Lob der roten Linie

Bundeskanzler Olaf Scholz hat erklärt, dass seine Regierung keine roten Linien kenne. Das ist eine Entschlossenheitsrhetorik, die der Komplexität vieler Probleme nicht gerecht wird. Die von Kanzler und einigen Ministern verschmähte religiöse Eidesformel hingegen kann vor einer politischen Machbarkeitshybris schützen.

Es gibt schon ein paar Formulierungen der neuen Bundesregierung, die jenseits des Inhalts einen neuen Ton anschlagen. Vielleicht sogar mehr noch tonangebend wirken oder wirken sollen. Dazu gehört im Koalitionsvertrag die Wendung, man wolle „alle Hürden und Hemmnisse aus dem Weg räumen“, die – das ist der konkrete Kontext – dem Ausbau von erneuerbaren Energien im Wege stünden. Wirklich alle? Was ist gemeint? Die Grünen zumindest haben immer wieder auch im Namen des Naturschutzes Initiativen gegen Windparks unterstützt.

Bundeskanzler Olaf Scholz wiederum hatte erstmals im Interview mit der „Zeit“, später wiederholt in der „Bild am Sonntag“, erklärt, dass es für seine Regierung „keine roten Linien“ gebe. Wirklich? Keine roten Linien? Bezogen war das auf die Corona-Politik, aber in der Rhetorik scheint es der Ampel-Koalition zu gefallen, dies als Chiffre ihrer ganzen Regierungsarbeit zu betrachten, die immer wieder von einem Entfesselungsmantra getragen zu sein scheint. In Klammern ist dazu zu sagen, dass die SPD in den zurückliegenden 23 Jahren 19 Jahre lang an der Bundesregierung nicht unmaßgeblich beteiligt war. Insofern scheint die Autosuggestion eines strahlend-lupenreinen Neuanfangs doch etwas übertrieben.

Kein bequemes Lamentieren aus der Zuschauerrolle heraus

Doch viel erstaunlicher ist der selbstbewusste Gestus der unbedingten Tat. Dieser wird durch den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck unterfüttert. Er beklagt: „Insgesamt leben wir in einer Phase des nicht hinlänglich entschlossenen Regierens.“ Diese Klatsche ist doch verblüffend. Ist das wirklich so? Deutlich beklagt er sich also über die Vorgänger-Regierung (die ihn immerhin zum Staatsoberhaupt machte): „Wir dürfen zumindest den Anspruch haben, klarer und deutlicher geführt zu werden.“ Im Prinzip ist ihm zuzustimmen. Gauck verteidigt zu Recht politische Führung als notwendige Kategorie, denn die vermeintliche Schwarmintelligenz macht, wie manche bisweilen meinten, noch keine funktionierende Demokratie aus. Und allein die wissenschaftliche Expertise ersetzt noch keine gesetzgeberische Kraft und keine administrative Handlung.

Gauck konstatiert richtig, „die Politik darf sich nie wohlfühlen in einer Zuschauerrolle“, im Sinne von: „Wir sehen die Verantwortung, aber es kostet zu viel, sie wirklich zu ergreifen“. Aber bitte, wo hat die Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel im Konzert mit den Bundesländern in den zurückliegenden zwei Jahren zu wenig geführt, zu wenig Mut beweisen oder zu wenig entschlossen regiert? Wer will diese platten populistischen Schmähungen denn ernsthaft wiederholen? Kritik gehört dazu und ist wichtig. Aber meist wechselte sich doch die Klage „zu lasch“ und „zu streng“ im Wochenzyklus rituell ab.

Das gerade ist doch ein bequemes Lamentieren aus eben jener Zuschauerrolle heraus, in die sich hier bisweilen keineswegs nur Gauck, sondern auch Teile der beobachtenden Zunft und der Gesellschaft eingekuschelt haben. Mancher Freiheitsverteidiger von einst und Veteran der Lockdown-Kritik mutiert auf dem Sofa ganz flink und munter zum Verfechter einer allgemeinen Impfpflicht. Jetzt reicht’s, nun müsse der Staat aber mal handeln, heißt es dann plötzlich! Ach ja? Solche Entschlossenheit allein bringt noch kein kluges Regierungshandeln hervor, entpuppt sich möglicherweise eher als Heiße-Luft-Aktionismus.

Die Pandemie ist noch nicht vorbei – also hat die Politik versagt. Die Klimakrise ist noch nicht beendet – also hat die Politik zu zaghaft agiert. Flüchtlinge machen sich weltweit auf den Weg nach Europa – also hat die Regierung die Weltlage nicht im Griff. Präsident Wladimir Putin lässt Truppen an Russlands Grenze aufmarschieren – also hat die Politik zu wenig in Dialog investiert. Das ist zu einfach. Wer in dieser Welt mit den wachsenden und komplexer werdenden Problemen von der Politik erwartet, mit ein bisschen mehr Mut und Entschlossenheit und keckem Weltrettungs-Habitus würde das alles schon besser werden, der irrt gewaltig. Wer jetzt mit den Losungen kommt, rote Linien müssen überschritten, Widerstände gebrochen und Maßnahmen konsequenter umgesetzt werden, verkennt eben jene Begrenztheit von Politik, deren Anerkennung erst die notwendige Kraft verleiht, wirklich besonnen durch unübersichtliche Krisengewässer hindurchzusegeln. Und Erfolg zu haben.

Politik muss sich vor Erlösungsversprechen hüten. Immer wieder neu! Die Ampel-Koalition scheint sich aber gerade in einer rhetorisch hochtrabenden bis brachialen Klimapolitik, aber auch in einer zu bequem-idealistischen Außenpolitik und in einer martialischen Corona-Politik zu gefallen – und sich dabei möglicherweise zu überheben. Und in der unrealistischen Übersteigerung der eigenen Ziele dann auch das Machbare zu verfehlen.

Die Grenzen des eigenen Überschwangs erkennen

In der Gesellschaftspolitik, die sich die Ampel-Regierung vorgenommen hat wird dies auch deutlich. Wieso rührt sie an der seit 30 Jahren bestehenden Abtreibungsgesetzgebung, wohl wissend, dass sich eben letztlich die Schutzgüter des Lebens der Mutter und des Lebens des Kindes nie werden sauber und befriedigend abwägen lassen. Es wird immer ein zu beklagender Rest an Ungerechtigkeit und vielleicht Unmenschlichkeit bleiben. Es ist zu hoffen, dass die Kommission, die dies beraten soll, um die großen Dilemmata der menschlichen Existenz weiß und rote Linien wertschätzt. Ähnliche – vielleicht abgestufte – Abwägungsfragen finden sich zumindest auch in der Migrationspolitik, in der Forschungspolitik und im Feld der Kinder- und Familienpolitik. Die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ wird hier vielleicht die Grenzen des eigenen Überschwangs noch erkennen. Es wäre ihr zu wünschen.

Das ist übrigens der Wert der Gottesanrufung in der Eidesformel, die unser Grundgesetz als freiwilligen Zusatz anbietet, die Kanzler, Vizekanzler und viele andere Minister allerdings bei der Regierungsübernahme aussparten. „So wahr mir Gott helfe“ ist keineswegs ein Glaubensbekenntnis, eingehüllt in den politischen Akt der Vereidigung, sondern vielmehr ist es die Anerkenntnis der eigenen Begrenztheit, es ist die Anerkenntnis, dass Politik nie einen auch nur anscheinend totalitären Ansatz „ohne rote Linien“ verfolgen darf, sondern sich der eigenen Fehlbarkeit, eigenen Vorläufigkeit und Begrenztheit bewusst bleiben muss.

Dann kann der Mensch Unwahrscheinliches und Großartiges leisten. Zum Beispiel in Rekordzeit einen für viele Menschen hilfreichen Impfstoff entwickeln. Auch Gauck sagt das, auch wenn es bei ihm etwas tautologisch ausläuft: „Deswegen irren Politiker immer wieder, und sie dürfen irren. Aber man kann diese Irrtümer minimieren und wenigstens weniger Fehler machen als zuvor.“

Aber ob diese Pandemie mit dem derzeit vorliegenden politischen Werkzeugkasten final und endgültig zu bewältigen ist, das ist und bleibt eben höchst ungewiss und umstritten, und das muss die Politik – und noch mehr die sie beobachtende Menge – einsehen und akzeptieren. Vor einem Jahr war unklar, ob es bis Herbst genügend Impfstoff geben würde. Bis zum Herbst waren dann rund 70 Prozent der Deutschen geimpft. Eine durchaus beachtliche Leistung, die zu einer weitreichenden Eindämmung von Covid geführt hätte, wären nicht die Viren-Varianten aufgekommen, die sich als weitaus ansteckender erwiesen haben als gedacht. Das bedeutet, die Impfkampagnen waren erfolgreich und angemessen.

Wer nun der Politik Untätigkeit und mangelnde Entschlossenheit vorwirft, gleicht doch dem Couchpotato, der aus dem Ohrensessel heraus noch jede deutsche Nationalelf zur Weltmeisterschaft geführt hätte. Im Grund genommen ist die larmoyante Kritik an der Corona-Politik oft eine Form von Dekadenz in einem Land, das zu großen Teilen mit Millionen Euro Schulden und diversen drastischen Maßnahmen gut gefüttert durch die größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg geschaukelt wurde. Einzelfälle ausgenommen.

Die Pandemie hat große und kleine und schrecklich tragische Opfer produziert. Es gibt eben die Corona-Opfer, die an Covid gestorben sind, und auch jene, die an Vereinsamung und Vernachlässigung leiden und zugrunde gehen. Es ist höllisch gefährlich, Sündenböcke ausfindig machen zu wollen: die Wissenschaftler oder die Ungeimpften – oder eben die Politiker. Erst recht ist es doch höchst bedenklich, wenn in dieser komplexen Situation die Kirchen sich wieder darin gefallen, ihre eingeübte Profession des Moralisierens neu zu aktivieren. Das hilft gar nichts.

Es ist und bleibt richtig, alles dafür zu tun, die Impfquote zu erhöhen. Es ist aber auch richtig, dass Olaf Scholz bei seiner ersten Regierungserklärung im Bundestag verkündet hat, er wolle auch „Kanzler der Ungeimpften“ sein. Nicht weil er Verständnis oder Sympathie hätte, sonder weil das sein Job ist. Ob zu dieser integrativen Ansage eine allgemeine Impfpflicht dann passt, ist zumindest diskussionswürdig.

Die Gleichung, die manche fast sehnsüchtig aufmachen, Impfpflicht ergibt höhere Impfquote, macht im Ergebnis das Ende der Pandemie, geht eben höchstwahrscheinlich nicht auf, weil zu viele Unbekannte im Spiel sind. Deswegen gebührt der roten Linie ein Lob, in der Politik und sonstwo. Nur wer seine Grenzen kennt und respektiert, kann dann doch über sich hinauswachsen. Das gilt, nicht nur, aber auch für eine Regierung.

resing@herder.de

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