Herr Kardinal, Ihre Ausbildung und Ihr Studium liegen über 40 Jahre zurück. Wenn Sie auf diese Zeit zurückschauen: War Ihr Glaube damals der gleiche wie heute?
Jean-Claude Hollerich: Nein, mein Glaube ist sehr gewachsen seit dem Noviziat. Ich möchte einmal ein Beispiel dafür geben, wie gut mein Novizenmeister damals war. Wir hatten einen theologischen Kurs über die Eucharistie zu besuchen. Ich fand den Kurs einfach nur schlecht. Ich hätte wohl selber schon einen besseren Kurs geben können zu jener Zeit. Ich bin wütend zum Novizenmeister gegangen und habe ihm das so gesagt. Das war eigentlich undenkbar, er war doch der Chef. Er kannte mich und wusste, dass ich immer Argumente hätte, um ihm zu widersprechen, und er wusste, dass ich recht hatte, was den Kurs betraf. Er sagte, du hast recht, du brauchst nicht mehr in diesen Kurs zu gehen. Der Bruder, der für die Krankenpflege zuständig ist, wird für zwei Wochen Ferien machen. Du wirst ihn ersetzen. Und weil ich die alten Patres pflegen musste, hatte ich mehr über die Eucharistie gelernt als in jedem Kurs. Das war sehr hart, aber es war eine gute Schule. Er hat mir recht gegeben – und etwas zu tun gegeben, was die Demut förderte und zugleich den Glauben wachsen ließ.
Sie haben in verschiedenen Stationen insgesamt 23 Jahre in Japan gelebt. Was bedeutet Japan für Sie?
Hollerich: Für mich ist Japan, wie schon öfter gesagt wurde, die andere Moderne. Zuerst denkt man, dass alles ähnlich ist, weil die Leute wie wir gekleidet sind und so weiter. Aber je länger man dort ist, je mehr sieht man, dass alles anders ist. Wir reflektieren jeweils auf eine andere Art und Weise. Es ist ein bisschen, wie wenn man durch ein Prisma schaut. Japan schaut anders auf die Welt.
Und in Ihrem täglichen Leben als Bischof und Kardinal ist dieser Erfahrungsschatz heute präsent?
Hollerich: Ich glaube schon. Ich bin ein Bischof, der aus Japan kommt, und ich glaube, viele in Luxemburg haben das noch nicht ganz verstanden. Als ich zurückkam, war ich verändert. Ich bin nicht einfach nur in mein Land zurückgekehrt. Ich denke, dass diese Erfahrungen mir einen anderen Denk- und Beurteilungshorizont geschenkt haben, der natürlich nicht der einzig mögliche ist.
Sind Sie also selbst schon etwas japanisch geworden?
Hollerich: Vielleicht kann man das so sagen. Ich habe den Unterschied jedenfalls schon sehr stark wahrgenommen. In Japan habe ich ein anderes Denken kennengelernt. Die Japaner denken nicht wie in der europäischen Logik der Gegensätze. Wir sagen: Es ist schwarz, also ist es nicht weiß. Die Japaner sagen: Es ist weiß, aber vielleicht ist es auch schwarz. Man kann Gegensätze miteinander verbinden in Japan, ohne den Standpunkt zu ändern.
Was verbindet man in Japan mit dem Katholizismus?
Hollerich: Tatsächlich auch eine gewisse Moderne.
Was halten die Japaner denn für das Moderne am Katholizismus?
Hollerich: Zum Beispiel, dass eine Ehe auf Liebe gegründet sein sollte. Wir haben sehr viele Hochzeiten in unserer Uni-Kapelle gehabt. In meinen Uni-Kursen hatte ich viele junge Männer und Frauen, die heiraten wollten, so habe ich fast jedes Wochenende ein oder zwei Hochzeiten zu feiern gehabt. Wir hatten die Erlaubnis in Japan, auch Nichtkatholiken in der Kirche trauen zu dürfen. Und das war für viele dort attraktiv, und so kamen viele zu uns.
Was lehrt uns Ihre persönliche Erfahrung darüber, wie wir heute das Evangelium vermitteln müssen?
Hollerich: Wir müssen lernen, dass das Evangelium immer wieder übersetzt werden muss, in heutige eigene Erfahrungen. Daraus müssen neue Erzählungen werden. Die wissenschaftliche Exegese hat uns gezeigt, dass das, was man das Wort Gottes nennt, von einer Gemeinschaft vorbereitet wurde, die bestimmte Erzählmuster dafür verwendete. Dieser Gedanke kann uns helfen, die Bedeutung des Glaubens heute zu verstehen. Ich bin kein Prophet und kann daher nicht sagen, wie wir es genau tun sollten. Aber gleichzeitig sehe ich eben die Grenzen unseres bisherigen Systems, das Schwierigkeiten hat, den Glauben neu zu formulieren. Im Mittelalter konnten die meisten Gläubigen nicht lesen, dennoch wurde der Glaube weitergegeben. Wenn man sich die Abtei Echternach und ihre Evangeliare ansieht, lernt man zu verstehen, wie die Weitergabe des Glaubens über das geschriebene Wort hinausgeht.
In welchem grundsätzlichen Bezug steht die Erfahrung des Lebens zum christlichen Glauben?
Hollerich: Wir müssen begreifen, dass Leben und Glauben eins sind. Wenn ich bete, bete ich wie in den Übungen des Ignatius vorgegeben: Ich stelle mir eine Szene aus dem Evangelium vor, in der ich selbst dabei bin. Davon profitiere ich spirituell, um es in einer traditionellen Sprache auszudrücken. Und beim Beten geht es nicht nur um das Wiederholen von Formeln, sondern darum, sich in eine solche Situation hineinzuversetzen.
Gibt es in Ihrer Biografie einen Bruch, gerade mit Blick auf Ihr Priestersein, an dem Sie gemerkt haben, dass wir in einer neuen Zeit sind?
Hollerich: Ja, solche Brüche habe ich sogar öfters erlebt. Ich komme aus einem kleinen traditionsbewussten Dorf. Heute weiß ich: Die Welt von damals lässt sich nicht festhalten. Ich habe gelernt, umzudenken, ausgehend davon, dass ich die Wirklichkeit wahrnehme und auch akzeptiere. Ich war früher ein großer Verfechter des Zölibates für alle Priester, heute wünsche ich mir viri probati. Es ist ein tiefer Wunsch, das ist nicht nur so dahergesagt. Aber dennoch ist es ein schwieriger Weg für die Kirche, weil er als Bruch empfunden werden kann. Nach der Amazonassynode mag einer der Gründe dafür, dass der Papst keine viri probati erlaubt hat, gewesen sein, dass sie zu laut gefordert wurden und die Synode stark auf diese Frage reduziert wurde. Ich denke, wir müssen in diese Richtung gehen, sonst haben wir bald keine Priester mehr. Langfristig kann ich mir auch den Weg der Orthodoxie vorstellen, dass nur die Mönche zur Ehelosigkeit verpflichtet werden.
Können Sie sich Diakoninnen für die Kirche vorstellen?
Hollerich: Ich hätte nichts dagegen. Doch Reformen brauchen ein stabiles Fundament. Wenn der Papst jetzt einfach viri probati und Diakoninnen erlauben würde, wäre die Gefahr des Schismas groß. Es geht ja nicht nur um die deutsche Situation, wo vielleicht nur ein kleinerer Teil ausbrechen würde. In Afrika oder in Ländern wie Frankreich würden möglicherweise viele Bischöfe nicht mitmachen. Der Papst hat nichts gegen Konservative, wenn sie vom Leben lernen. Genauso hat er auch nichts gegen die Reformer, wenn sie die Gesamtkirche mit im Blick behalten. Und der Papst mag keine Lagerkämpfe in der Kirche. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die deutschen Bischöfe den Papst nicht verstehen. Der Papst ist nicht liberal, er ist radikal. Aus der Radikalität des Evangeliums kommt der Wandel.
Die Deutschen reden nur über Strukturen, heißt es. Aber wenn wir tatsächlich noch monarchische Strukturen haben, wie Sie sagen, muss man sie doch auch ändern, oder?
Hollerich: Ja, aber es muss in einer Art und Weise geschehen, wo es einen Konsens gibt. Wir müssen auf jeden Fall so viele Leute auf den Weg mitnehmen wie nur möglich. Und dann geht es nicht darum, dass Pastoralreferenten zu einem Klerus zweiter Klasse werden. Es darf nicht einen geweihten und einen nicht geweihten Klerus geben, sondern der Klerikalismus muss zerstört werden. Bei den Priestern, aber auch bei den Laien.
Aber wie geht das, die Leute mitnehmen? Manche wenden sich ab, andere sind empört.
Hollerich: Ich versuche als Bischof, nicht von den normalen Leuten abgeschnitten zu werden. Es passiert als Bischof schnell, dass man im Grunde nur noch einen kleinen Kreis von Menschen trifft, der einem eine Normalität vorgaukelt, die es nicht gibt. Ein Bischof benötigt unbedingt Kontakt zu Gläubigen und zu Nicht-Gläubigen aus unterschiedlichen sozialen Kreisen. Wenn man diese Außenwahrnehmung nicht mehr bekommt, gerät man schnell in diese Kirchenkriege hinein, in denen es nur zwei Lager gibt. Die deutsche Situation hat eine Dramatik in sich, die weder hilfreich noch notwendig ist.
Viele Bischöfe werden angeklagt, sie hätten in besonderer Weise sexuelle Gewalt und Missbrauch vertuscht. Wie beurteilen Sie deren Verhalten?
Hollerich: Im Großen und Ganzen gibt es nicht so viele Unterschiede zwischen den Bischöfen weltweit. Vielmehr gibt es ein strukturelles Versagen, alle haben in der Zeit so gehandelt, mehr oder weniger gleich, alle haben – grob gesagt – vertuscht. Eigentlich alle haben falsch reagiert, die ganze Kirche hat falsch reagiert. Sie haben das Ausmaß des Missbrauchs gar nicht begriffen oder begreifen wollen. Vor allem haben sie das Leiden der Betroffenen nicht gesehen. Oft haben sie die Fälle in Briefen oder vom Sekretär zugetragen bekommen – und dann verdrängt, verschwiegen oder verharmlost. Auch wenn das keine Entschuldigung ist, gab es natürlich auch ein allgemeines gesellschaftliches Wegschauen beim Thema sexuelle Gewalt, etwa in den Familien.
Die Missbrauchskrise war in Deutschland auch der Ausgangspunkt, über notwendige Veränderungen in der Kirche zu sprechen. Wie blicken Sie auf den Synodalen Weg?
Hollerich: Ich würde die Einstellung von Tomáš Halík teilen. Man kann nicht nur über Strukturreformen reden, auch die Spiritualität muss wieder wachsen. Wenn es nur um Reformen als Ergebnis eines Kampfes geht, kann sich schnell alles wieder umkehren. Es kommt dann nur auf den größeren Einfluss von der einen oder der anderen Gruppe an. Aus dem Teufelskreis kommen sie dann nicht heraus.
Nun ist die Kirche ja kein herrschaftsfreier Raum.
Hollerich:Es gibt ja im Deutschen dieses Unwort des Dienstamtes. Doch im Lateinischen heißt es: Ministerium, da ist das Wort Amt gar nicht dabei. Der Priester wird zum Dienen geweiht. Dieses Dienen kann auch ein Leitungsdienst sein. Es muss mir aber bewusst sein, dass das ein Dienst ist, den ich nicht bekommen habe, weil ich der Tollste, der größte Kopf bin und weiß, wo es langgeht. Nein, ich kann diesen Dienst des Leitens nur ausfüllen, wenn ich die Leute liebe und auf sie höre. Ich muss nicht mit allem einverstanden sein. Aber ich muss mich dem aussetzen. Der Leiter einer Gemeinde muss sich der Liebe Gottes und der Gemeinde aussetzen.
Wenn Sie an die Zukunft der Kirche denken, ordnen Sie den jeweiligen Bereichen bitte immer nur ein Wort zu. Als Erstes: zur Seelsorge?
Hollerich: Gnade.
Für die Theologie?
Hollerich: Erneuerung und Tiefe. Manchmal finde ich die neuen Theologien ein bisschen flach.
Politik?
Hollerich: Menschenrechte.
Leitung der Kirche?
Hollerich: Synodalität. Und: Nachfrage! Wir müssen mehr von den Menschen verlangen. Es ist ein Zeichen von Liebe, wenn wir etwas fordern. Als Nachfolger Christi müssen wir anspruchsvoll sein.
Aufeinander hören soll auch beim Synodalen Weg in Deutschland passieren?
Hollerich: Da gibt es viele schräge Töne, jedenfalls in der Presse. Das klingt alles nicht sehr harmonisch.
Mit Blick auf die Rolle der Frau in der Kirche haben Sie einmal gesagt, dass man über alles reden müsse …
Hollerich: Es ist eine der wichtigsten Fragen überhaupt in der Kirche. Wir können doch als Männer nicht sagen: Ihr dürft putzen, ihr dürft die Stühle aufstellen, ja ihr dürft sogar die Lesung vortragen! Und damit hat es sich! Das würde ich mir als Frau nicht bieten lassen. Dabei scheint mir die erste Frage nicht zu sein, ob Frauen Priester werden sollen oder nicht, sondern ob Frauen zunächst im Priestertum aller Getauften und Gefirmten des Volkes Gottes ihr volles Gewicht haben und sie die damit verbundene Autorität ausüben können.
Das hieße auch Predigt und Auslegung des Wortes Gottes in der Messe?
Hollerich: Ich könnte mir das vorstellen. Wir haben in Luxemburg die „Muttergottesoktave“. Eigentlich eine Doppeloktave, denn es sind zwei Wochen Wallfahrt zur Trösterin der Betrübten. Da haben wir jeden Nachmittag eine klassische Sakramentsandacht mit Predigt. Es war immer eine Ehre für Priester, wenn sie Oktavprediger wurden. Für die letzte Oktave habe ich dann eine Frau ernannt. Dabei haben wir das bestehende Kirchenrecht vollkommen eingehalten. In den Messen predigte sie nicht. Das sollte der Priester machen, der der Messe vorstand. In den Sakramentsandachten war sie die Predigerin. Es war eine Frau, die etwas zu sagen hatte. Ich konnte persönlich durch ihre Predigt im Glauben wachsen. Aus solchen Erfahrungen kann sich ein Bewusstseinswandel ergeben.
Haben Sie eine Erklärung, warum gerade die Frauenthematik jetzt so ein Spaltungspotenzial hat, auch in anderen Religionen?
Hollerich: Ich habe einen guten Freund, einen Griechen, der mit einer thailändischen Frau verheiratet ist. Er hat viel über den Buddhismus in Thailand geschrieben und auch über die Frage der Frauenordination im Buddhismus. Das Oberhaupt der thailändischen Buddhisten ist ganz dagegen, einige Frauen gehen dann nach China und werden dort ordiniert. In Thailand wird deren Ordination aber nicht anerkannt. Wenn ich auf die Argumente schaue, die er benutzt, sind es Traditionsargumente. Die ähneln den Argumenten der katholischen Kirche sehr. Da kommt der Verdacht auf, dass es nur Traditionsargumente sind. Ich möchte das nicht beurteilen, sondern dem Heiligen Geist in der Zukunft vertrauen. Wenn das volle Laienamt der Frauen endlich sichtbar würde, wären wir schon ein Stück weiter.
Wie ist das mit dem Kommunionempfang bei gemischt konfessionellen Partnern?
Hollerich: Ich habe in Tokio jedem, der in der Messe zur Kommunion kam, die Kommunion gegeben. Ich habe niemandem die Kommunion verweigert. Ich nehme an, dass ein Protestant, wenn er mit zur Kommunion kommt, weiß, was Katholiken darunter verstehen, zumindest so viel, wie es auch die anderen Katholiken in der Messe tun. Ich könnte aber nicht mit einem evangelischen Geistlichen konzelebrieren. Das könnte ich innerlich nicht mitvollziehen. Ich habe den Protestantismus in Tokio sehr gut kennen und auch schätzen gelernt. Wir haben viel gemeinsam gemacht, zum Beispiel Kanzeltausch einmal im Jahr. Ich war einmal bei einem Abendmahl dabei und habe zugeschaut. Ich war danach entsetzt, als der Rest vom Wein ausgeschüttet wurde und der Rest vom eucharistischen Brot in den Mülleimer geworfen wurde. Das hat mich zutiefst erschüttert, das kann ich als Katholik nicht, denn ich glaube an die Realpräsenz.
Es gibt konservative Denker, die sagen: Der Katholizismus ist Teil eines großen, auch seltsamen Geheimnisses. Eine gewisse Fremdheit sei deshalb notwendig.
Hollerich: Sicher, gemeint ist das Geheimnis der Gottheit im Unterschied zum Menschen, das Geheimnis, dass Gott sich den Menschen zuwendet in der Person Jesu Christi. Aber bestimmte Riten und menschliche Gewohnheiten sind eben nicht das Geheimnis. Das Geheimnis ist Jesus Christus selbst, seine Zuwendung zu den Menschen, die in den Sakramenten geschieht. Ob ich das auf Lateinisch oder Japanisch sage, gehört nicht zum Geheimnis dazu.
Welchen Wert hat die lateinische Messe?
Hollerich: Ich mag die lateinische Messe, ich finde den Text sehr schön, besonders den Ersten Kanon. Wenn ich die Messe in meiner Hauskapelle feiere, nehme ich manchmal ein lateinisches Hochgebet. Ich würde das nicht in einer Gemeinde machen. Ich weiß, dass die Leute dort kein Latein verstehen und damit nichts anfangen können. Aber ich bin angefragt worden, in Antwerpen einen lateinischen Gottesdienst zu halten, im jetzigen Ritus. Das werde ich auch tun, aber ich würde nicht im alten Ritus zelebrieren. Als Kardinal müsste ich die Cappa magna tragen, da würde ich bestimmt stürzen, weil ich es nicht gewohnt bin, mit so einer Schleppe zu gehen. Und vor allem würde ich mich zu Tode schämen. Was würde Christus denn sagen? Stellst du dir so meine Nachfolge vor? In Purpur gehüllt dahinzugleiten? Ich habe gesagt, wer mich liebt, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach, und nicht: Nimm deinen Purpurschweif. Ich hätte den Eindruck, dass ich Christus verrate. Das heißt nicht, dass andere Leute es vielleicht nicht in einem guten Sinn tun können. Aber ich kann das nicht.
Der Blick des Christen geht oft zurück, weil die Offenbarung der Evangelien als etwas Vergangenes erscheint. Das Konservative scheint deswegen naheliegend.
Hollerich: In unserer Sprache und Vorstellung liegt die Vergangenheit hinter uns und die Zukunft vor uns. Im alten Ägypten war das genau andersherum. Die Vergangenheit wurde als das vor uns Liegende gesehen, weil wir sie ja kennen und sehen. Die Zukunft hingegen lag nach ägyptischer Vorstellung hinter uns, weil wir sie nicht kennen. Die katholische Kirche, so scheint mir, ist noch immer ägyptisch angehaucht. Doch das funktioniert nicht mehr. Gott öffnet die Zukunft. Die Offenbarung ist ein Erinnern im Jetzt, um ins Morgen zu gehen. Wir lesen die Geschichten der Vergangenheit einzig und allein, um in die Zukunft zu gehen, nicht um in der Vergangenheit zu bleiben. Der Papst spricht immer vom Jetzt. Träume sind nicht die reale Welt. Gott wirkt immer nur in der Realität. Ich muss in der Realität meiner Zeit leben, wenn ich den Willen Gottes erfahren möchte.
Nun gibt es aber immer katholische Sehnsuchtsorte in der Vergangenheit, wie etwa das Leben der frühen Christen oder der Katholizismus des Mittelalters, die sehr wirkmächtig sind.
Hollerich: Das ist aber nicht historisch, sondern Träumerei. Wenn wir von der großen Tradition der Kirche sprechen, wird zu oft eine bestimmte Epoche verklärt, und zwar so, wie sie nie gewesen ist. Die Messe war früher viel schöner, sagen manche. Doch welche Form meinen sie? Meist wird eine Vergangenheit imaginiert und zu einer Tradition stilisiert. Daran ist die ägyptische Zivilisation letztlich gescheitert. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu verändern.
Die Konservativen sagen dann, die Liberalisierung sei das Übel.
Hollerich: Es ist auch nicht alles gut, nicht jede Veränderung ist ein Gewinn. Aber man muss in seiner Zeit leben und die Unterscheidung der Geister pflegen. Es gibt eben auch viel Gutes. Wenn ich das Gute annehme und kritisch bleibe, ist das der Weg der Kirche.
Findet die Kirche so den Weg in die Zukunft?
Hollerich: Es wird viele Wege geben, um den Weg des Evangeliums zu gehen. Es wäre falsch, zunächst über Strategien zu diskutieren. Mein Bild für die Kirche ist das Volk Gottes, das unterwegs ist. Im Noviziat war ich einmal in einem kleinen Dorf in Frankreich, es gab dort außerhalb des Dorfes Einsiedeleien. Auf einem kleinen Pfad war ich unterwegs zu einer solchen Einsiedelei. Der Mond schien sehr schwach und meine Taschenlampe funktionierte nicht mehr. Ich hatte Angst. Dann habe ich gemerkt, dass ich zwar den Weg nicht mehr sehe, nur noch den nächsten Schritt. So bin ich zu dem Haus gekommen. Vielleicht ist das die Art der Bewegung der Kirche für die nähere Zukunft. Wir kennen den ganzen Weg nicht. Der Hirte ist auch nicht derjenige, der den Weg immer kennt und weiß, wo es langgeht. Der Hirte muss mit den Schafen gehen, sie zusammenhalten. Manchmal werden auch die Schafe den Weg finden, und der Hirt hinkt hinterher, Schritt für Schritt. Mit Gottvertrauen kann man das machen, in eine neue Zeit hinein.