Entwicklung von KindernDer schafft das schon

Ich kann das allein! In diesem Satz steckt viel Schönes. Doch wie fördern wir Eltern eigentlich die Selbstständigkeit unserer Kinder? Und müssen wir das überhaupt?

Der schafft das schon
Wie fördern wir Eltern eigentlich die Selbstständigkeit unserer Kinder?© Camilla Bandeira - Getty Images

Wo ist die Zeit nur hin? Sie werden ja so schnell groß. Bei solchen Gedanken ertappe ich mich inzwischen immer häufiger. Als mein Sohn noch ein Baby war, sehnte ich mich nach mehr Selbstständigkeit, nach mehr Aktivitäten abseits von Rasseln und Kuschelball. Doch kaum einen Wimpernschlag später – jedenfalls gefühlt – steht ein kleiner Mann vor mir, vier Jahre alt, ohne Windel, dafür miat starkem Willen und eigenem Kopf, voller Neugier, bereit die Welt zu entdecken. Immer häufiger werde ich zum Zaungast seines Alltags, beiseitegeschoben mit dem Satz „Ich kann das schon allein“. Anziehen, Zähne putzen, zur Toilette gehen, Milch einschenken, Tisch abräumen und im schlimmsten Fall auch mit Lego spielen. Für mein „weinendes Auge“ muss ich mich gar nicht schämen, immerhin ist diese Selbstständigkeit der erste Schritt zur Abnabelung von uns Eltern. Und die fällt Müttern und Väter bekanntlich schwerer als dem Nachwuchs. Vor allem emotional. Gleichzeitig überwiegt natürlich die Freude, ihm beim Großwerden zuzusehen. Denn mal ehrlich, gibt es etwas Schöneres als das Strahlen des eigenen Kindes, wenn es gerade etwas zum ersten Mal allein geschafft hat – egal ob erster Schritt oder erste Schleife am Schuh?
Die größte Herausforderung für uns Eltern besteht eigentlich darin, vornehme Zurückhaltung zu wahren. Wir sollten nicht immer eingreifen, nicht immer gleich helfen, sondern auch mal abwarten, vielleicht sogar im richtigen Moment wegschauen und geschehen lassen. Das bedeutet nicht, dass wir nun vollends abtauchen sollten. Wir Eltern dürfen unser Kind natürlich beim Lösen von Problemen begleiten und immer mal wieder unsere praktische Hilfe anbieten. Nur eben, ohne ihm zu oft die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu verwehren.

Ein menschliches Grundbedürfnis

Die Schweizer Pädagogin Rita Messmer hat ein Buch geschrieben namens Der kleine Homo sapiens kann’s (Beltz 2018). Ihre wichtigste These: „Jedes Kind will in der Welt bestehen und hat ein natürliches Grundbedürfnis nach Selbstständigkeit. Heutige Eltern kontrollieren und helfen viel zu viel und behindern damit die Unabhängigkeit.“ Mal abgesehen davon, dass sich Kritik an Helikoptereltern und Verweise auf die Erziehungsmethoden von Naturvölkern auf dem Ratgeber-Buchmarkt bestens verkaufen, hat sie damit durchaus recht. Am besten klappt es mit der Selbstständigkeit, wenn wir dem Kind Freiraum und Vertrauensvorschuss geben. Natürlich dauert es viel länger, wenn sich ein Vierjähriger selbst anzieht und dabei immer wieder Pausen mit Spielzeugautos und Feuerwehr einlegt.
Natürlich geht auch mal was daneben oder kaputt, wenn ein Kind die Milch selbst einschenkt oder den Tisch deckt. Dann heißt es eben aufwischen und dazu ermutigen, es noch einmal zu probieren. Diese positive Begleitung ist deshalb die zweite wichtige Aufgabe von uns Eltern auf dem Weg zur kindlichen Selbstständigkeit. Wir sollten nicht mit Lob sparen, wenn unser Nachwuchs die erste Runde mit dem Fahrrad gedreht hat, alleine aufs Klo geht oder die Schnürsenkel endlich sitzen. Und dabei muss nicht alles perfekt sein, auch Teilerfolge gilt es zu feiern. Natürlich müssen wir Eltern nicht „nur“ darauf warten, dass unsere Kinder etwas selbst machen wollen, sondern können sie auch aktiv einbinden und Impulse geben – ohne Druck und ohne Gedanken an eine mögliche Förderung. Zum Beispiel können Kinder beim Kochen helfen, den Tisch decken, die Spülmaschine ausräumen. In der Regel stößt die Möglichkeit, ähnliche Aufgaben zu erledigen wie die Großen, auf viel Gegenliebe – jedenfalls im Kindergartenalter. Je mehr wir uns der Pubertät nähern, desto verhaltener fallen Begeisterungsstürme über Aufgaben im Haushalt aus. Gleichzeitig sollten wir auch nicht zu enttäuscht sein, wenn ein Vierjähriger am Abend lieber weiterspielt, statt den Tisch zu decken. Auch Selbstständigkeit braucht ihre Momente. Und wo wir gerade beim Spiel sind, auch dabei wird viel in Sachen Selbstständigkeit und Selbstwertgefühl gelernt. „Wir Erwachsenen greifen viel zu oft ins kindliche Spiel ein und geben viel zu viel vor. Das geschieht oft aus dem Wunsch heraus, sich mit dem Kind zu beschäftigen“, sagt Autorin Rita Messmer. Dabei seien gerade Freiräume wichtig, um die Kreativität auszuleben, um Talente zu erproben, Konflikte auszuhandeln oder Probleme zu lösen. Trotz aller Plädoyers für mehr Freiheit müssen wir Eltern aber nicht zwangsläufig zu dauerhaften Randfiguren werden. Wir dürfen auch mal mit gutem Gewissen mitspielen oder unseren Kindern alltägliche Dinge abnehmen.
Ein Beispiel: Am Morgen bleibt oft schlicht nicht die Zeit für Selbstständigkeit, gerade bei kleinen Kindern. Alle Familienmitglieder müssen pünktlich am Schreibtisch, im Klassenzimmer oder Morgenkreis sitzen, die elterlichen Gedanken kreisen längst um To-do-Listen und Meetings. Beim Anziehen zu helfen oder die Spülmaschine selbst einzuräumen, ist also völlig in Ordnung. „Wenn es morgens schnell gehen muss oder die Kinder abends müde sind, dürfen Eltern ohne schlechtes Gewissen eingreifen. Das macht Kinder nicht unselbstständiger“, bestätigt auch Annette zu Solms, Familienberaterin bei der Fröbel Bildung und Erziehung gGmbH in der Region Hamburg/Schleswig-Holstein. Es sollten genug Zeit und Muße da sein, um neue Dinge auszuprobieren. So kann man die Schleife getrost so lange am Nachmittag üben, bis sie auch am Morgen reibungslos gelingt. Und nicht zu vergessen: Die elterliche Unterstützung hat auch schöne Seiten. Es kann ein liebgewonnenes Ritual sein, sich von Mama auf ihrem Schoß anziehen zu lassen oder abends von Papa hochgetragen zu werden. Dann geht es mehr um Nähe als um fehlende Selbstständigkeit.

Wir dürfen helfen

„Kinder können sehr genau zwischen den Situationen unterscheiden, deshalb ist solche Unterstützung völlig in Ordnung. Vor allem dann, wenn man weiß, dass das Kind sich sonst bereits alleine anziehen kann“, sagt zu Solms. Und es gibt noch einen Grund, warum wir Eltern uns eigentlich in Sachen Selbstständigkeit entspannen können: die Kita.

Selbstständigkeit in der Kita

In einer guten Kindertagesstätte bleibt für all das Raum, was wir im vollgepackten Familienalltag viel zu selten schaffen oder unseren Kindern noch nicht zutrauen. Früh selbstständig essen, ohne Rücksicht auf Verluste und Bodenbeläge, anziehen ohne Zeitdruck, windelfrei sein, auch wenn mal etwas danebengeht, oder ganz viele kleine Aufgaben übernehmen. Einen großen Anteil daran haben nicht nur die Fachkräfte und pädagogische Konzepte, die bewusst Selbstständigkeit stärken und kindliche Mitbestimmung zulassen, sondern auch die anderen Kinder. „Die anderen, manchmal auch größeren Kinder sind oft die besten Vorbilder und größte Motivation, es auch mal selbst zu probieren“, sagt Annette zu Solms.
Mein Sohn kann sich zum Beispiel in Rekordzeit ohne Hilfe anziehen, wenn die Aussicht besteht, mit der ganzen Kita-Gruppe vor die Tür zu gehen. Auch als es darum ging, windelfrei zu werden oder den Schlafschnuller abzugeben, war die Krippe für uns maßgeblicher Treiber und Motivator. Für mich waren das immer Überraschungsmomente voller Freude darüber, was in dieser Bildungsinstitution alles passiert und wie gut sie der kindlichen Entwicklung doch tut. Gleichzeitig erteilt die Kita natürlich uns Eltern keine Absolution. Auch wir sind gefragt, auch wir müssen lernen, loszulassen und unseren Kindern ruhig mehr zuzutrauen. Sie werden eben größer und selbstständiger, nabeln sich ab. Dabei sollten wir sie mit Zuversicht und Zuspruch begleiten und nicht zu stark klammern. In unserem Herzen und im Fotoalbum dürfen sie ja gerne immer unsere kleinen Babys bleiben.