Monumentale Lebensbeschreibung Benedikts XVI.Mit Cherubim und Seraphim

Seinen letzten Sommer in Freiheit, den Sommer 2004, wenige Monate vor seiner Wahl zum 264. Nachfolger Petri, verbrachte Joseph Ratzinger unter anderem damit, seinem erblindeten Bruder Georg ein Buch über die Geschichte des Papsttums vorzulesen. Autor des Buches war ein einstiger Kommilitone, der Kirchenhistoriker Georg Schwaiger. Nach der Lektüre schrieb ihm Ratzinger einen Brief: „Die historische Wahrheit erscheint mit all ihren Facetten, und das Negative wird nicht verschwiegen“, lobte er. „Gerade so erscheint auch, wie das Papsttum einem vom Herrn herkommenden Auftrag erfüllt, in dem durch menschliche Schwachheit hindurch doch eine andere Kraft wirksam wird.“

Heute, ein Pontifikat und einen spektakulären Rücktritt später, hat Benedikt XVI. selbst Probleme mit der Sehkraft und lässt sich vieles vorlesen. Papstgeschichte interessiert ihn aber natürlich noch immer. Angeblich hat er zumindest auch schon Teile eines neuen Buches zum Thema studiert: die mehr als tausend Seiten starke Bilanz seines eigenen Lebens, Peter Seewalds Biografie Benedikts XVI. Man kann sich vorstellen, dass ihm die Darstellung mindestens so gut gefallen hat wie damals Schwaigers Werk. Nur dass hier „alle Facetten“ zur Sprache kämen und „das Negative nicht verschwiegen“ würde, das würde wohl nicht einmal der Porträtierte selbst behaupten.

In seinem Vorwort schreibt Seewald, es sei ihm wichtig gewesen, „kritische Distanz zu wahren“. Aber nur eine Seite später berichtet er, der amtierende Papst Benedikt habe für seine Söhne die Ansagen ihrer Anrufbeantworter eingesprochen. Der Autor kennt seinen Protagonisten seit Jahrzehnten, aus unzähligen Begegnungen und Interviews, und er ist hingerissen von ihm. Die Stimmung auf dem Petersplatz, als sich der soeben gewählte Papst Benedikt erstmals der Welt zeigt, beschreibt Seewald so: „In diesen Minuten, in der Vibration aller Gefühle und Gedanken, während Trilliarden von Nervenzellen gleichzeitig flattern, entsteht aus den Schwingungen eines einheitlichen Rhythmus so etwas wie Harmonie, ein Gleichklang der Seelen. (… ) Als habe sich der Himmel geöffnet, und als stimmte ein himmlischer Chor aus Cherubim und Seraphim ein nie gehörtes Gloria an.“

Nicht Distanz, sondern Nähe ist das Programm dieses Buchs. Und warum auch nicht? Seewald kann sich auf einmaliges Material stützen, auf seine eigenen Gespräche mit Ratzinger. Die „historische Wahrheit mit all ihren Facetten“ über das Jahrhundertleben des Joseph Ratzinger werden eines Tages andere suchen. Hier aber erfährt man schon jetzt, wie Benedikt selbst auf dieses Leben blickt, wie er seinen Aufstieg interpretiert, wie er sich für Krisen rechtfertigt.

Die Missbrauchskrise? Beschreibt Seewald – mit Benedikt-Brille – als Produkt aus dem mangelnden Glauben mancher Priester, dem libertären Geist der Achtundsechziger und einer „Kampagne“ der Medien, ein Produkt freilich, das kein Papst so entschlossen aufgearbeitet habe wie Benedikt. Das Lehrschreiben „Dominus Iesus“ der Glaubenskongregation, das im Jahr 2000 einen mittelschweren Ökumene-Skandal auslöste? Wurde erstens böswillig missverstanden und stammte zweitens gar nicht aus der Feder Ratzingers (ebenso wie der Weltkatechismus übrigens, von dem Ratzinger „keine einzige Zeile selbst geschrieben“ habe). Und so weiter.

Das heißt nicht, dass Seewald bei aller Voreingenommenheit neben den Interviews nicht auch andere Quellen hätte, im Gegenteil: Der Fleiß, mit dem er weitere Zeitzeugen befragt, Akten gewälzt und sogar zeitgenössische Belletristik ausgewertet hat, ist beeindruckend. Besonders fasziniert der Blick hinter die Kulissen des Zweiten Vatikanums, bei dem neben der harmonisierenden Rückschau des betagten Emeritus auch Notizen des jungen Professors Ratzinger berücksichtigt werden. Die Kommentare zu den Textentwürfen der Konzilsväter, die der Kölner Kardinal Josef Frings bei seinem Berater Ratzinger erbat, vermitteln eine Ahnung von der Arbeitswut und der Kühnheit des Theologen von gerade mal Mitte dreißig: „Zu Caput X: Das ganze dogmatische Schema (Seite 23–69) ist höchst unbefriedigend. Es ist ohne innere Ordnung …“

Enthüllungen bietet diese Biografie nicht, von Kleingedrucktem für Liebhaber vielleicht abgesehen, etwa Benedikts unbescheidene Andeutung, vor der Ernennung seiner beiden Gegner Karl Lehmann und Walter Kasper zu Kardinälen habe er Johannes Paul II. gewissermaßen sein Einverständnis gegeben. Auch die jüngsten Antworten des Papstes, die aus dem Herbst 2018 stammen und als letztes Interview an den Schluss gestellt sind, enthalten neben einem detaillierten Nachdenken über den Status eines „Papst emeritus“ nur Bekräftigungen früherer Positionen. „Wenn man die Papstgeschichte studiert“, sagt Benedikt in einer dieser allerletzten Antworten, „wird man bald darauf kommen, dass die Kirche immer ein Netz mit guten und schlechten Fischen war“. Dass auch die Fischer, die das Netz halten, mit Schwächen zu kämpfen haben, ließ er dieses Mal unerwähnt. Lucas Wiegelmann

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Peter Seewald

Benedikt XVI.Ein Leben

Verlag Droemer, München 2020. 1184 S. 38,00 € (D)

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