Zur Gebetswoche für die Einheit der ChristenIst die Ökumene ein großes „Verlustgeschäft“?

Anfang des letzten Sommers reiste Papst Franziskus anlässlich der Siebzig-Jahr-Feiern des Weltkirchenrats nach Genf. Während des gemeinsamen Gebets sagte er: „Die Ökumene ist ein großes Verlustgeschäft.“ Dieser Satz entspricht nicht gerade den für ein Jubiläum gebräuchlichen Glückwünschen, und er hat in seiner Rätselhaftigkeit noch nicht das verdiente Echo gefunden. Die Gebetswoche für die Einheit der Christen ist eine Gelegenheit, diese Äußerung noch einmal aufzugreifen.

Franziskus I. geht vom Brief an die Galater aus, in dem das Leben „nach dem Fleisch“ dem Leben „nach dem Geist“ gegenübergestellt wird. Das „Leben nach dem Fleisch“ besteht für ihn darin, auf Eigeninteressen zu beharren, das Leben „nach dem Geist“ dagegen darin, Christus nachzufolgen, der nicht daran festhielt, Gott gleich zu sein, sondern „aus seiner göttlichen Gestalt herausgegangen“ ist. Dann fährt der Papst fort: „Die Ökumene ist ein großes Verlustgeschäft. Aber es handelt sich um einen dem Evangelium gemäßen Verlust entsprechend der von Jesus vorgezeichneten Spur: ‚Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten‘ (Lk 9,24). Das Eigene zu retten bedeutet, im Fleisch zu wandeln; sich in der Nachfolge Jesu zu verlieren bedeutet, im Geist zu wandeln.“

Wenn die Ökumene aber ein „Verlustgeschäft“ ist, sind dann all die vielen Bemühungen um die Einheit der Christen, die unzähligen Begegnungen, Gebete und theologischen Kommissionen etwa vergebens? Es stimmt ja: Auch weiterhin bestehen Missverständnisse und gegenseitige Ablehnung, die Spannungen zwischen den Kirchen nehmen hier und da sogar zu. Aber Papst Franziskus ist kein Pessimist. Er provoziert mitunter ein wenig, um die Dinge in Bewegung zu bringen. So will er auch einen neuen und anregenden Blick auf die Ökumene öffnen. Er klagt nicht nur über deren Versagen, begnügt sich nicht mit einem erneuten Appell.

Damit bewirkt er eine Verschiebung, die dazu zwingt, die gewohnten Wege zu verlassen und eine gewisse Bequemlichkeit aufzugeben. Nehmen wir die Worte Jesu „Lass alle eins sein!“ (Joh 17,21) nicht allzu leichtfertig in den Mund und zitieren wir die Ermahnungen des Paulus zur Einheit nicht oft etwas unbedacht? Der Papst stellt ein im Rahmen einer ökumenischen Feier unerwartetes Wort Jesu in den Vordergrund: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.“ Dieses Wort ist wie eine Lampe, die einen noch kaum erforschten Pfad beleuchtet.

Jesus lebte, was er lehrte. Er versuchte nicht zu retten, was er hatte und was er war. Er hielt nicht an seiner göttlichen Gestalt fest, er entäußerte sich. Er verlor sich selbst, er gab am Kreuz seinen Geist auf und gab damit Anteil am Leben Gottes. „Sich selbst in der Nachfolge Jesu zu verlieren“, ist seither ein Zeichen für die Gegenwart des Heiligen Geistes.

Die Gedanken von Papst Franziskus erinnern an Frère Roger, der 1969 – kurz zuvor war der erste katholische Bruder in die Communauté eingetreten – zu den Brüdern sagte: „Diese Einmütigkeit hat für jeden von uns ihren Preis. Zu beten: ‚Gott ist meine Zuflucht‘ (Ps 62,8) und mit Paulus zu sprechen: ‚Um Christi willen habe ich alles verloren‘ (Phil 3,7–8), ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist nicht leicht, bei Gott allein Zuflucht zu nehmen, die Besonderheiten zu verlieren, die uns voneinander trennen, um so zur Einmütigkeit zu gelangen.“

Der „dem Evangelium gemäße Verlust“ ist der Verlust unserer Besonderheiten. Um Christi willen alles zu verlieren, kann schmerzlich sein. Aber es ist das Feuer des Heiligen Geistes, das in uns brennt. Margaret O’Gara, eine bis zu ihrem Tod im Jahr 2012 im ökumenischen Dialog engagierte kanadische Theologin, sprach von „einer schmerzhaften Erfahrung, die einen spüren lässt, dass man die eigene Identität und den Besitz der Wahrheit verliert“. Das ist eine extreme Sprache, die zu Missverständnissen führen kann. Es handelt sich dabei aber keineswegs um Relativismus. Der „dem Evangelium gemäße Verlust“ bedeutet, Christus treu zu sein und ein Wagnis einzugehen in der Gewissheit, dass der Heilige Geist in die ganze Wahrheit führt.

Jeder dem Evangelium gemäße Verlust ist auch eine Quelle der Freude. Jesus sagte: „Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten.“ Wer sich selbst in der Nachfolge Christi verliert, findet sich in der Gemeinschaft mit seinen Brüdern und Schwestern wieder. Wir werden arm, um für diejenigen frei zu sein, die wir lieben. Wo wir nicht mehr auf der eigenen Identität beharren und einander anerkennen, ist Freude nahe. Und diese Freude ist Frucht des Heiligen Geistes, wie Paulus im Galaterbrief schreibt. Der entsprechende Abschnitt wurde beim gemeinsamen Gebet in Genf gelesen.

Eine nicht ganz seriöse Nachbemerkung zum Thema „Frucht“: Programmgemäß landete Papst Franziskus am 21. Juni 2018 um 10.10 Uhr in Genf, drei Minuten nach dem offiziellen Sommeranfang um 10.07 Uhr. Könnte die ökumenische Pilgerreise des Papstes nach Genf einen Übergang der Ökumene vom Frühling zum Sommer anstoßen? Folgt auf die Zeit des Erwachens und Blühens eine Zeit der Früchte und der Ernte?

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