Bücher digitalisieren?Wettstreit der „Speichermedien“

Die Welt wird immer digitaler. Auch Bibliotheken bringen ihre Schätze zunehmend ins Netz. Die Bedeutung von Lesesälen und Archiven als physische Orte nimmt ab – doch in mancher Hinsicht hat auch das gedruckte Buch Vorteile.

Die Digitalisierung und Online-Speicherung von Büchern und anderen Dokumenten wird vorangetrieben. Mit der neuen Technik stellen sich aber neue Fragen.
Die Digitalisierung und Online-Speicherung von Büchern und anderen Dokumenten wird vorangetrieben. Mit der neuen Technik stellen sich aber neue Fragen.© Foto: picture-alliance

Eine Ansammlung von Punkten übersät den weiß gestrichenen Einband des dicken Wälzers, den Urs Fischer aus dem Regal zieht. „Holzwürmer“, sagt der Chefbibliothekar der Spezialsammlungen und klopft mit dem Fingerknöchel darauf. Nüchtern ist die Atmosphäre im sechsten Untergeschoss der Zentralbibliothek in der Zürcher Altstadt. Weiße Wände, industriegrüner Betonboden und Neonlicht, bewegliche Archivgestelle mit Hebelrädern. Es riecht nach altem Papier. „Wir sind hier unter dem Grundwasserspiegel“, bemerkt Fischer. Die Klimatisierung sowie die Gebäudeabdichtungen verhindern zwar das Eindringen von Feuchtigkeit; doch dass dies so bleibt, ist eine Herausforderung.

Tief im Untergrund lagert ein wertvoller Schatz: die Bibliothek des ehemaligen Klosters Rheinau, einer früheren Benediktinerabtei auf einer Rheininsel. Von außen wirken die Bände alle gleich: brauner Ledereinband, schlichte Beschriftung. Doch die Inhalte sind vielfältig: Da gibt es Messbücher, das „Breviarium Benedictinum congregationis Bursfeldensis“ – ein Stundenbuch aus dem 15. Jahrhundert – und den „Malleus haereticorum“ von 1580, ein Werk über die Ketzerverfolgung. Unter den Themen sind eine Völkerkunde des 17. Jahrhunderts, eine Schweizer Naturgeschichte, Biologie, Physik, Mathematik und Astronomie, aber auch eine protestantische Kampfschrift gegen den Katholizismus, „Synodus Sanctorum Helveticorum“ (1656). Der Bestand der Bibliothek Rheinau kam 1863 nach Zürich, nachdem das Kloster im Zuge der Säkularisierung aufgehoben worden war. Zehn vierspännige Pferdewagen sollen für den Transport der rund 13000 Bücher nötig gewesen sein. Ein wichtiger Bestand, der nach und nach digitalisiert und auf der Internetplattform „e-rara.ch“ zugänglich gemacht wird.

Lesesäle braucht es nach wie vor. Doch sie werden nicht mehr so genutzt wie auf dem Foto aus den siebziger Jahren.
Lesesäle braucht es nach wie vor. Doch sie werden nicht mehr so genutzt wie auf dem Foto aus den siebziger Jahren.© Foto: picture-alliance

Das gemeinsame Projekt Schweizer Bibliotheken startete 2008. Damals entschied man, dass jedes der beteiligten Häuser selbst digitalisieren sollte. In der entsprechenden Abteilung der Zentralbibliothek Zürich steht ein ganzer Gerätepark an Scannern bereit: etwa für großformatige, lose Blätter, die während des Scannens per Luftzug an die Unterlage gesaugt werden. Die „Cobra“ für das Einlesen gebundener Bücher ist so konstruiert, dass Bücher nur bis zu 110 Grad aufgeschlagen werden müssen; ideal für sehr alte Werke, die man nicht mehr vollständig öffnen kann, ohne sie zu strapazieren oder gar zu schädigen.

Das Digitalisierungszentrum hat in den vergangenen fünf Jahren 5,5 Millionen Seiten gescannt. Sofern konservatorisch kein Schaden droht, lohne sich diese Arbeit allemal, so Chefbibliothekar Fischer: Denn jeder Forscher, der künftig das Buch bloß digital erforscht, schont das reale Exemplar. In seinem Büro klickt sich Fischer durch den Online-Bibliothekskatalog. Mithilfe von „e-rara.ch“ lassen sich die im Untergrund gelagerten Bücher weltweit online als PDF betrachten. Rund 15000 Titel sind schon im Netz greifbar, darunter knapp die Hälfte der Rheinauer Sammlung. Laut Fischer bieten die Scans sogar noch mehr Vorteile als das physische Buch vor Ort. Mit der Zoomfunktion kann man die Dateien vergrößern und Details zum Vorschein bringen. Mit dem Digitalisieren werden viele Schätze, darunter wertvolle Bücher aus der sogenannten Wiegezeit des Buchdrucks, erstmals einem breiten Publikum zugänglich. Denn einfach so ausleihen kann man die wertvollen Werke nicht.

Nur wenige hundert Meter von der Zentralbibliothek entfernt lässt sich etwas beobachten, was in einem gewissen Sinn in eine andere Richtung läuft. Am Rand des mittelalterlichen Stadtkerns von Zürich liegt das Provinzialat der Jesuiten. Seit 2018 gibt es hier eine neue öffentliche Bibliothek. Vor einigen Jahren stellte sich dort – wie einst bei der Rheinauer Bibliothek nach der Klosteraufhebung – die Frage, ob ihr Bestand künftig in die Zentralbibliothek integriert werden solle. Eine neue Lösung wurde nötig, da die Sammlung sprunghaft Zuwachs erhielt: Nach dem Ende der Jesuitenzeitschrift „Orientierung“ vor zehn Jahren ging die umfangreiche Buchsammlung der Redaktion an die Jesuitenbibliothek – was das Platzangebot im Provinzialat sprengte. „Wir haben erwogen, die Bücher an die Zentralbibliothek abzugeben, und uns dann bewusst dagegen entschieden“, sagt Jesuiten-Provinzial Christian Rutishauser. Denn man habe weiterhin bei Neuanschaffungen mitreden wollen, um das eigenständige Profil der Sammlung zu erhalten: neben Büchern über jesuitenspezifische Themen etwa auch solche über Religion und Gesellschaft, Philosophie und interreligiöses Gespräch, Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft.

In der neuen Bibliothek gibt es acht ruhige Arbeitsplätze zum Lesen und Lernen, mit Zugriff auf die nicht ausleihbaren Werke wie etwa Lexika. Laut Rutishauser sind bislang knapp achtzig Prozent der rund 100000 Bände der Bibliothek online erfasst. „Die allermeisten der Besucher wissen schon, welche Bücher sie wollen, wenn sie das Haus betreten.“

Die Haltbarkeit von Büchern ist länger, als man denkt.
Die Haltbarkeit von Büchern ist länger, als man denkt.© Foto: KNA-Bild

Der große Vorteil der digitalen Medien ist sicher ihre rasche Zugänglichkeit über das Internet. Doch wie sieht es mit der Langzeitspeicherung von Texten aus, die dauerhaft bestehen bleiben sollen? Auf den zweiten Blick sind die Probleme größer, als die leichte Handhabung elektronischer Daten vermuten lässt. Spätestens wenn Dateiformate im Lauf der Jahrzehnte abgelöst und schließlich nicht mehr unterstützt werden, wird ein Umkopierprozess nötig. Gut möglich, dass in ein paar Jahren die derzeit gängigen Dateiformate TIFF, PDF und Archiv-jpg nicht mehr aktuell sind. „Es braucht Warnsysteme, die rechtzeitig melden, wenn Speicherformate an Gültigkeit verlieren“, sagt Chefbibliothekar Fischer. Demgegenüber ist Papier langlebig – selbst wenn Holzwürmer buchstäblich punktuell der Substanz zusetzen: Mit einer Lebensdauer von in der Regel mehr als tausend Jahren gehört es zu den haltbarsten Speichermedien überhaupt.

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