Arvo PärtDer Komponist, der in die Stille führt

Arvo Pärt ist einer der beliebtesten zeitgenössischen Komponisten. Im November erhält er den Ratzinger-Preis, der sonst nur an Theologen verliehen wird.

Die radikale Ausweitung der musikalischen Mittel – dafür steht normalerweise der Begriff „Neue Musik“. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Komponisten, die Dur-Moll-Tonalität zu erweitern, um sich schließlich ganz von ihr zu lösen. Als Konsequenz machen sie sich auf die Suche nach neuen Stuktur- und Formprinzipien. Auch neue klangliche Mittel entstanden. Die Musiker mussten lernen, ihre Instrumente so zu präparieren und zu traktieren, dass ungeahnte Klänge und Geräusche entstanden, Sänger mussten sich daran gewöhnen, zu jaulen, zu schreien, zu krächzen oder zu brüllen. Bald wurden auch elektronische Mittel zur Erzeugung und Veränderung von Klängen eingesetzt. Viele Komponisten bezogen aufgenommene Geräusche aus der Natur oder der Industrie mit ein. Die Ausweitung und Steigerung, das Überschreiten von Grenzen, all das machte die Neue Musik tatsächlich „modern“.

In diesem Sinne ist der aus Estland stammende Arvo Pärt zwar ein zeitgenössischer Komponist, ein „moderner“ Komponist jedoch nicht. Trotzdem ist das, was er schafft, kein simples Revival alter Stile oder Techniken.

Pärt ist Teil einer Gegenbewegung, zu der man auch Komponisten wie Steve Reich oder Philip Glass zählen kann. Sie setzen auf Einfachheit und Konzentration. Nach Experimenten mit Zwölftontechnik und Collage in den Sechzigerjahren folgte eine lange Phase der Suche, in der Pärt sich unter anderem mit Gregorianik und Vokalpolyphonie auseinandersetzte. Schließlich fand er in den Siebzigerjahren zu einem sehr persönlichen Stil, den er „Tintinnabuli“ nannte – vom lateinischen tintinnabulum, Glocke. In der Grundform dieses Stils bildet ein einfacher, „glockenhaft“ tönender Dreiklang die Basis für einen ebenso einfachen, diatonischen Melodieverlauf.

An die Stelle einer radikalen Ausweitung der Mittel tritt bei Pärt ihre radikale Reduktion. Wie er selbst berichtet, ging dies auch mit einer religiösen Wende einher. Zusammen mit seiner Frau trat Pärt 1972 der orthodoxen Kirche bei. Im Jahr 1980 emigrierte die Familie aus der damaligen Sowjetunion nach Wien, ab 1981 lebte sie in Berlin. Seitdem sind zahlreiche Werke entstanden, die fast ausschließlich religiös inspiriert sind.

Dass der Orthodoxe so viel „westliche“ Kirchenmusik geschrieben hat, hängt sicher auch mit den Kompositionsaufträgen zusammen, die er im Laufe der Jahre erhielt. 1990 schrieb er für den 90. Katholikentag in Berlin die „Berliner Messe“. Für den Evensong in der Saint Mary’s Cathedral in Edinburgh komponierte er 2001 ein „Nunc dimittis“. Im gleichen Jahr entstand ein „Salve Regina“, das 2002 anlässlich der 1150-Jahr-Feier des Essener Doms zu Ehren der „Goldenen Madonna“ erstmals gesungen wurde. Am 17. Nobember 2017 bekommt Pärt nun den Preis der vatikanischen Stiftung „Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.“, den bisher nur Theologen erhalten haben.

Kritiker sprechen immer wieder despektierlich von Langeweile, Kitsch oder „Wellness“ in Zusammenhang mit Arvo Pärts Musik. Doch der Kreis seiner Anhänger ist groß. Der Este dürfte zu den am meisten gespielten zeitgenössischen Komponisten gehören. Anders als viele Werke der Neuen Musik gelten seine Kompositionen als zugänglich, sie sprechen die Zuhörer unmittelbar an. Dabei sind sie kaum expressiv. Vielleicht ist Pärts Musik deshalb so beliebt, weil sie Erholung vom Lärm des Alltags und von der emotionalen Überbeanspruchung und Reizüberflutung der Unterhaltungskultur ermöglicht. Sie ist – ganz besonders in den frühesten Werken des Tintinnabuli-Stils wie der „Missa syllabica“ von 1977 – nahezu statisch und strahlt gerade dadurch eine besondere Ruhe aus. So besitzen Pärts Werke eine Aura des Objektiven und der Welt Enthobenen. Sie führen in die Stille. Insofern sind sie „mystisch“. Und das ist offensichtlich etwas, das für viele Hörer mit ihrem sakralen Gehalt harmoniert.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Herder Korrespondenz-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Herder Korrespondenz-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.