Sturms Wahrnehmung und Schönborns Argument

Es gibt nur einen Weg, um festzustellen, was die spezifisch katholischen Faktoren für sexuellen Missbrauch sind: den Vergleich. Das ist keine Relativierung, sondern die Grundlage jeder empirischen Forschung.

Christoph Schönborn
© Cristian Gennari/Romano Siciliani /KNA

Der Übertritt des Speyerer Generalvikars Andreas Sturm zur altkatholischen Kirche hat für Aufsehen gesorgt. Bei seiner Entscheidung spielte auch der Missbrauchsskandal eine Rolle. In seinem soeben erschienenen Buch berichtet er, in der Vergangenheit immer wieder argumentiert zu haben, „dass es Missbrauch in der Kirche durch Priester und andere Mitarbeitende gebe, aber zu einem Prozentsatz, der deutlich niedriger sei als der in der Gesamtgesellschaft“. Als dann jedoch 2018 die von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragte MHG-Studie erschien, habe sich seine Wahrnehmung verändert: „In diesem Augenblick stürzte mein Kartenhaus von Gewissheiten, Ausflüchten und Relativierungen zusammen. Meine Kirche war nicht besser als der Durchschnitt, sondern war um ein Vielfaches schlimmer.“

Dieser Eindruck, den Sturm schildert, dürfte weit verbreitet sein. Er trifft aber nicht zu. Harald Dreßing, Co-Autor der MHG-Studie, schrieb 2019 in dieser Zeitschrift: „Betrachtet man nur die Beschuldigungen, die auch zu einer in der Personalakte dokumentierten Strafanzeige führten, und vergleicht diese mit der Quote entsprechender Strafanzeigen in der männlichen Allgemeinbevölkerung, so zeigt sich, dass katholische Priester etwa ebenso häufig wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern angezeigt werden wie männliche Personen in der Allgemeinbevölkerung“ (HK, September 2019, 24–27, 26).

Ähnlich äußerte sich Thomas Großbölting, Co-Autor der vom Bistum Münster in Auftrag gegebenen Untersuchung, die Mitte Juni veröffentlicht wurde (vgl. dieses Heft, 40). Im Interview mit der Zeitschrift „Cicero“ sagte er, im Kommunionunterricht sei es für Kinder keineswegs gefährlicher als im Sportverein oder in der Musikschule: „Die gesellschaftliche Wahrnehmung ist in dieser Hinsicht verzerrt“.

Die verzerrte gesellschaftliche Wahrnehmung, die auch der Speyerer Ex-Generalvikar teilt, dürfte ein klassischer Medieneffekt sein: Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs ist disproportional auf die katholische Kirche konzentriert. Das hat sicher damit zu tun, dass die Abscheulichkeit des fraglichen Verbrechens in so starkem Kontrast zum moralischen Anspruch der Institution und ihrer Vertreter steht. Dass hat aber auch damit zu tun, dass sich andere Institutionen weiter wegducken. Zuletzt trägt aber auch das Vorgehen der Kirche selbst maßgeblich zu der Verzerrung bei: Die Bistümer veröffentlichen sukzessive mehr als zwei Dutzend Missbrauchsstudien im Halbjahresabstand. Das Bistum Würzburg plant gar zwei Untersuchungen: eine historische Studie und ein Strafrechtsgutachten.

Obwohl Priester schlechtestenfalls genauso häufig zu Tätern werden wie andere Männer, wird viel über katholische Spezifika des Missbrauchs geredet. Dabei gibt es außer der allgemeinen Kriminalstatistik kaum Vergleichsmöglichkeiten. Großbölting: „Es fehlt an Studien zur Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Wir müssen mehr wissen, was im Bereich des Sports passiert, wie in anderen religiösen Gemeinschaften oder im Bildungsbereich die Lage ist. Wir wissen auch wenig aus der empirisch basierten Forschung über sexuellen Missbrauch in familiären Zusammenhängen.“

Trotz des erkannten Mangels an Empirie macht sich auch Großbölting Gedanken über katholische Besonderheiten und führt dafür eigentümliche Unterscheidungen ein: Zölibat und katholische Sexualmoral seien an sich keine „Ursachen“ für sexuellen Missbrauch, sagt er im Interview, sie seien sehr wohl aber „Ermöglichungsbedingungen, die als Faktoren relevant sind“. Auch bei der „sakralen Überhöhung des Priesters“ gebe es „zwar keinen ursächlichen, aber einen sehr dezidierten Zusammenhang“ mit dem Missbrauch.

Man fragt sich: Was genau ist unter einem nicht-ursächlichen, aber „dezidierten“ Zusammenhang zu verstehen? Worin besteht der Unterschied zwischen „Ursache“ und „Faktor“? Natürlich hat jede Institution ihre je eigenen Bedingungen, unter denen es zu sexualisierter Gewalt kommt. Die Münsteraner Studie ist dafür gelobt worden, das anschaulich herausgearbeitet zu haben.

Aber wenn man darüber mehr erfahren will, wenn man vielleicht sogar herausfinden möchte, ob bei Änderung dieser Bedingungen eine Verringerung der Fallzahlen zu erwarten ist – dann braucht es wissenschaftliche Untersuchungen die anders vorgehen, als die bisher projektierten deskriptiven Studien – seien sie nun juristischer, soziologischer oder historischer Machart. Wer Ursachen, Faktoren und Zusammenhänge verstehen will, der muss vergleichen. Das ist keine Relativierung, sondern das Grundprinzip empirischer Forschung.

Nur auf dieser Grundlage ließe sich jedenfalls die Kritik des Wiener Erzbischofs Kardinal Christoph Schönborn am deutschen Synodalen Weg überzeugend erwidern, der im Interview mit der Zeitschrift „Communio“ jüngst sagte: „Was mich hier doch etwas befremdet, ist, dass man so schnell vom Missbrauchsthema zu Kirchenverfassungsfragen übergeht, denn die Evidenz dieses Konnex’ ist bei Weitem nicht reflektiert und erwiesen.“

leven@herder.de

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