Interview mit dem Kirchenhistoriker und Leibniz-Preisträger Thomas Kaufmann„In unserem Fach kann man neurotisch werden“

Der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann erhält im März den Leibniz-Preis für seine Forschungen zur Reformationszeit. Ein Gespräch über Exegese, evangelische Predigten und eine Fiktion namens Kircheneinheit.

In unserem Fach kann man neurotisch werden
© DFG / David Ausserhofer

Herr Professor Kaufmann, bei Kirchenhistorikern ist es üblich, dazuzusagen, welcher Konfession sie angehören. Warum? Inwiefern forschen Sie als Protestant anders als ein Katholik?

Thomas Kaufmann:Diese Unterscheidung war früher üblich, weil sich die Konfessionen lange nicht richtig einig waren hinsichtlich der entscheidenden Frage, was das überhaupt sein soll: Kirche. Was ist eigentlich der Gegenstand, mit dem sich die Kirchenhistoriker zu befassen haben? Im klassischen römisch-katholischen Verständnis von Kirche ist der Geschichte gewordene mystische Leib Christi im Grunde wesensmäßig mit der organisierten katholischen Kirche verbunden. Die Protestanten als sozusagen klassische Ketzerformation sind in dieser Hinsicht verständlicherweise zurückhaltender. Der protestantische Forscher neigt dazu, eher den Bewegungscharakter christlicher Gruppierungen zu betonen, die Vielfalt möglicher Aneignungsformen des Christentums. Er interessiert sich stärker für Formen des Christentums jenseits der juristisch verfassten Institution. Für mich zum Beispiel ist die sogenannte Ketzergeschichte integraler Bestandteil der Kirchen- und Christentumsgeschichte. Insgesamt gesehen wird auf die konfessionelle Unterscheidung heute allerdings weniger Wert gelegt als früher.

In Ihrer Arbeit argumentieren Sie, die Theologie habe von der Konfessionalisierung stark profitiert. Konkurrenz belebt das Geschäft, sie führt zur Schärfung des eigenen Standpunkts. In der Bibel steht aber doch: ut unum sint „… damit sie eins sind wie wir“ (Joh 17,11). Wäre das Christentum nicht viel besser dran, wenn es weiterhin nur eine einzige Kirche gäbe?

Kaufmann: Die Wahrnehmung der historischen Wirklichkeit geht in dieser Hinsicht unter Katholiken und Protestanten noch immer auseinander. Als Protestant würde ich immer sagen: Die eine Kirche, die Sie ansprechen, hat ja nie existiert. Im Anfang des Christentums war nicht die katholische Kirche. Sie ist lediglich ein Ergebnis eines mindestens dreihundertjährigen Transformationsprozesses, in welchem sie sich abgrenzte von konkurrierenden christlichen Strömungen, den Gnostikern, den Montanisten, den Marcioniten und anderen. Die Vielfalt ist die Ursituation des Christentums. Auch nach Etablierung der römischen Kirche gibt es stets eigenwillige, unabhängige Traditionen, die parallel weiterlaufen: In Antiochien, Alexandrien oder Jerusalem machte in den ersten fünf Jahrhunderten kaum jemand Anstalten, auf Rom zu hören, und später im Grunde auch nicht wirklich. Die Einheit des Christentums ist also eine historische Lieblingsfiktion römischer Katholiken. Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, wie man Dissens, Dissonanz und Vielfalt im Christentum am besten ausgestaltet. Wenn man offen für einander ist und plurale Interpretationen im Rahmen des christlich Möglichen erachtet, schließt die Vielfalt des Christentums eine gewisse Einheit keineswegs aus.

Derzeit geht der Trend überall eher in Richtung von noch mehr Spaltung. Die methodistische Kirche zerbricht gerade an der Frage, wie sie mit Homosexualität umgehen soll, bei den Anglikanern ist es ähnlich, auch die Katholiken erleben heftige Fliehkräfte. Woher kommt dieser Trend?

Kaufmann: Der entscheidende Grund ist schlicht, dass die veränderte Geschlechterdeutung der westlichen Gesellschaften die Kirchen erreicht hat. Neue gesellschaftliche Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten prallen auf traditionelle Rollenmuster und Geschlechterkonzepte. Das passiert in der Geschichte immer wieder. Der lutherische Protestantismus hat erst vor Kurzem dieselben Auseinandersetzungen erlebt, in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren. Ich selbst bin in meiner Jugend noch damit konfrontiert worden, dass Homosexuelle im Pfarramt verfolgt und hinausgeworfen wurden. Heute geriert sich meine Kirche so, als wäre sie schon immer tolerant gewesen – eine typische protestantische Selbsttäuschung! Auch die Einführung von Pastorinnen und die vollständige rechtliche und auch gehaltsmäßige Gleichbehandlung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche ist erst seit vielleicht 25 Jahren in unseren Breiten selbstverständlich, länger noch nicht. Dass es nach wie vor evangelische Kirchen gibt, die die Frauenordination ablehnen, ist ein Faktum.

In Rom geht die Angst um, die deutschen Katholiken könnten eine neue Reformation vom Zaun brechen mit ihrem Synodalen Weg. Sie erkennen ja eine Reformation, wenn Sie sie sehen: Ist da was dran?

Kaufmann: Ich glaube nicht. Eine Reformation setzt voraus, dass es eine Konzentration auf essenzielle Sinngehalte des Christentums gibt. Dass um zentrale Fragen des christlichen Glaubens selbst gerungen wird und nicht, wie im Moment, um Fragen der kirchlichen Organisationsgestalt. Die werden höchstens zu Schismen führen – die westliche Christentumstradition ist groß darin, immer neue Schismen hervorzubringen. Bei einer Reformation entsteht eine suggestive Bindungskraft durch zentrale Ideen und Gedanken, die eine regelrecht unwiderstehliche Plausibilität entfalten, die man also eigentlich gar nicht ablehnen kann, wenn man Christ sein will. Das sehe ich bei diesen Debatten derzeit nicht.

Aber Ihr Kriterium ließe sich doch zum Beispiel auf die Forderung nach dem Frauenpriestertum anwenden. Das können Christen unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung ja auch kaum ablehnen.

Kaufmann: Aber dann müsste man schon theologisch konsequent sein und sagen: „nicht Mann, nicht Weib“, wie das im Galaterbrief heißt (Gal 3,26–28). Dann müsste man sozusagen das Verständnis des Christseins nicht aus einem genderpolitischen Emanzipationsmotiv heraus entwickeln, sondern aus der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen, gleich welchen Geschlechts und gleich welcher Ethnie in Christus. Wenn dieser Gleichheitsgedanke zum Dreh- und Angelpunkt einer entsprechenden kirchenpolitischen Forderung würde, würde ich darin in der Tat Sprengkraft sehen. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ – wie sähe die Kirche aus, wenn man sie von Galater 3 her aufbauen würde? Das fände ich eine interessante Herausforderung, aber das wäre mehr als nur die Forderung der Frauenordination, die ich übrigens der Sache nach nicht nur für theologisch zwingend, sondern auch für außerordentlich wünschenswert halte. Von meiner Konfession kann ich eindeutig sagen, auch von den Erfahrungen in vielen Examina her, wo meist die Frauen die besten Leistungen zeigen: Wenn wir nicht die Öffnung des Pfarramtes für Frauen hätten, wären wir schon lange am Ende.

Sie haben einmal geschrieben, das Verhältnis der beiden christlichen Theologien zu den jeweiligen Kirchen sei „keineswegs störungsfrei“. Dass katholische Theologen Ärger mit Rom bekommen können, weiß man. Aber haben Sie auch etwas von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) oder von Ihrem Hannoveraner Bischof zu befürchten, wenn Sie beim Forschen mal zu kreativ werden?

Kaufmann: Im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum 2017 habe ich in der Tat erlebt, dass die EKD mir gegenüber bestimmte inhaltliche Erwartungen signalisiert hat, die zu befriedigen ich allerdings nicht willens war. Mein Hauptanliegen bestand darin, die Reformation als zutiefst fremde Welt verstehbar zu machen, und nicht darin, zu proklamieren, wie großartig Luther war und wie überlegen seine Reformation gegenüber anderen Erscheinungen des Christentums ist. Irgendwann ist mir dann deutlich gesagt worden, dass bis hinauf zur politischen Spitze, bis ins Kulturstaatsministerium im Kanzleramt, großes Unverständnis über meine gegenüber bestimmten Tendenzen des Reformationsjubiläums und der zum Teil gespenstischen Nähe von Kirche und Staat kritische Haltung herrschte. Dazu konnte ich nur sagen: Das finde ich interessant, es hat aber keine Auswirkung auf meine Arbeit.

Wie bedrohlich können solche Konflikte evangelischen Forschenden werden?

Kaufmann: Bis zu einem gewissen Grad schützt uns natürlich der Beamtenstatus. Wenn ich jetzt Dinge vertreten würde, die man im Landeskirchenamt Hannover als abgründige Ketzerei empfände, könnte ich sicher meine Professur verlieren, aber nicht ohne Weiteres meine Position als beamteter Professor. Bei uns an der Uni Göttingen gab es vor einigen Jahren den prominenten, sehr ungut verlaufenen Fall des Kollegen Gerd Lüdemann, der die Auferstehung Jesu geleugnet hat, in recht provokanter Manier. Die Landeskirche Hannover hat Lüdemann die Prüfungsberechtigung entzogen. Seine Professur für Neues Testament wurde in eine Professur für Geschichte und Literatur des frühen Christentums umgewandelt. Dort hatte er kaum noch Studenten, und seine Veranstaltungen hatten für das Theologiestudium praktisch keine Bedeutung mehr, aber er konnte immerhin weiterarbeiten. Die ganze Debatte hatte übrigens durchaus gespenstische Züge, weil sie letztlich auf ein „Ja oder nein?“ zur Auferstehung hinauslief, so als ob hier beweisbare Faktenbehauptungen gegeneinanderstünden. Dabei handelt es sich bei der Auferstehung bekanntlich um einen Glaubensgegenstand. Dass die Theologie einmal so herabsinken könnte, diese Frage als Faktendiskussion zu behandeln, war mir bis dahin nicht vorstellbar gewesen.

Was für Menschen studieren heute evangelische Theologie?

Kaufmann: Meine private Theorie ist, dass Studierendengenerationen kürzer sind als sonstige Generationen. Ich lehre seit mehr als zwanzig Jahren an der Universität, und etwa alle fünf Jahre habe ich den Eindruck, einen völlig neuen Menschenschlag vor mir zu haben. Wir hatten eine Zeit lang sehr fromme Studierende, die mit all den Zumutungen, die ein Theologiestudium mit sich bringt – alte Sprachen, historische Kritik rauf und runter, Distanzierung vom Gegenstand und so weiter –, durchaus ihre Schwierigkeiten hatten. Diese Studierenden haben das Studium sozusagen als notwendiges Übel auf dem Weg in ein kirchliches Amt betrachtet. Inzwischen haben wir eine andere Klientel: Mindestens die gute Hälfte oder sogar zwei Drittel sind Leute, die ein großes Interesse an der Wissenschaft haben, die viel beweglicher sind, was Auslandsaufenthalte angeht, und die Theologie studieren in der Erwartung einer Minderheitensituation. Sie wissen, dass das, was sie später tun werden, in unserer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich ist. Dass sie viel elementarer für das werden werben müssen, was Theologie tut und will.

Die historische Bibelkritik hat das Neue Testament gründlich dekonstruiert, so weit, dass manche Wissenschaftler die gesamte Jesusüberlieferung zum Mythos erklärt haben. Täuscht der Eindruck oder mehren sich neuerdings auch wieder Stimmen, denen zufolge manche biblischen Texte vielleicht doch verlässlicher sind als gedacht?

Kaufmann: Ich nehme unter den Neutestamentlern in der Tat einen gewissen neuen Konservativismus war. In meiner Studienzeit dominierte die Schule Rudolf Bultmanns, also die Entmythologisierung. Da war eine bisweilen radikale Gangart angesagt, die verstörend wirkte, gerade dadurch aber auch theologisch produktiv wurde. Heute dagegen gibt es durchaus ernst genommene Exegeten, die wieder mit der Möglichkeit rechnen, dass, sagen wir, der Erste Petrusbrief vom heiligen Petrus verfasst worden sei. Das ist für mich in der Sache nicht nachvollziehbar, aber es ist so. Ein Grund ist sicher die nordamerikanische Forschungsdiskussion, die häufig evangelikal-protestantisch geprägt ist und die stark nach Europa und Deutschland schwappt. Dort sind solche Stimmen ja nie verstummt. Ansonsten muss man einfach sehen, dass die Anlage des Forschungsgebietes Neues Testament natürlich von einer besonderen Schwierigkeit ist: ein so kleines Buch, 27 Schriften, knapp 700 Seiten griechischer Text, der weltweit seit Jahrhunderten von Tausenden von Forschern bearbeitet wird – da kann man schon neurotisch werden. In so einem Umfeld kann mitunter auch die Erinnerung an Thesen von vorgestern als Forschungsfortschritt proklamiert werden. Deshalb halte ich auch die ganze Konzeption des Faches Neues Testament für falsch. Es wäre sinnvoller, wenn wir die Professuren bis ins frühe vierte Jahrhundert auslegen würden, also Neues Testament und urchristliche Literaturgeschichte. Aber das ist fachpolitisch nicht ohne Weiteres durchsetzbar.

Gibt es gute evangelikale Kirchenhistoriker?

Kaufmann: Für mein Spezialgebiet, die Reformationsgeschichte, hätte ich Schwierigkeiten, einen zu nennen.

Beneiden Sie die Katholiken manchmal um ihren Zentralismus? Der schützt vor einem bestimmten Maß an Verrücktheiten. Wer zu fundamentalistisch wird, fliegt halt raus.

Kaufmann: Ich gestehe gern zu, dass die Verrücktheiten, die sich allein um das Zentrum in Rom gruppieren, einen immensen Unterhaltungswert haben. Aber die Vorstellung, dass im Katholizismus die Zentrale eine Richtung vorgäbe und dann alle wüssten, wo es langgeht, darf als durch die Geschichte widerlegt gelten. Auch die römische Kirche hat mit Pluralität zu kämpfen, und sie hat sich in bestimmten Phasen ihrer Geschichte als außerordentlich flexibel und elastisch erwiesen bei der Integration von Dissonanzen. Zum Beispiel war es eine gewaltige Leistung Gregors IX. und Innozenz’ III., Franziskus von Assisi in die Kirche eingemeindet zu haben – im Grunde einen Irren, einen ausgeflippten Charismatiker, den der Papst einfach als Heiligengestalt inkorporiert und domestiziert hat. Für diese Fähigkeit habe ich die römische Kirche immer bewundert. Schade, dass sie ihr im Moment abhandengekommen zu sein scheint. Die Verbissenheit, mit der man derzeit etwa am historisch kaum zu begründenden Zölibat festhält, lässt von der Elastizität, die der römischen Kirche früher eigen war, wenig erkennen.

Ihr Kollege Hubert Wolf, übrigens vor Ihnen der letzte Theologe, der den Leibniz-Preis erhalten hat, hat gerade in Rom angefangen, den Nachlass Pius XII. zu erforschen. Nicht enden wollende Regale voller unbekannter Akten – juckt es Sie bei der Vorstellung in den Fingern?

Kaufmann: Sagen wir so: Das Elektrisierende an dem Gedanken, als Erster oder zumindest als Erster seit Langem etwas finden zu können, diese Faszination vermittelt sich jedem, der an Archivmaterial arbeitet. Dass das in besonderer Weise am Ort der christlichen Kapitale in Rom der Fall ist, ist ja klar.

Kommt da was raus?

Kaufmann: Wenn Wolf im Archiv war, ist noch immer etwas herausgekommen. Dafür ist er einfach zu gut. Die Frage ist einfach: Was heißt, es kommt etwas heraus? Historische Forschung besteht nicht zwangsläufig aus spektakulären Einzelfunden. Die sind auch oft gar nicht das Entscheidende. Es geht erst einmal um die Erkenntnis von Zwischenräumen und Zusammenhängen, die man vorher, ohne den Archivzusammenhang, nicht so vollständig sehen konnte. Unabhängig davon wird Pius XII. sicher eine schillernde Figur bleiben. Er war ein Mann seiner Zeit, eingebunden in die Obsession einer lange tradierten christlichen Judenfeindschaft, die er, soweit mir die Dinge bekannt sind, nicht wirklich überwinden konnte, aber er war mit Sicherheit auch nicht schlimmer als viele seiner Zeitgenossen. Das gehört übrigens zu den Elementarerfahrungen der Zeitgeschichte: Gerade die Personen, die uns zeitlich relativ nahe sind, bleiben uns zugleich besonders fremd und schwer verständlich.

Sie bekommen jetzt 2,5 Millionen Euro Preisgeld für Ihre Forschung. Wissen Sie schon, was Sie damit machen?

Kaufmann: Neben meiner kritischen Edition der Schriften und Briefe Karlstadts möchte ich eine weitere große Edition starten: Ich möchte die Schriften eines Straßburger Reformators namens Wolfgang Capito herausgeben, der nicht sonderlich bekannt, aber außerordentlich interessant ist. Capito hatte eine internationale Streuwirkung nach England, Frankreich und Italien, über die wir noch zu wenig wissen. Außerdem war er wahrscheinlich der größte reformatorische Hebraist neben Konrad Pellikan und Sebastian Münster und hat in der Beziehung zum Judentum äußerst bemerkenswerte, für die Reformatoren des 16. Jahrhunderts sehr seltene Positionen vertreten. Dann habe ich ein großes Interesse an dem, was ich „Lutherus latinus“ nenne: Von Luther ist eine ganze Reihe deutscher Schriften von Zeitgenossen ins Lateinische übersetzt worden. Diese Übersetzungen haben in der Forschung bislang praktisch keine Rolle gespielt. Das hängt mit der nationalprotestantisch verengten Sicht auf den Reformator zusammen, dabei war Luther zu seiner Zeit eine eindeutig europäische Figur. Ich würde diese Übersetzungen gerne gemeinsam mit internationalen Kollegen analysieren, um sozusagen den vor-nationalen, noch nicht patriotisch domestizierten Luther zur Geltung zu bringen. Zum Beispiel sind Luthers höchst gehässige späte Judenschriften auch auf Latein verbreitet worden. Ich kenne niemanden, der sich damit schon einmal gründlich beschäftigt und mal geschaut hätte, wie genau dort die jeweiligen menschenverachtenden Formulierungen übersetzt wurden. Um Luther in seinem Wirkungspanorama zu verstehen, ist das ein wichtiger Punkt.

2017 ist im Rahmen der allgemeinen Luther-Feiern auch eine Revision der Lutherbibel erschienen. Warum müssen evangelische Christen eigentlich immer die Lutherbibel lesen, die so zeitgebunden ist? Man könnte doch auch sagen: Geschult an Luthers Prinzip, zurück zu den Quellen zu gehen, sollte jede Generation von evangelischen Christen immer neue, moderne Bibelübersetzungen erarbeiten.

Kaufmann: Ich störe mich außerordentlich am Begriff „Lutherbibel“. Und ich störe mich insbesondere an der Aufmachung der Jubiläumsausgabe von 2017 – nicht am Text! –, die ja nach dem Willen der Herausgeber so „lutherisch“ sein sollte wie keine Auflage zuvor. Zum Beispiel finde ich es einen völligen Irrweg, dass man dort eine Biographie Martin Luthers eingefügt hat. Was soll das denn? Da hat die EKD einem Luther-Kult gehuldigt, der weit über das hinausgeht, was vorangegangene Generationen beinharter Konfessionalisten für richtig hielten. Bis heute ist die sogenannte Lutherbibel von Mythen eingehüllt, die ich für schwierig halte und die man offen benennen muss. Entgegen Luthers Behauptung, beim Übersetzen dem Volk aufs Maul geschaut zu haben, ist sein Text zum Beispiel ein eindeutig hochsprachlicher, liturgischer Text gewesen. Zu meinen, man kommt mit dieser Übersetzung an die Sprache des gemeinen Mannes im 16. Jahrhundert heran, ist eine Fiktion. Ebenso problematisch ist die Überhöhung der Lutherbibel zum Volksbuch, vor allem im frühen 19. Jahrhundert. Wenn man Äußerungen Fichtes und vor allem Hegels liest, hat man den Eindruck, die Lutherbibel sei das wuchtige Dokument gewesen, mit dem sich die religiöse Seele der Deutschen geöffnet hat. Das ist insofern abwegig, als die Lutherbibel zwar ein ausgesprochen verbreitetes Buch war und sicher seit 1522 mehr volkssprachliche Bibelleser existierten als vorher. Aber beileibe nicht jeder Christenmensch konnte diese Bibel lesen oder hatte sie zur Verfügung. Es war nach wie vor ein ausgesprochen teures und ausgesprochen elitäres Buch. Die wirkliche Popularisierung der Bibel ist erst ein Phänomen im Pietismus, dreihundert Jahre nach der Reformation. Trotz alledem ist aber anzuerkennen, dass die Lutherbibel seither für viele evangelische Christen zu einem Lese- und Lebensbuch geworden ist, in dem ihre religiösen Wurzeln liegen. Als diejenige Übersetzung, die normalerweise im evangelischen Gottesdienst gebraucht wird, hat sie eine besondere Würde. Und sie gilt vielen, auch mir persönlich, in vielerlei Hinsicht als besonders kunstvoll. Viele biblische Bücher lesen sich besonders geschmeidig und eingängig, vor allem die Psalmen, aber auch die ersten beiden Bücher Mose oder die Propheten, Jesaja, Jeremia.

Privat lesen Sie also auch die Lutherübersetzung?

Kaufmann: Auf jeden Fall. Übrigens meist sogar noch die Ausgabe, die ich in den Siebzigerjahren zur Konfirmation geschenkt bekommen habe.

Sie wollten ursprünglich Pfarrer werden. Warum sind Sie es nicht?

Kaufmann: Wer Theologie studiert und die Möglichkeit des Pfarramtes nicht ernsthaft in Erwägung zieht, begeht eine Lebenslüge. Ich habe das immer als Plan B im Hinterkopf gehabt, auch nach der Promotion noch – man weiß ja, dass der Weg in die Wissenschaft alles andere als klar und kurz ist. Bei mir hat es dann doch recht frühzeitig geklappt, insofern hatte ich keinen Grund, Plan A zu revidieren. Aber je länger ich diesen Beruf als Theologe ausübe und je länger ich auch als Prediger tätig bin, desto besser kann ich mir vorstellen, dass ich vielleicht auch kein schlechter Pfarrer geworden wäre. Ich habe ja mittlerweile sogar ein kirchliches Amt inne. Es klingt ganz absurd, aber ich bin Abt von Bursfelde.

Hat man da einen Ring?

Kaufmann: Nein, aber ich habe ein Abtskreuz. Das trage ich natürlich nur, wenn ich meinen Talar anhabe.

Wie oft predigen Sie?

Kaufmann: Als Abt mindestens vier Mal im Jahr. Außerdem werde hin und wieder zu Kasualien herangezogen, Beerdigungen zum Beispiel. Ich predige auch manchmal im Universitätsgottesdienst.

Stimmt es, dass die Kirchen in Deutschland zu viel über Umweltschutz reden und zu wenig über Gott?

Kaufmann: Nein. Ich finde diese Alternative falsch. Die unterstellt ja, man könnte heutzutage über Gott sprechen, ohne über Umweltschutz zu sprechen. Wenn die Rede über Gott eine Rede sein soll, die uns angeht, dann muss sie auch die Dinge thematisieren, die uns umtreiben. Dazu gehören auch die Endlichkeit unserer Ressourcen und unser hypertropher Lebensstil. Jeder Satz über Gott, jede Rede über ihn, ist immer auch ein Satz, eine Rede über den Menschen. Beides ist untrennbar miteinander verschränkt. Das hängt mit dem Kernsatz des Christentums schlechthin zusammen: Gott ist in Christus Mensch geworden. Die Trennung der göttlichen von der menschlichen Sphäre wäre gerade christlicherseits inkonsequent und künstlich.

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