Vor fünf Jahren erschien die Enzyklika „Laudato si“Love Is The Answer

Die Enzyklika „Laudato si“ hat eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zum Ziel, die im Dienst der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen steht. Erreichbar ist es nur, wenn die beiden Prinzipien des Liberalismus – Freiheit und Gleichheit – durch ein drittes ergänzt werden: die Liebe.

Love is the answer
© Paolo Galosi/Romano Siciliani/KNA

Vor fünf Jahren veröffentlichte Papst Franziskus „Laudato si“ (LS), seine Enzyklika „über die Sorge für das gemeinsame Haus“. Wie auch schon die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ (CV) von Papst Benedikt XVI. 2009 plädiert „Laudato si“ für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung auf dem Hintergrund eines integralen Humanismus und Personalismus. Dies ist ein Erbe von Jacques Maritain (1882–1973), eines Schülers des französischen Philosophen Henri Bergson (1859–1941) und Freundes von Papst Paul VI., dessen Buch „Integraler Humanismus“ den katholischen Dialog mit der Moderne anbahnte. Die beiden päpstlichen Schreiben kritisieren auf diesem Hintergrund eine reduktionistische, vom pragmatischen Utilitarismus geprägte Weltwirtschaftsordnung und suchen einen Ausgleich von individueller Autonomie und Gemeinwohl.

Papst Franziskus betont wiederholt die Bedeutung einer integralen menschlichen Entwicklung und – in Anlehnung an seinen Vorgänger – die Bedeutung einer „neuen Allianz zwischen Mensch und Erde“. Damit setzt „Laudato si“ die Tradition der katholischen Soziallehre fort, wie sie seit „Rerum Novarum“ (1891) in zahlreichen Enzykliken niedergelegt ist. „Laudato si“ greift den Gedanken eines christlichen Humanismus aus „Caritas in veritate“ auf und ergänzt ihn durch einen franziskanischen Hintergrund (vgl. Stefano Zamagni, Globalization: Guidance from Franciscan Economic Thought and „Caritas in veritate“, in: Faith and Economics 56 [2010], 81–109).

Der Ansatz eines christlichen Humanismus stützt sich sowohl auf die platonische Philosophie als auch auf die augustinische Theologie und den Freiheitsbegriff der Theologie Bonaventuras. Beide Enzykliken befassen sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und kritisieren eine wenig egalitäre und stark konsumorientierte Weltgesellschaft, die von einer globalisierten Politik gefördert wird. Als Antwort propagieren sie das Gemeinwohl und das sozialethische Prinzip der globalen Solidarität, um ein „öffentliches Gewissen“ zu fördern, das das „Grundrecht auf Leben“ garantiert (CV 27).

Das Ziel der beiden Sozialenzykliken ist das Gemeinwohl, verstanden als ganzheitliche menschliche Entwicklung jeder Person. Zum ersten Mal in der katholischen Soziallehre werden die spezifischen Elemente der Schöpfung, wie etwa die Umwelt, als Objekte des Gemeinwohls betrachtet. „Das Klima ist ein Gemeinwohl, das allen gehört und für alle bestimmt ist. Auf globaler Ebene ist es ein komplexes System, das mit vielen der wesentlichen Bedingungen für das menschliche Leben verbunden ist“ (LS 23). Und weiter: „Die Menschheit ist aufgerufen, die Notwendigkeit einer Änderung des Lebensstils, der Produktion und des Konsums anzuerkennen, um diese Erwärmung oder zumindest die menschlichen Ursachen, die sie hervorrufen oder verschlimmern, zu bekämpfen.“

„Laudato si“ verortet den Ursprung einer falschen Beziehung zwischen Mensch und Schöpfung in einer fehlgeleiteten Marktwirtschaft. So warnt die Enzyklika vor „einer magischen Vorstellung vom Markt“ (190) und argumentiert gegen „die Interessen eines vergöttlichten Marktes, der zur einzigen Regel wird“ (54); weil „der Markt allein keine integrale menschliche Entwicklung und soziale Integration garantieren kann“ (109).

Auch macht „Laudato si“ den Überkonsum für aktuelle Probleme verantwortlich: „Der zwanghafte Konsum ist ein Beispiel dafür, wie sich das techno-ökonomische Paradigma auf den Einzelnen auswirkt“ (203). Die Enzyklika kritisiert, dass „die Märkte, die unmittelbar von den Verkäufen profitieren, eine immer größere Nachfrage stimulieren“ (55).

Die Enzykliken richten sich zunächst an den einzelnen Bürger, seiner Verantwortung als freier Mensch in der Welt entsprechend zu handeln. Der Christ insbesondere ist aufgerufen, in einer pluralistischen Gesellschaft und in einer säkularen Welt zu handeln, indem er das Denken und Handeln Christi (als Verkörperung des vollkommenen Menschen in seiner idealen Entwicklung hin zum Ebenbild des Vaters) nachahmt.

Ein augustinischer Liberalismus

Um sich den aktuellen Herausforderungen in der Welt zu stellen, greift die Kirche auf ihre reiche Tradition zurück. In diesem Fall bietet Augustinus mit seiner Idee des ordo amoris, einer Ordnung der Liebe also, einen vielversprechenden Ansatz, der einen inspirierenden Beitrag zur Behandlung der in den beiden Enzykliken behandelten Themen enthält. Die individuelle Freiheit des Einzelnen und die Verantwortung für das Gemeinwohl müssen durch die Kombination von tugendhaften, an der Liebe orientierten Individuen und dem politischen Handeln gleichgesinnter Bürger in einen engen Zusammenhang gestellt werden. Dies kann auch als augustinischer Liberalismus – mit der Konsequenz einer franziskanischen Theologie der Freiheit – bezeichnet werden und interpretiert den älteren Begriff des integralen Humanismus wie auch den ebenfalls älteren Begriff eines Ordoliberalismus.

Ein augustinischer Liberalismus vertritt die Auffassung, dass der Begriff der Liebe als normatives Prinzip für moralisch gutes politisches Handeln von Individuen innerhalb eines Rechtsstaates gelten kann.

Liebe (als unbedingte, begehrende Bejahung der Existenz) ist die primäre Eigenschaft Gottes, der den Menschen als sein Ebenbild mit eben jener primären Eigenschaft begehrender und verantworteter Liebe ausstattet (vgl. Adam Peperzak, Das Begehren: Platon – Augustinus – Bonaventura, in: Tobias Schlicht [Hg.], Zweck und Natur. Historische und systematische Untersuchungen zur Teleologie, München 2011, 37–52). Dahinter steht eine Vision von politischer Beteiligung als Ausdruck von christlicher Jüngerschaft (vgl. Jonathan Tran, Assessing the Augustinian Democrats, in: Journal of Religious Ethics 46 [2018], 521–547). Letztlich beweist der augustinische Liberalismus seine Relevanz angesichts bioethischer und ökologischer Fragen aufgrund eines sich verändernden Verständnisses des Menschenbildes im Lichte der ursprünglich platonischen Unterscheidung von bios (Überleben) und zoé (gutes Leben).

Das Ziel der Person aus augustinischer Sicht ist die fortschreitende Heilung des menschlichen Selbst: Alles geschieht, damit die Seele geheilt werde vom Zwang zum Bösen (De vera religione III, 4, 15). Eine gerechte Gesellschaft wird die Voraussetzungen bereithalten, um die Fähigkeiten jeder menschlichen Seele zum Guten und zur Liebe hin nachhaltig zu entwickeln.

Da frühe liberale Staatsdenker wie Hugo Grotius oder John Locke einen weltlichen Staat ohne Religion legitimieren wollten, bietet der augustinische Liberalismus einen Weg, christliche Theologie und säkularen Liberalismus im Blick auf die ganzheitliche Entwicklung der menschlichen Person zu versöhnen.

Warum Liebe politisch relevant ist

Scheinbar haben politische Theoretiker und politische Theologen aufgehört, über Liebe zu sprechen – oder zumindest in der für eine Ethik des Liberalismus relevanten Weise über Liebe als politisch relevante Tugend. „Der springende Punkt ist, dass eine angeblich liberale Gesellschaft, die absolut davon ausgeht, dass sie über die Mittel verfügt, um unabhängig von den tatsächlichen moralischen oder spirituellen Verpflichtungen ihrer Bürger moralische Werte zu produzieren und aufrechtzuerhalten, Gefahr läuft, sich so zu verhalten und zu reden, als ob die einzige Art menschlicher Solidarität, die wirklich zählt, die des Staates wäre“ (Rowan Williams, Secularism, Faith and Freedom. Speech Given on 23 November 2006 at the Pontifical Academy of Social Sciences, Vatican City, in: Faith in the Public Square. London/New York 2012, 23–36, 32).

Daher sind die liberalen Hauptprinzipien der Freiheit und Gleichheit des Individuums wichtig, aber keineswegs ausreichend für ein ganzheitliches menschliches Gedeihen in der Welt.

Oftmals gilt die autonome Selbstliebe des Individuums als oberstes Prinzip der Entscheidungsfindung. In Form eines Kapitalismus ohne Adjektiv wird das individualisierte Eigeninteresse mit einer angeblich effizient wirkenden unsichtbaren Hand des Marktes als ausreichend für eine menschliche Entwicklung gesehen; ein solidarischer Blick auf schwächere Marktteilnehmer wird ausgeblendet oder bleibt persönlicher Tugend des Almosens überlassen.

Diese Form säkularer Freiheit reicht nicht aus und diese Darstellung einer liberalen Gesellschaft vereinfacht den Begriff der Freiheit enorm und schmälert letztlich das christliche Verständnis der menschlichen Person. Aus diesem Grund plädiert ein augustinischer Liberalismus für ein christliches Verständnis von Liebe, um Freiheit und Gleichheit als drittes Hauptprinzip des demokratischen Liberalismus zu vervollständigen und so sowohl eine gute Ordnung des inneren Selbst als auch eine gute öffentliche Ordnung zu erreichen. Kritisiert wird damit die Vorstellung einer ausschließlich rationalistischen und individualistischen Handlungsmotivation.

Die meisten Varianten des Liberalismus scheinen nicht in der Lage zu sein, die pluralistische Natur der sozialen Interaktion zu integrieren und damit die Konflikte zwischen Individuen und Institutionen zu schlichten. Daher muss der individuellen Komponente eine soziale Komponente hinzugefügt werden, um die zweifache menschliche Natur von Individualität und Sozialität besser widerzuspiegeln.

Ein augustinischer Liberalismus bezeichnet die Liebe als eine bürgerliche Tugend, die wiederum eine ehrgeizigere politische Praxis fördern könnte. „Die augustinische Tradition legt nahe, dass die Liebe tatsächlich in richtiges politisches Handeln münden kann, dass die Liebe ein entscheidendes Element in der Politik ist, insbesondere im Zusammenhang mit der unvermeidlichen Ausübung politischer Autorität“ (Charles Mathewes, The Republic of Grace. Augustinian Thoughts for Dark Times. Grand Rapids/Cambridge 2010, 148).

Dies bedeutet die Förderung einer gerechteren und wohltätigeren Gesellschaft, die den praktischen Herausforderungen der Sicherung und des Schutzes der gemeinsamen Güter der Menschen als den der Grundprinzipien der katholischen nachkommt: Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl. Damit wird die Reduktion der Politik auf eine staatszentrierte Regierungstätigkeit vermieden und die gemeinsame Teilnahme der Bürger am politischen Geschehen außerhalb der staatlichen Institutionen gefördert.

Die befreiende Institution

Ein ganzheitliches menschliches Gedeihen in der Welt kann nur erreicht werden, wenn persönliche Freiheit zusammen mit moralischer und rechtlicher Gleichheit durch das Gebot der Liebe, oder säkular: eines effizienten Altruismus, ergänzt wird.

Die Normativität der Liebe als politische Tugend beruht auf drei Grundideen: der Notwendigkeit der menschlichen Existenz – volo ut sis (In epistulam Ioannis ad Parthos tractatus VIII, 10) –, die Anerkennung aller Personen als intersubjektive, miteinander verflochtene Wesen in Beziehung zu Gott und den Mitgeschöpfen, und schließlich die Fähigkeit zum Neuanfang, säkular: die Fähigkeit zu Verzeihung und Vergebung (De civitate Dei XII, 20). Dies sind die Voraussetzungen für den Aufbau einer augustinischen Ethik der demokratischen Staatsbürgerschaft, die bereits in einigen Verfassungen umgesetzt zu sein scheint, wie etwa in Artikel 1 der deutschen Verfassung oder im berühmten Einleitungssatz der Unabhängigkeitserklärung.

Nur so wird anerkannt, dass irdische Politik nicht die tiefsten Sehnsüchte einer menschlichen Person oder Gemeinschaft erfüllen kann. Grundrechte und Demokratie sind eminent wichtig, auch wenn sie nicht die Erfüllung der Liebe sind. Das in Arbeit befindliche Werk der ständigen und stetigen Entwicklung jeder menschlichen Person und ihrer Talente wird erst in der Ewigkeit zur Vollkommenheit vollendet. Oder anders: Irdische Gerechtigkeit wird in der Liebe vollendet.

Der amerikanische Theologe Ernest Fortin (1923–2002), inspiriert von den Gedanken des Augustinus über das gesellschaftliche Leben, resümiert so: „Man dient seinem Nächsten nicht, indem man ihn seinem Schicksal überlässt und sich ganz aus der Gesellschaft zurückzieht, sondern indem man sich für die Verbesserung dieser Gesellschaft einsetzt“ (Augustine and the Problem of Modernity, in: Classical Christianity and the Political Order, New York 1996, 146).

Veränderungen und Reformen, egal in welcher Frage, werden dann stattfinden, wenn der Einzelne beschließt, seine Entscheidung zu begründen, gemäß den Tugenden zu handeln und seinen Willen auf die Tugenden zu gründen. Das bedeutet zweierlei: dass unsere innere Disposition unser Handeln bestimmt, und dass freie Individuen, um frei und autonom handeln zu können, einen befreienden institutionalisierten Rahmen brauchen, der durch einen liberalen Rechtsstaat gewährleistet wird.

Der freiheitliche Staat befreit die Individuen von systemischer und institutionalisierter Unterdrückung, um ihnen einen öffentlichen Raum zu schaffen, in dem sie nach ihrem Gewissen handeln können. Mit anderen Worten: Der augustinische Liberalismus reflektiert die Unterscheidung zwischen dem sittlichen Menschen und der sittenlosen Gesellschaft und wandelt das so genannte Böckenförde-Diktum („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“) in eine politische Theologie und auch in eine politische Ökonomie um (vgl. Luigino Bruni, La pubblica felicità. Economia civile e political economy a confronto, Milano 2018).

Auch eine explizit theozentrische Interpretation der Ideen des Augustinus für eine gerechte Gesellschaft auf Erden ist möglich, wesentlich im Blick wieder auf die Gerechtigkeit, wie sie Augustinus in „De civitate dei“ anspricht. Dort weist der Kirchenvater darauf hin, dass es dem irdischen Staat (civitas terrena) nur um vorletzte und nicht um letzte Dinge geht. Es ist nicht zu erwarten, dass es in dieser zeitlichen Welt unter dem Einfluss von Sünde und Bösem einen vollkommenen, utopischen Staat geben wird, der in der Lage ist, das Individuum mit ewigem Glück zu verbinden.

Die staatliche Ordnung garantiert nur die je individuelle Verfolgung des Glücks (pursuit of happiness), nicht aber ein bestimmtes Glück. Das Ziel des Staates besteht vor allem darin, gerechtere Rahmenbedingungen zu schaffen, die es autonomen Individuen ermöglichen, in einer von Unterdrückung freien Umwelt zu handeln und zu sprechen.

Das Individuum kann aber nur dann zum Diener der Gerechtigkeit werden, wenn seine innere Disposition – der ordo amoris des Augustinus – richtig geordnet ist, und wenn es in der Lage ist, ein inneres Gleichgewicht von Vernunft und Leidenschaft aufrechtzuerhalten. Christlich gesprochen: Um ein Diener der Gerechtigkeit zu werden, muss man zuvor ein Diener Gottes werden. Säkular übersetzt: Um ein Diener der unbestechlichen Gerechtigkeit zu werden, muss man zuvor unbestochen von sich selbst sein. Das aber gelingt nur in der zumindest vorläufig gültigen Annahme einer höheren, vom eigenen Selbst unabhängigen und dieses zur Verantwortung ziehenden Instanz, die sich in religiöser Sprache Gott nennt.

Freilich stammen die Ansichten des Augustinus über Gerechtigkeit und Gesellschaft eher aus seiner Analyse der Fähigkeiten und Grenzen der menschlichen Seele als aus seinem Denken über konkrete soziale und politische Strukturen. Es ist eine Metatheorie politischen Handelns. Am Anfang des gerechten Staates steht eine unbestechliche Liebe, die die Menschen einander entgegenbringen. Der amerikanische Augustinusexperte Robert Dodaro interpretiert diesen Begriff der Liebe mit dem Begriff von Versöhnung und Vergebung, was in einer gerechten Struktur der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, wenn er darauf hinweist: „Wahre Liebe für die gemeinsame Gesellschaft des Zusammenlebens erfordert ein gemeinsames Verständnis des Wesens der Versöhnung unter Individuen, die akzeptieren, dass die spirituellen Fähigkeiten von Menschen, nicht zuletzt die Vergebung von Destruktivität (Feindesliebe), das Wesen der bürgerlichen und politischen Tugenden ausmachen“ (Christ and the Just Society in Augustine, Cambridge 2004, 218).

Anzeige: Der Unvollendete. Franziskus' Erbe und der Kampf um seine Nachfolge. Von Marco Politi

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt gratis testen