Gedanken des großen Karl RahnerAdvent unseres Lebens

In seinem "großen Kirchenjahr" hat der Jesuit eine tiefe Deutung der Vorbereitungszeit auf Weihnachten unternommen.

Advent verlangt von uns zunächst, dass wir in die Zukunft blicken, Menschen der Erwartung und der Hoffnung sind. Wir versinken ja nur zu schnell und zu leicht in dem, was wir die Gegenwart nennen, obwohl sie doch nur der Übergang aus einer Vergangenheit ist, die uns entgleitet, und der Zukunft, die wir noch nicht besitzen. Wir sind nur zu leicht diejenigen, die sich Träume und ferne Hoffnungen verbieten, die noch stolz darauf sind, dass sie „nüchtern“ (wie manche sagen) „mit beiden Beinen“ der unmittelbar andrängenden Aufgabe allein ergeben sind, obwohl man doch, wenn man nicht in die Zukunft schaut, gar nicht weiß, welches der Sinn und das Ziel der gegenwärtigen Aufgabe ist.

Advent ruft uns auf, in die Zukunft zu schauen, etwas auch für übermorgen zu planen, zuversichtlich zu sein in der Überzeugung, dass wir, wenn der Plan für eine nähere Zukunft scheitern sollte, mit dem Mut zu einer näheren Zukunft gegen kurzsichtige Resignation doch gelebt und bewiesen haben, dass wir an die ewige Zukunft Gottes glauben. Im Advent sollten wir uns fragen, ob Geist und Herz in uns über das Gegenwärtige hinaus noch ein wenig Raum für Neues und Zukünftiges haben.

Betet nicht, wie Paulus sagt, schon jetzt der Geist Gottes in uns mit unaussprechlichen Seufzern? Haben wir nicht nach Paulus schon den Geist als das Angeld des ewigen Lebens empfangen? Gilt nicht für uns (Joh 5,45), dass wir alle Schüler Gottes selbst sind, dass die Salbung des Geistes, die wir von Gott empfangen haben, schon jetzt in uns ist und uns so niemand mehr zu belehren braucht (1 Joh 2,27), dass wir schon jetzt aus Gott geboren sind?

Die Gegenwart trägt, christlich gesehen und erfahren, die Zukunft schon in sich selbst. Und die ewige Zukunft Gottes ist schon die Kraft und die Macht mitten in der Gegenwart. Nur dürfen wir dies im Advent unseres eigenen Lebens nicht vergessen. Wir dürfen am Baum unseres Lebens nicht einfach nur entzückt sein über die Blüten und Blätter, die vorläufig noch die Frucht der Ewigkeit, die an diesem Baume reift, verdecken. Freilich: Nur wer schweigen und beten kann, nur wer geduldig ist und die unheimliche Stille, in der Gott wohnt und die uns oft überfällt, nicht immer mit dem Lärm des Alltags und dem Geschrei auf den Rummelplätzen der Welt übertönt, kann leise schon etwas hören und diskret schon etwas verkosten von dem ewigen Leben, das als heilige Einwohnung Gottes in uns schon jetzt in dieser zerrinnenden Zeit inwendig gegeben ist.

Wer wachen und schweigen und warten kann, kann schon jetzt erfahren, dass der Advent geheimnisvoll das scheinbar Unerfahrbare Gottes erfahren lässt. Nur muss man eben adventlich gelernt haben, dass die Leere der Enttäuschung, des Misserfolges, der Verlassenheit, wenn man Ohren des Glaubens hat, erfüllt ist von der ewigen Zusage Gottes, in der er nicht dieses oder jenes, was uns gefiele, zusagt, sondern überschwänglich alles in einem: sich selbst, den ewigen, heiligen, liebenden und vergebenden Gott.

Karl Rahner (1904–1984, in: „Das große Kirchenjahr“, Herder, Freiburg)

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