Uhr geöffnet ist.

In Berlin gibt es eine katholische Kirche, deren Pfarrer immer aus dem Bistum Münster entsandt wird: Sankt Matthias im Stadtteil Schöneberg. Der westfälische Stifter dieser Kirche, Matthias Aulike, Beamter des preußischen Kulturministeriums, hatte das um 1860 so bestimmt. Einer der Geistlichen, die aufgrund dieser Regel nach Berlin versetzt wurden, war 1906 Clemens August von Galen. Der spätere Kardinal und „Löwe von Münster“, der unter anderem wegen seines mutigen Einsatzes gegen den Nationalsozialismus seliggesprochen wurde, kam als junger Priester nach Berlin.

Infolge der Industrialisierung der Städte im 19. Jahrhundert strömten zahlreiche Wandergesellen und Handwerker nach Berlin, um Arbeit und Brot zu finden. Das war ein armseliges Leben. Auch waren die aus ländlichen Gegenden stammenden Arbeiter in überfüllten Elendsquartieren menschenunwürdig untergebracht.

Katholiken unerwünscht

Katholiken hatten es besonders schwer. Es gab kein Recht auf freie Ausübung der Religion. Von Galen sollte sich der Wandergesellen seelsorglich annehmen, sie religiös und menschlich begleiten. Der sogenannte Kulturkampf und das staatliche Verbot des Jesuitenordens 1872 hatten die Lage der Katholiken als unerwünschte Minderheit in Berlin noch verschärft. Deshalb finden sich in der Hauptstadt bis heute so viele katholische Kirchen, die sich wie normale Häuser in die Straßenfassaden einfügen oder sich als Hinterhofkirchen verstecken.

In dieser trostlosen Situation übernahm der Seelsorger von Galen auch die Leitung des Kolping-Gesellenvereins für ganz Berlin. Er war von Haus aus sozial eingestellt. Seine Familie war für ihre großzügigen Stiftungen bekannt, und sein Großonkel, Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), war im 19. Jahrhundert als „Arbeiterbischof“ ein Wegbereiter der katholischen Sozialbewegung. Von Galen nahm das Anliegen von Adolph Kolping, den Wandergesellen wirtschaftlich zu helfen und sie religiös zu begleiten, als christlichen Lebensauftrag ernst.

Welcher sozial denkende Mensch unserer heutigen Zeit würde sich wohl mit dreißig Jahren sein Erbe auszahlen lassen und sich fortan auf sein regelmäßiges Gehalt beschränken, um in seinem Umfeld die Armut zu bekämpfen? Eben das versuchte von Galen. Bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in Berlin erwarb er ein Grundstück am Anhalter Bahnhof, von wo aus täglich die Menschen in die Hauptstadt strömten. Dort ließ er ein Kolping-Heim mit Wohnraum für bis zu 400 Menschen bauen und gründete die nach dem Stadtpatron von Wien benannte Clemens-Kirche. Schließlich setzte sich von Galen auch noch dafür ein, dass eine zweite Kaplansstelle eingerichtet wurde, die aus dem Familiensäckel finanziert wurde. Der von ihm gegründete Gebäudekomplex mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, die sich um die gut versteckte Hinterhofkirche herumgruppierten, entwickelte sich zu einer architektonisch und funktional vorbildlichen kleinen Stadt in der Großstadt. Unterstützt wurde die Seelsorge durch Ordensfrauen der Kongregation der Grauen Schwestern.

Beichten neben der Tanzbar

Die neoromanische Sankt-Clemens-Kirche wurde das in Stein gehauene Idealbild der katholischen Sozialbewegung in den Gründerjahren. Kunstgeschichtlich ist der 1911 geweihte Sakralbau ein Baudenkmal ersten Ranges. Das riesige Altarbild ist ein anrührend lebendiges Mosaik des schlesischen Madonnenmalers Paul Plontke (1884–1966), das den Guten Hirten zeigt. Weil die Gegend am Anhalter Bahnhof nicht nur ein Zentrum des Vergnügens mit Tanzbars und Varietés, sondern auch der Regierungsbezirk war, beteten hier neben den Arbeitern auch Mitglieder des Reichstags und von Behörden. Nuntius Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., beichtete regelmäßig bei Pfarrer von Galen.

Nachdem das kirchliche Verbot der Jesuiten 1917 aufgehoben worden war, übernahmen Mitglieder des Ordens die Betreuung der Sankt-Clemens-Kirche. Ab 1941 wurden sie erneut staatlich verfolgt, weil man einige von ihnen verdächtigte, der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis anzugehören. Die Patres wurden aus Deutschland ausgewiesen oder umgebracht. Die Geheime Staatspolizei nutzte Sankt Clemens als Möbellager. Im letzten Kriegsjahr 1945 brannte die gesamte Umgebung der Kirche ab. Sie selbst jedoch überstand die Katastrophe. Doch ihr Dach und die Orgel wurden bei Kämpfen um die Innenstadt zerstört. Erst ab 1949 konnte in Sankt Clemens wieder Eucharistie gefeiert werden. Bis 1973 wirkten wiederum Jesuiten dort als Seelsorger; im Anschluss zog die kroatische Mission ein.

Kulturen wandeln sich. Bei uns ist das auch daran zu bemerken, dass beispielsweise die anspruchsvolle europäische Musiktradition insgesamt nicht mehr so gepflegt wird. Der Kirchengesang hat zudem weitestgehend an Begeisterung verloren, die den Glauben tragende Kraft des Gemüts. Die Kirchen leeren sich. „Wenn die Götter sterben, nehmen sie ihre Lieder mit“, lautet ein Sprichwort. Der Glaube droht zu verdunsten. Die heutige gesellschaftliche Entwicklung ist durchaus vergleichbar mit den Problemen der Gründerzeit. Damals kam die Unterdrückung des Glaubens von außen. Heute wird der Glaube allerdings eher von innen bedrängt. Eine der größten Gefahren besteht in der Resignation, im Rückzug. Auch Sankt Clemens musste eine bittere Erfahrung mehr machen: 2007 wurde die Kirche in der Stresemannstraße aufgegeben. Die Erzdiözese Berlin veräußerte sie. Gekauft wurde das Gelände von einem Berliner Investor muslimischen Glaubens.

Doch im Gegensatz zu anderen Kirchen, die umgewidmet oder gar abgerissen werden, hat die Sankt-Clemens-Kirche eine Auferstehung erlebt. Ganz unerwartet – und sofort nach ihrem Verkauf. Ein Förderverein wollte die Kirche retten. Indische Ordensleute von der Gemeinschaft der Vinzentiner suchten in Deutschland einen Wirkungskreis und trafen auf den Verein. So mietete man die Kirche von ihrem Käufer zurück und übergab sie den Vinzentinern. Und die legten sofort los.

Sieben Christen fanden sich daraufhin zusammen: ein indischer und ein deutscher Priester, eine Rentnerin und eine Sekretärin, ein Archivar, ein Jurist und ein Lobbyist. Sankt Clemens wurde vom damaligen Berliner Erzbischof, Kardinal Georg Sterzinsky, wiedereröffnet. Seitdem gehen von dieser Pfarrgemeinde viele Impulse aus, ein Neubeginn. Dieses Mal sind es nicht deutsche Handwerker, die den Ausschlag geben, sondern Polen, Kroaten, Südamerikaner, Afrikaner, Koreaner; Einwanderer, die sich in Berlin zunächst fremd fühlen und mit Berlinern ihren Glauben leben wollen. Mit dieser „bunten Mischung“ und mit einem neuen Konzept begann im sogenannten gottlosen Berlin eine Kirche zu boomen.

Die 24-Stunden-Kirche

Sankt Clemens ist ein Zentrum der charismatischen Erneuerung, ein „Haus der ewigen Anbetung“. Es versteht sich als Ort der Gnade mitten in der Großstadt. Rund um die Uhr sind die Türen der Kirche geöffnet. In einer Metropole, in der sogar Sportstudios dazu übergehen, ihren Mitgliedern die Räume 24 Stunden lang offen zu halten, und man in der Öffentlichkeit ebenfalls rund um die Uhr seinen Hunger und Durst stillen kann, wäre es absurd, das Angebot für die seelische „Fitness“ geringer zu bewerten.

Drei Priester stehen den Menschen zu Gesprächen zur Verfügung. Man kann ganztägig beichten. An jedem Wochenende sind geistliche Übungen, Exerzitien, möglich. Dazu gibt es besondere Angebote wie Nachtvigil, Jugendprogramme, Familientage, Bibeltagungen, Barmherzigkeits-Feiern. Eine Freundin, die regelmäßig dort hinfährt, kehrt meistens erst nachts zurück.

Frühaufsteher treffen sich bereits um 8 Uhr morgens zum Stundengebet, zur Laudes. Täglich gibt es zwei Eucharistiefeiern, am Abend mit Musikprogramm. Nachmittags ist eine Barmherzigkeitsstunde, dann Rosenkranz in mehreren Sprachen, danach sind an Wochenenden regelmäßige Vorträge. Man betet und singt zusammen, kann sich bei einem Kaffee kennenlernen. Die Veranstaltungen der 24-Stunden-Kirche sind immer gut besucht. Sie ist jederzeit für jeden offen.

Die Menschen kommen aus verschiedensten Milieus. Manche besuchen mehrere religiöse Angebote, holen sich heraus, was sie brauchen oder was ihnen in ihrer Heimatgemeinde fehlt. Obwohl der Sakralbau schwer zu finden ist, weil er in einem alten Hinterhof untergebracht ist, knien dort mitten in der Nacht Menschen zur Anbetung. An Werktagen wird er durchschnittlich von 200 Besuchern täglich besucht, an Wochenenden sind es wesentlich mehr.

Der Geist eines Hauses

Die Pfarrgemeinde, das Exerzitienzentrum und die Anbetungskirche sind in Berlin eine Insel der Seligen. Sie will Signale aussenden und Mut mitten in den kirchlichen Erosionsprozessen machen: Gebt nicht auf! Hier lässt sich erleben, dass Menschen religiöse Orientierung suchen. Dass sie doch noch spüren, dass es etwas gibt, was von der Fixierung auf das materielle Dasein und der daraus folgenden Plünderung unseres Erdballs erlösen kann.

Obwohl die Pfarrgemeinde sich ausschließlich aus Spenden trägt, konnte sie ihre Räumlichkeiten in gut erreichbarer Nähe um ein Exerzitienhaus erweitern. Hier können Besucher sogar übernachten. Wer hätte das vor zwölf Jahren zu denken gewagt? Das hätte man als Utopie, als „Wunder“, auf das es sich nicht zu warten lohnt, bezeichnet. Aber der Glaube an die Zukunft des Reiches Gottes schuf neues Leben. Im Matthäusevangelium heißt es im Gleichnis Jesu vom königlichen Hochzeitsmahl: „Geht also an die Kreuzungen der Straßen und ladet alle, die ihr trefft, zur Hochzeit ein! Die Diener gingen auf die Straßen hinaus und holten alle zusammen, die sie trafen“ (22,9–10). Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie den Geist eines Hauses. Jedenfalls ist der kraftvolle Geist, der Sankt Clemens vor einem Jahrhundert entstehen ließ, immer noch spürbar.

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