Kommt ein Wandel der kirchlichen Sexualmoral?Christ sein und die Sexualität (1)

Das Gebäude der katholischen Sexualmoral ist dringend renovierungsbedürftig. Das wurde auch beim jüngsten Studientag der deutschen Bischofskonferenz thematisiert. Ein nachdenklicher Blick eines Moraltheologen auf das, was war, was ist und was kommen sollte.

Zwischen dem Missbrauchsskandal, der gegenwärtig die katholische Kirche weltweit erschüttert, und der kirchlichen Sexualmoral besteht kein unmittelbarer innerer Zusammenhang. Tatsache und Umfang des sexuellen Missbrauchs minderjähriger und abhängiger Personen beiderlei Geschlechts durch Geistliche sind aber insofern ein empörendes Ärgernis, als sie die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Lehre massiv infrage stellen. Insofern ist es kein „Missbrauch des Missbrauchs“, diesen zum Anlass zu nehmen, um erneut eine weitere Entwicklung zentraler Aussagen der lehramtlichen Sexualmoral der katholischen Kirche zu erforschen.

Zunächst belegt die Tatsache des Missbrauchs, dass nicht wenige der amtlichen Vertreter der Kirche sich selbst nicht an die Vorgaben der von ihnen vertretenen und oftmals gegenüber den Gläubigen eingeforderten Verbote der Sexualmoral gehalten haben. Diese Missachtung sexualethischer Normen durch Vertreter der Kirche, denen ihre Opfer einen hohen Vertrauensvorschuss entgegengebracht haben, steht darüber hinaus in einem eklatanten Widerspruch zu wichtigen Grundaussagen der christlichen Ethik. Diese gebietet es gerade Personen, die im Auftrag der Kirche tätig sind, sich in besonderer Weise für den Schutz der Schwachen und Abhängigen einzusetzen und sich in ihrer pädagogischen Arbeit von dem Respekt vor der Würde, der Freiheit und der Selbstbestimmung der ihnen anvertrauten Menschen leiten zu lassen.

Die Plausibilitätslücke

Die Glaubwürdigkeitskrise, in die die Kirche durch das sexuelle Fehlverhalten vieler Kleriker geraten ist, ist nicht der eigentliche Grund dafür, warum zentrale Aussagen der kirchlichen Sexuallehre bei vielen Menschen heute auf Gleichgültigkeit oder offene Ablehnung stoßen. Die aktuelle Krise stellt aber einen dringlichen Anlass dar, über die Gründe nachzudenken, die eine Überprüfung zentraler Aussagen dieser Lehre geboten erscheinen lassen. Für den Plausibilitätsverlust, den die kirchliche Sexualmoral schon lange vor dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals erlitten hat, gibt es einen inneren Sachgrund: dass die normativen Forderungen keinen Rückhalt mehr haben in den Erkenntnissen verschiedener Humanwissenschaften über die Sinndimensionen menschlicher Sexualität. Darüber hinaus gelingt es dem Lehramt der Kirche nicht, auf einer normativ-sittlichen Ebene deutlich zu machen, warum sich die Einzelaussagen zur vorehelichen und gleichgeschlechtlichen Sexualität, zur künstlichen Empfängnisregelung sowie zur Sexualität nichtverheirateter Menschen als sinnvolle Entfaltung des Grundprinzips der geordneten Selbstliebe und der Nächstenliebe verstehen lassen.

Im Fall der Evolutionslehre hat die Kirche inzwischen einen Weg gefunden, die zentralen Aussagen des Schöpfungsglaubens so zu deuten, dass sie nicht im Widerspruch zu den gesicherten Erkenntnissen der Biologie über die Entstehung der Arten und das Auftreten des Menschen auf Erden stehen. Im Fall der menschlichen Sexualität ist ihr eine konstruktive Aneignung humanwissenschaftlicher Einsichten noch nicht gelungen.

Die Erbsünde des Augustinus

Das kirchliche Lehramt beansprucht bis heute, mit den Kernaussagen der traditionellen Sexuallehre die ihm anvertraute göttliche Offenbarung auf verbindliche Weise auszulegen. Papst Johannes Paul II. führte vor einer Versammlung von Moraltheologen in Rom einmal aus, bei der kirchlichen Sexuallehre handle es sich „nämlich nicht um eine vom Menschen erfundene Lehre: Sie ist vielmehr von der Schöpferhand Gottes in die Natur der menschlichen Person eingeschrieben und von ihm in der Offenbarung bekräftigt worden“ (Ansprache vom 12. November 1988). Dies ist eine steile Behauptung, die einer möglichen Kritik an einzelnen Aussagen dieser Lehre von vornherein den Boden entzieht. Durch ihre Konzentration auf den lehrhaften Aspekt der Offenbarung und ihre Übermittlung in satzhaft-normativen Einzelurteilen verrät diese Behauptung zudem ein theologisch fragwürdiges Offenbarungsverständnis, das in einer deutlichen Spannung zum Konzept der Selbstmitteilung Gottes und zur gegenwärtigen Offenbarungstheologie steht.

Vor allem aber hindert eine derartige Immunisierungsstrategie die Kirche daran, sich die Abhängigkeit ihrer Sexuallehre von historischen Fehlentwicklungen einzugestehen. Um den Geltungsverlust der kirchlichen Sexuallehre zu verstehen, genügt es nicht, ihren unzeitgemäßen Charakter und ihren unüberbrückbaren Abstand zum Lebensgefühl der Moderne zu beklagen. In einer herkunftsgeschichtlichen Perspektive ist es vielmehr erforderlich, die Gründe für diesen Bedeutungsverlust historisch zu rekonstruieren.

Einen nachhaltigen Einfluss, der die kirchliche Sexualmoral auf eine äußerst ambivalente Einstellung zur Sexualität festlegte, übte Augustinus (354–430) aus. Einerseits berichtete er in seinen „Bekenntnissen“ unbefangen über sein sexuelles Erleben als Jugendlicher und sein jahrelanges Zusammenleben mit einer Konkubine vor seiner Konversion. Dabei kannte er keinerlei Scheu davor, die körperlichen Begleitumstände des sexuellen Begehrens ungeschminkt zu benennen. Der Historiker Kurt Flasch hat ihm sogar das Verdienst bescheinigt, als erster Moderner zukunftsweisend die Sexualität literaturfähig gemacht zu haben.

Andererseits verdunkelte Augustinus für lange Zeit den christlichen Blick auf den Eros. Er empfand seine Sexualität nach seiner Bekehrung nicht mehr als die ungetrübte Quelle von Lebensbejahung und Lebenslust, als die er sie in seiner Jugendzeit wahrgenommen hatte. Er erlebte es vielmehr als eine tiefe Demütigung, dass sein Körper von einer Macht beherrscht wurde, die sich seinem Willen entgegenstellte. Diesen Kontrollverlust deutete er als eine Rebellion des Fleisches gegen die Vernunft, als eine schändliche Folge der Erbsünde, die ihn ständig an den Makel erinnerte, der seit der Sünde des ersten Menschenpaares seiner Deutung des peccatum originale, der Erbsünde, zufolge auf dem gesamten Menschengeschlecht liegt. Mit der Annahme, die Korruption der menschlichen Natur durch die Erbsünde werde auf dem Weg der fleischlichen Zeugung an die Nachkommen weitergegeben, entwarf Augustinus ein vergiftetes Bild der Sexualität. Dazu nahm er auch Ungereimtheiten und Widersprüche seines Denkens in Kauf. Denn wie können Eltern, die durch die Taufe vom Makel der Erbsünde reingewaschen sind, diesen im Zeugungsakt dennoch an ihre Nachkommen weitergeben?

Auch mit der Lehre von den sogenannten Ehegütern gelingt es Augustinus nicht, die pessimistische erbsündentheologische Sicht der Sexualität nachhaltig zu korrigieren. Die mit der Ehe verbundenen Güter der Nachkommenschaft, der Treue und des Sakraments können das Übel der sexuellen Lust nämlich nicht innerlich heilen und heiligen. Sie stellen nur äußere Ausgleichswerte dar, die ihren Gebrauch in der Ehe entschuldigen und von schwerer Schuld freistellen. Selbst diese eingeschränkte, auf den Raum der Ehe begrenzte Duldung der Sexualität bleibt an die Bedingung gebunden, dass die Absicht der Liebenden die Lust nicht als solche bejaht, sondern auf die Erreichung der schöpfungsgemäßen Eheziele gerichtet bleibt. Der Wille nimmt, so die befremdliche Annahme des Augustinus, das Übel der Lust für die einzigen Zwecke in Dienst, für den die Ehe durch den Schöpfer geschaffen ist: für die Zeugung von Nachkommen und für die Vermeidung der Unzucht. Nur solchermaßen gezügelt, kann die sexuelle Lust toleriert werden.

Die Freude der Liebe

Der naheliegende Einwand, diese theologiegeschichtlichen Zusammenhänge seien von der Forschung längst erkannt und als Einseitigkeiten korrigiert, geht im entscheidenden Punkt an der Sache vorbei. Denn in ihren lehramtlichen Einzelaussagen zur vor- und außerehelichen sowie zur gleichgeschlechtlichen Sexualität ist die negative Bewertung der sexuellen Lust und die Unfähigkeit, diese als eine Quelle menschlicher Daseinsfreude und Lebenslust positiv zu würdigen, nach wie vor wirksam. In seinen normativen Einzelurteilen über bestimmte sexuelle Handlungen ist das Lehramt der Kirche bis heute nicht aus dem Schatten des Augustinus herausgetreten, auch wenn das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Hinwendung zu einem personal-ganzheitlichen Eheverständnis einen grundlegenden theologischen Paradigmenwechsel vollzogen hat.

Auch die Theologie des Leibes, die Papst Johannes Paul II. als personalistische Vertiefung der amtlichen Sexuallehre der Kirche verstand, kann deren Ausweglosigkeit nicht überwinden. Zwar anerkennt diese kondensierte Zusammenschau einer personalistischen Anthropologie, dass der Mensch aufgrund seiner Leiblichkeit und ihrer spontanen körperlichen Ausdrucksgestalt ein sexuelles Wesen ist. Dies ist zweifellos ein bedeutsamer Fortschritt gegenüber der erbsündentheologischen Sichtweise des Augustinus. Doch bleibt auch in der Theologie des Leibes und der personalistischen Anthropologie, die jene als Unterfütterung der kirchlichen Sexuallehre entwirft, die Warnung vorherrschend, die Ehepartner sollten sich nicht als Objekte ihres sexuellen Verlangens missbrauchen.

Zwar gibt es die Gefahr einer selbstbezogenen Fixierung auf eigenen Lustgewinn auch innerhalb der Ehe. Doch verrät die Einseitigkeit, mit der Johannes Paul II. diese Warnungen regelmäßig vortrug, dass die Theologie des Leibes das sexuelle Begehren und den Triebcharakter des Eros nicht vorbehaltlos als einen positiven Ausdruck menschlicher Körperlichkeit und Lebenslust würdigt.

Einen Lichtblick inmitten dieser von Abwehr, Misstrauen und Zurückhaltung geprägten lehramtlichen Sicht der Sexualität stellt das nachsynodale Apostolische Schreiben von Papst Franziskus „Amoris laetitia“ („Die Freude der Liebe“) dar. Dieses bekennt sich bereits in seinem Titel zu der spielerischen Freude, die mit dem sexuellen Erleben verbunden ist. Zwar warnt auch Franziskus vor einer „giftigen Mentalität“ (Nr. 153) des Gebrauchens und Wegwerfens, die sexuelle Körper wie Gegenstände benutzt, die man verschmäht, sobald sie ihre Attraktivität verlieren. Doch anerkennt „Amoris laetitia“ wie kein lehramtliches Dokument zuvor die erotische Dimension der Liebe als eine selbstzweckliche Bereicherung und Ausdrucksform des gemeinsamen Lebens der Ehepartner, wobei es auch den triebhaft-verlangenden Charakter des sexuellen Begehrens als Quelle menschlicher Daseinsfreude positiv würdigt.

Dies alles kann ich als Moraltheologe, der sich mit seiner Arbeit in den Dienst einer Erneuerung der Kirche und einer glaubwürdigen Verkündigung des Evangeliums stellen möchte, nur mit Freude und Dankbarkeit würdigen. Aber es ist nur der Anfang; eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Welche inhaltlichen Revisionsarbeiten am Gebäude der kirchlichen Sexualmoral vorzunehmen sind, damit der erhoffte Frühling tatsächlich kommen kann, das soll im Sinn einer Richtungsanzeige probeweise erörtert werden. (Ein zweiter Teil folgt.)

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