ProtestantismusOffenheit für Selbstkritik

Dieser Band deckt eine für den deutschen Protestantismus ereignisreiche Zeit ab, die „Zeitspanne zwischen Mauerbau und Mauerfall“. An ihrem Anfang stand die politisch erzwungene Trennung zwischen den evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und denen in der DDR, sie ging mit der kirchlichen Wiedervereinigung nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit zu Ende. Es zeichnet den Band aus, dass er die Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten parallel behandelt und Unterschiede wie Gemeinsamkeiten in Leben und Zeugnis der Kirche herausarbeitet. Übergreifendes Thema sind die tiefgreifenden Veränderungen, die sich aus der kirchlichen Reaktion auf den umfassenden Prozess der Säkularisierung ergeben haben, der gerade auch in Deutschland in einer „westlichen“ und einer „östlichen“ Variante charakteristisch war.

Die als knappe, trotzdem recht instruktive Überblicke angelegten Kapitel gelten dem Verhältnis von Protestantismus und Politik und den gesellschaftlichen Herausforderungen, den kirchlichen Strukturen sowie den protestantischen Milieus und Gruppen. Aufschlussreich sind nicht zuletzt die Ausführungen zum Weg der Theologie (Reiner Anselm) oder zur Entwicklung der Diakonie (Norbert Friedrich), denen gegenüber der etwas flapsig geschriebene Text über die Kultur abfällt. Das Kapitel zu den christlich-jüdischen Beziehungen verdient besonderes Lob: Bis heute gelte es, die Erkenntnisse in den Gemeinden zu verankern und jeder Form eines Antijudaismus oder Antisemitismus eine klare Absage zu erteilen.

Bemerkenswert ist die erfreuliche Offenheit für Selbstkritik. So heißt es, die Behauptung, Menschen bräuchten Religion und seien ihr nur gewaltsam entfremdet worden, habe sich als falsch erwiesen, ebenso die Annahme, „der Protestantismus könne sich als gesellschaftliche Kraft mit religionsfremden Angeboten attraktiv positionieren“. Es wird unmissverständlich festgehalten, die westdeutsche Gesellschaft sei in dem Sinn säkularer geworden, dass sich Lebensformen und Selbstverständnisse unabhängig von kirchlichen Vorgaben und dem, was sich als Protestantismus identifizieren ließe, in dynamischer Weise entwickelt und damit auch davon entfernt hätten. Das ist das eigentliche Problem. Ulrich Ruh

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Siegfried Hermle und Harry Oelke (Hg.)

Kirchliche Zeitgeschichte_evangelischBand 4: Protestantismus im Umbruch (1962–1992)

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023. 276 S. 29,00 € (D)